Was ist neu

Nekroblissement

Seniors
Beitritt
30.08.2001
Beiträge
852
Zuletzt bearbeitet:

Nekroblissement

Unter der blinkenden Neontafel mit der Aufschrift Eros-Center Nr. 9 verließ ihn die Zielstrebigkeit, die ihn hergeführt hatte. Er blieb stehen und kaute auf seiner Unterlippe. Männer drängten sich auf dem schmalen Bürgersteig an ihm vorbei, hierhin nach Nr. 7, dorthin nach Nr. 11, immer ihrem Ständer nach.
Die Milchglastür zu Nr. 9 wurde aufgestoßen. Der tiefrot beleuchtete Gang dahinter spuckte zwei feixende Kerle auf die Straße.
„Meine Fresse, haste die Dinger von der Schwatten geseh’n?“, sagte der eine.
„Mordstitten“, bestätigte der andere.
„Rasierte Mösch hat die, jede Wette.“
„Blitzblank.“
„Aber fünfzig Euro. Bin ich Graf Koks?“
„Scheißnutten.“
Er blickte den beiden nach, bis sie – die üppige Oberweite lautstark debattierend – in Nr. 11 verschwanden.
Willst du das wirklich?, fragte er sich. Andererseits: Die Alternative war nicht verlockend, ganz und gar nicht.
Er gab sich einen Ruck und betrat das Etablissement. Die Luft in dem engen Gang war schwer von süßem Parfüm, das ihm schlagartig die Geruchsrezeptoren verklebte. Eines war gewiss: Verbrachte er hier auch nur eine Stunde, würde er so intensiv nach Puff riechen wie ein Frittenbudenbetreiber am Ende des Tages nach Fett.
Linkerhand stand die Tür zu einer kleinen Küche offen. Zwei junge Frauen mit übergeworfenen Bademänteln saßen an einem Tisch und rührten wortlos ihren Kaffee um. Evita hatte ihm gesagt, es sei das Büro auf der rechten Seite des Flurs, aber die offene Tür vermittelte ihm das Gefühl, sich hier anmelden zu müssen.
„Tach auch“, sagte er.
Die Brünette mit den raspelkurzen Haaren musterte ihn mürrisch.
„Siehste nich’, dass wir grad Pause machen? Die Mädchen steh’n oben.“
„Ich will nicht zu den Mädchen. Ich hab ’nen Termin bei Evita.“
Die Brünette streckte die Hand mit der Kaffeetasse aus und deutete an ihm vorbei zur gegenüberliegenden Tür.
„Die is’ da drüben“, sagte sie und wandte sich ab.
„Ja, dann ... danke. Und entschuldigen Sie die ... also, danke jedenfalls.“
Er drehte sich um, klopfte an die Tür und betrat das Büro.
Evita erhob sich hinter ihrem aufgeräumten Schreibtisch und klackerte auf Pfennigabsätzen näher. Sie reichten sich die Hände.
„Frank Schwarzenbeck. Wir haben telefoniert.“
„Evita. Darf ich Frank sagen?“
„Klar.“
„Setzen wir uns.“
Frank hatte eine verlebte Puffmatrone erwartet – die süßesten Telefonstimmen gehörten immer den hässlichsten Mädchen. Aber Evita: Irgendwo Mitte vierzig angelangt, die halblangen Haare modisch zerzaust, kein Make-up. Eine elegante Erscheinung in weißer Bluse und Jeans.
„Ich hab nicht viel Zeit, also machen wir’s kurz“, eröffnete sie ohne Umschweife. „Du suchst Arbeit, und ich brauche dringend jemanden, der den Laden in Schuss hält. Seit wann bist du arbeitslos?“
„Knapp vier Jahre.“
„Zeig mal deine Hände her.“
Frank zögerte, dann hielt er ihr die ausgestreckten Hände hin. Evita betrachtete sie kurz und nickte.
„Seh’n mir nicht allzu links aus, schön, schön. Scheinst überhaupt gut in Form zu sein. Kannst du ’ne Glühbirne wechseln? ’nen verstopften Abfluss freimachen? Betten beziehen – ich mein: versiffte Betten?“
Es schien ihm nicht passend, dass ihr das Wörtchen versifft mit dieser hässlichen Betonung (er sah die durchschwitzten, spermagestärkten Laken geradezu vor sich) so locker über die Lippen kam. Aber es rückte den Eindruck zurecht, den ihre Erscheinung bei ihm hinterlassen hatte. Mochte sie auch äußerlich eine adrette Geschäftsfrau sein – sie kam aus dem Milieu. Nicht der rechte Ort für sprachliche Feinheiten.
„Krieg ich hin“, sagte er lässig.
Meine Güte, natürlich bekam er das hin. Nach vier Jahren raus aus dem Job konnte er keine Bilanz, ja, nicht mal mehr eine Buchhaltung unfallfrei erstellen. Aber das hier war nur eine Hausmeisterstelle. Allemal besser als stumpfsinnige Fortbildungsmaßnahmen oder für ein paar Euro Unkrautjäten im Park, bloß damit er für ein Weilchen aus der Arbeitslosenstatistik verduftete.
Evita nickte zufrieden. „Gut. Wir machen’s so: Du fängst morgen an. Probezeit ist ’n Monat, das reicht. Wenn du’s bis dahin nicht packst, fliegst du. Die Schicht läuft von zwei Uhr mittags bis zwei Uhr nachts. An jedem zweiten Montag und Dienstag hast du frei. Dreißig Tage bezahlter Urlaub, aber nicht in den Zeiten, in denen die Muschis brummen. Und?“
Er konnte dem Stakkato der Arbeitsbedingungen gedanklich kaum folgen. Urlaub klang gut, aber Zwölf-Stunden-Tage und nie mehr die Sportschau sehen? Kam ganz darauf an, wie Evita ihm das versüßen wollte.
„Ja“, sagte er gedehnt und räusperte sich, „das ist schon was. Ich frag mich nur, was ich ... also wegen der Bezahlung ... in der Anzeige stand nichts davon.“
„Vier am Ende des Monats“, sagte sie frei heraus und lachte kurz auf, als sie sein verdutztes Gesicht sah.
„Vier was? Tausend?“
Fürs Glühbirnenwechseln? Wollte die Puppe ihn auf den Arm nehmen?
„Viertausend. Du kriegst ’nen Vertrag, steht alles drin. Und täusch dich nicht; es ist viel, aber ich erwarte auch viel. Du bist praktisch mein Mädchen für alles.“ Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort: „Für fast alles. Ich würd ja sagen, überleg’s dir, aber ... wie alt bist du?“
„Bald fünfzig.“
„Sag ich ja: bald fünfzig. ’ne Menge Typen in deinem Alter und deiner Situation würden sich die Finger nach dem Job lecken. Also, was ist jetzt?“
Was sollte schon sein? Vier Riesen waren ein Argument, und der Rest würde sich finden.
„Ja, natürlich, ich mach’s. Ich wär ja blöd.“
„Eben“, nickte Evita und besiegelte ihre Zusammenarbeit mit einem Handschlag. „Dann zeig ich dir jetzt das Haus.“

Die dräuende Schwüle auf der engen Treppe rauf zum ersten Stock trieb Frank den Schweiß auf die Stirn; unter dem Schlussverkaufssakko waren seine Achseln klitschnass. Er hatte den Zeitpunkt verpasst, sich den Stoff abzustreifen.
„Flatrate-Ficken gibt’s bei mir nicht“, erläuterte Evita die Unternehmensphilosophie. „Wir haben Themenetagen. Ich mein, unsere Mädchen machen fast alles, aber jede hat so ihr Talent. Hier zum Beispiel, hier ist Frankreich.“
Sie hatten den Treppenabsatz der ersten Etage erreicht. Evita zeigte auf eine Landkarte an der Wand; Europa war darauf abgebildet, die Umrisse Frankreichs fett umrandet, die Landfläche in den Farben der Trikolore hervorgehoben.
Frank musterte die Karte. „Hier wird also ...“
„Geblasen“, nickte Evita. „Natürlich nicht nur, aber wenn einer ’nen Blowjob sucht, dann am besten hier.“ Sie trat nah an ihn heran und raunte ihm zu: „Diese Etage bringt die meisten Kunden.“
Die französische Etage bestand aus zwei langen Fluren mit jeweils acht Zimmern. Manche Türen waren geschlossen, in den übrigen Türrahmen lehnten die spärlich bekleideten Mädchen mit den Engelszungen.
„Komm, ich stell dich kurz vor“, sagte Evita und zog ihn am Ärmel in den rechten Flur hinein.
Unversehens fand er sich umgeben von Lippen. Wie lange war das jetzt schon her? Monika hatte ihn mit ihrer Verweigerungshaltung verrückt gemacht. Für ihn die größte aller Wonnen, war es für sie auf bloße Erniedrigung hinausgelaufen. Das war wohl eine Art pawlowscher Emanzenreflex - kaum geschah etwas nicht auf gleicher Augenhöhe, schon hieß es: Erniedrigung. Sein Ding in den Mund nehmen? Also bitte, das konnte er doch wohl kaum von ihr verlangen; nicht, wenn er sie liebte. Und er hatte sie geliebt, weiß Gott, bis sie vor zwei Jahren mit seinem besten Freund durchgebrannt war.
Erzähl du mir noch mal was von Erniedrigung, Miststück.
Der Geruch in diesem engen Schlauch war überwältigend; die Luft gesättigt von einer Mischung aus Parfüm, Schweiß und Fischnuancen – ein wirksames Sedativum für Franks Libido. Damit stand er ziemlich allein da. Ein steter Strom von Freiern – vom Milchbubi bis zum hüftlahmen Rentner – schob sich an ihm vorbei zur Fleischbeschau. Ringsum die geflüsterte Verheißung auf Sodom und Gomorrha, die getuschelten Verhandlungen über eine Verwöhnstunde mit Abspritzgarantie.
Nach und nach lernte Frank sie kennen: Babette, Yasmin, Sabrina. Wie sie wohl nach Feierabend hießen?
Er war erkennbar kein Kunde, also sparten die Mädchen sich ihre einstudierte Verführermiene und sahen ihn gelangweilt an, die Spuren des stumpfsinnigen Rhythmus’ von Warten, Feilschen und Fellatio tief in die hübschen Gesichter geschrieben.
Nach Begehung der ersten Etage führte Evita ihn in die zweite: Griechenland.
„Unsere Dreilochstuten“, sagte Evita und meinte das durchaus liebevoll.
Dritter Stock: Deutschland. In die Landfläche der Karte kunstvoll eingebettet das Motiv von Rubens’ Gemälde Die drei Grazien.
Als Frank sich umsah, erschlug ihn fast die Wucht der Pfunde. Acht barocke Engel, in Corsagen und Schnürstiefel gezwängt, warteten auf die Freunde der üppigen Formen.
„Unsere Schwerlastabteilung“, klärte Evita ihn auf. „Läuft nicht so gut, ich hab vor, den linken Flur über kurz oder lang zum spanischen Thema zu machen. Titten gehen immer.“
Vierter Stock: England. Frank schwirrte bereits der Kopf vor lauter Namen, Brüsten und Ärschen. Die Mädchen hier oben trugen ausnahmslos Leder. Hier und da konnte er einen Blick auf eine kleine Auswahl der Spielzeuge in den Zimmern werfen: Handschellen, Peitschen, Liebesschaukeln.
Am Ende des linken Flurs öffnete sich eine Tür. Heraus kam ein Muskelberg mit Bürstenhaarschnitt und kaukasischen Gesichtszügen, der Frank um mehr als eine Kopfeslänge überragte.
„Das ist Andrej“, sagte Evita. „Unser Hausknigge. Lässt ein Kunde seine Manieren zu Hause, bleut Andrej ihm den Benimm wieder ein.“
Frank reichte dem Klischeeschläger die Hand. Andrej grifft beherzt zu.
„Dobrij nodschir, Towarisch. Du bist der Neue?“
„Seit heute, ja.“
„Dann halt die Ohren steif. Aber nur die Ohren, verstanden?“
„Sicher. Klar.“
„Ich hab zu tun. Do svidanija.“
„Ja ... ja, auch so“, sagte Frank in der Hoffnung, dass es sich um eine Abschiedsformel handelte.
Andrej schob sich an ihnen vorbei und ging die Treppe hinab.
„Das war das Haus“, sagte Evita. „Lass uns gehen. Ich hab Termine.“
„Und was ist da oben?“, erkundigte sich Frank und zeigte auf eine weiß lackierte Metalltür, die den Treppenaufgang zur fünften Etage komplett verschloss.
„Nichts weiter“, antwortete Evita. „Zimmer, die renoviert werden müssen. Komm jetzt.“

Im Grunde genommen lief es auf Plackerei hinaus. Für jede der vier Etagen blieb ihm eine Stunde. Bettbezüge und Laken wechseln, staubsaugen, Spiegel und Waschbecken reinigen, die Linoleumböden auf den Fluren wischen. In seinem alten Leben hatte ein Staubtuch den gleichen praktischen Nutzwert gehabt wie eine Damenbinde. Jetzt hatten die Temperaturunterschiede zwischen der Eiseskälte der Arbeitslosigkeit und der Hitze von monatlich mehr als zweitausend Mäusen netto auf dem Konto das ehemals laue Haushaltslüftchen in einen Reinigungsorkan verwandelt.
Die Abfalleimer in den Zimmer bereiteten ihm anfänglich einen Ekel, dem er auch mit doppelt übergestreiften Gummihandschuhen nicht beikam. Oft waren sie randvoll mit verklebten Haushaltstüchern und Kondomen, in denen noch die Nachkommenschaften der Besucher aus der vergangenen Nacht gelierten.
Im Laufe der Zeit gewöhnte er sich daran, bis er schließlich so weit war, dass die benutzten Präser seinen Sportsgeist weckten – er begann damit, heimlich eine Tabelle zu führen. Unangefochtene Nummer eins in der Hurenliga war Yvonne von der französischen Etage. An Spitzentagen brachte sie es auf über zwanzig Gummis. Und das war nur die offizielle Wertung – die eingetrockneten Spermaornamente auf vielen Laken waren ein beredtes Bild dafür, dass auch die Gesundheit einiger Mädchen durchaus käuflich war.
Um Punkt achtzehn Uhr musste er fertig sein, dann öffnete das Laufhaus. Danach hatte er das, was Evita Bereitschaft nannte. Bereitschaft, ha! Unentwegte Hetzjagd, so sah das aus. Er sorgte für den Präsernachschub, wechselte die Rollen mit den Haushaltstüchern, schlichtete Revierstreitigkeiten unter den Mädchen (die dramatischeren Szenen mit unzufriedenen Kunden blieben Andrej vorbehalten), erledigte für Evita die Einkäufe, und wenn einmal nichts zu tun war, dann fielen immer noch eine Menge Reparaturen in den unvermieteten Zimmern an.
Nur die fünfte Etage, die blieb tabu.

So tabu wie Clarissa auf der englischen Etage darunter. Eine fünfundzwanzigjährige Italienerin mit langen schwarzen Locken und blauen Augen. Sie hatte kaum sichtbare Narben auf den Wangen, Überbleibsel einer schlecht verheilten Jugendakne. Ihre Lippen waren zu schmal für die markant ausgebildete Nase. Gemessen an dem retuschierten Knochenideal der Hochglanzmagazine war sie vielleicht ein wenig zu fleischig um die Hüften herum.
Aber alles in allem: mordsmäßig attraktiv. Hatte Witz und Verstand, das Mädchen.
Er mochte sie. Mochte sie auf seine stille und verträumte Art. Das änderte sich auch nicht, als er herausfand, dass ihre schwarzen Haare gefärbt waren, sie eigentlich aus Heidelberg kam und in Wirklichkeit Claudia hieß. So lief der Hase nun mal in diesem Gewerbe.
Viel mehr als kurze Schwätzchen waren ihm meist nicht vergönnt – die Meldegänger aus den anderen Zimmern hatten wachsame Augen und Ohren. Evita hatte ihm die Regel klipp und klar gesagt: Du hältst dich von den Mädchen fern! Er wollte keine Schwierigkeiten, nicht für sich, nicht für Clarissa. Und er wollte den Betrieb nicht aufhalten.
Aber der Betrieb wurde bald schon zum Problem. Manchmal im Vorbeigehen dachte er: Zieh dir was über! Ich will nicht, dass die Kerls dich so sehen.
Immer häufiger suchte er nach Vorwänden für einen kurzen Abstecher in die vierte Etage. Eine wackelnde Türklinke, ein Fleck an der Wand, Fusseln auf dem Boden; Mannomann, also diese Etage, da gab es immer etwas zu tun.
Wenn er dann an ihrer verschlossenen Tür vorbeiging (und das tat er oft, Clarissa war gut besucht), quälte ihn zunehmend ein dumpfes Magengrimmen.
Irgendein unsinniges Mitgefühl, redete er sich ein. Dass es Eifersucht war, hätte er sich niemals eingestanden.

Nach drei Monaten war er der Meinung, alle Facetten seiner Arbeit, selbst noch die unappetitlichsten, zu kennen – bis Evita ihn an einem frühen Abend ins Büro rief.
„Setz dich“, sagte sie lächelnd und bot ihm mit einer Handbewegung den Besucherstuhl an.
Frank setzte sich. Ein leichtes Unwohlsein nistete sich unter seiner Schädeldecke ein. Das letzte Mal hatte er hier am Tag seines Vorstellungsgesprächs Platz nehmen dürfen.
„Wie gefällt es dir bei uns?“, erkundigte sich Evita.
Sein Unwohlsein steigerte sich jäh. Das war fast Wort für Wort die rhetorische Ouvertüre, die bei seinem letzten Job, nach einigen haltlosen Vorwürfen und endlosem Gejanke über Einsparungszwänge, im Rausschmiss geendet hatte.
„Richtig gut“, sprudelte es aus ihm heraus.
Evita betrachtete ihn mit einem lauernden Blick. „Ja, aber wie gefällt es dir wirklich?“
„Ich sag doch: ’s ist toll.“
Er war nie besonders im Lügen gewesen, aber Evita kaufte ihm die Nummer vom Traumjob offensichtlich ab. Sie lehnte sich zufrieden zurück. „Glaub ich dir sogar. Wir hatten hier schon ziemlich faule Säcke, aber du machst deine Arbeit richtig gut.“
„Danke“, gab er artig zurück und atmete innerlich auf.
„Darum vertraue ich dir auch“, fuhr sie fort. „Kann ich doch, oder?“
„Absolut.“
„Hab da nämlich noch ’ne Aufgabe für dich. Die lass ich nicht jeden Hinz und Kunz machen.“ Sie bemerkte seinen fragenden Blick und ergänzte: „Is’ nichts Besonderes, sollst nur was für mich abholen. Andrej hat keine Zeit.“
„Was ist es denn?“
„Regel Nummer eins: Keine Fragen. Regel Nummer zwei: Kein Wort zu niemandem. Oder meinst du, ich schmeiß jemandem einfach so viertausend Euro in den Rachen? Da ist das Klappehalten mit drin, kapiert?“
Evita reichte ihm ein Blatt Papier mit einer Wegbeschreibung darauf.
„Du sprichst nur mit Haller“, sagte sie. „Dem gehört der Laden.“
„Ja, mach ich.“
Was für ein Laden?
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „In ’ner Stunde bist du zurück. Schaffst du locker.“
Er war schon an der Bürotür, als Evita ihm nachrief:
„Frank!“
„Ja?“
„Mit wem sprichst du?“
„Mit Haller.“
„Genau. Nicht vergessen.“

Hallers Laden, wie Evita ihn genannt hatte, war ein Schlachtbetrieb. Frank wartete eine Viertelstunde vor der Tür des Pförtners, bis Haller kam. Der Mann trug eine Kühlbox, die mit einem Deckel luftdicht verschlossen war.
„Haller“, stellte der Mann sich vor.
„Schwarzenbeck.“
„Du bist Evitas Neuer?“
Die Frage gefiel Frank so wenig wie der ganze fette Kerl mit seinem schiefen Grinsen, aber Evita hatte ja recht: Für viertausend Euro konnte man schon mal die Klappe halten. Gott, er hätte sein Ehrgefühl für weitaus weniger Geld verscherbelt.
„In gewisser Weise“, antwortete er knapp.
„Lass ’n Stück latschen. Der Laden hat Ohren.“ Dabei nickte Haller unmerklich zum Pförtnerhaus hinüber.
Sie schritten den Kiesweg entlang, der zum Besucherparkplatz führte. Frank warf einen verstohlenen Blick auf die Kühlbox.
„Sag Evita, ich hab die scheiß Citrate vergessen.“
Evita hatte Frank verboten, Fragen zu stellen; aber konnte sie ihm einen Vorwurf machen, wenn der Schlachter von sich aus das Geheimnis in die Welt posaunte?
„Hm“, machte Frank deshalb nur, in der Hoffnung, dass Haller mehr preisgab.
„Ich hab so viel am Hals“, klagte Haller weiter, „is’ mir einfach durchgegangen. Wenn’s nicht anders geht, soll sie’s eben mit Wasser verdünnen.“
Franks bloße Ahnung wurde ihm zur Gewissheit.
„Das Blut?“, fragte er.
„Blöde Frage, was denn sonst? Die Innereien bestimmt ... Wart mal, Kollege.“ Haller blieb stehen und musterte Frank misstrauisch. „Keine Ahnung, wovon ich rede, he? Sie hat’s dir nicht gesagt?“
„Nein.“
„Scheiße!“ Er schüttelte wütend den Kopf. „Hättste mir sagen müssen, Kumpel. Verdammte Scheiße!“ Einen Moment lang stand Haller unschlüssig da. Er schien abzuwägen, was er Frank geben sollte: die Kühlbox oder eine ordentliche Tracht Prügel. Dann entspannte sich sein Gesicht. „Was soll’s, früher oder später wärste eh drauf gekommen. Brauchst es Evita ja nicht unter die Nase zu reiben.“
„Mach ich nicht“, beteuerte Frank. Dabei hatte Haller ihn grad noch ausdrücklich gebeten, Evita von den Citraten zu berichten. Aber der Schlachter schien sowieso kein Schlaukopf zu sein. Frank nahm sich vor, die Sache vorerst für sich zu behalten.
„Dann hier.“
Haller drückte ihm die Kühlbox in die Hände. Die Flüssigkeit schwappte gegen die Wände, wie eine sämige Suppe mit großen Fleischstücken darin.
„Lass bloß den Deckel zu“, sagte Haller. Dann schickte er noch eine Mahnung hinterdrein: „Verarsch mich nicht noch mal. Wenn du mich noch mal verarschst, häng ich dich am Haken auf wie ein Schwein.“
„Ich hab dich doch gar nicht ...“, protestierte Frank.
„Wie ein Schwein“, wiederholte Haller und schritt davon.
Auf der Rückfahrt zergrübelte Frank sich das Hirn, was man mit einer 10-Liter-Kühlbox voll Blut und Innereien Sinnvolles beginnen konnte.

Während all der Zeit hatte er die verschlossene Tür zur fünften Etage fast aus seinem Gedächtnis verbannt.
Als er dann aber wieder einmal dabei war, seinen ungelenken Charme bei Clarissa an die Frau zu bringen (und die Tatsache zu verdrängen, dass er doppelt so alt war wie sie), vernahm er ein kurzes, dumpfes Geräusch von der Decke.
„Hast du das gehört?“
„Da war nichts“, sagte Clarissa.
Frank stellte fest, dass sie im Lügen eine noch größere Niete war als er selbst.
„Ich hab’s doch deutlich gehört. Da ist wer da oben.“
„Und wenn schon“, erwiderte sie ausweichend.
„Ich dachte, die Zimmer wären nicht in Gebrauch.“
„Sind sie ja auch nicht.“ Sie sah sich um. Kein Mädchen sonst auf dem Flur, ausgenommen Mandy, aber die schwatzte gerade einem Freier ein paar Fesselspielchen auf. „Meistens jedenfalls“, ergänzte sie leise.
„Also doch.“
„Frag Evita. Wenn sie’s dir sagt, gut. Wenn nicht, lass mich bitte damit in Ruhe.“
„Entschuldige, ich wollte nicht ...“
„Frag einfach Evita, okay?“

Evita hatte die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt und die Hände gefaltet.
„Also hat eines der Mädchen gequatscht? Wer?“
„Keiner hat gequatscht. Ich hab’s selber gehört. Da oben war was. Als wär was umgefallen.“
„Umgefallen, aha.“ Sie seufzte übertrieben. „Ich wollte es dir sowieso bald sagen. Bist lang genug dabei.“
„Was sagen?“
„Wir haben da oben noch eine Etage am Laufen. Für etwas, nun, ausgefallenere Wünsche. Wir nennen es unsere Nekropolis.“
Frank wurde flau im Magen.
„Soll das heißen ...?“
„Nein“, fiel Evita ihm lachend ins Wort. „Wir tun nur so. Wir haben zwei Mädchen da oben. Die kommen nur, wenn sie gebucht werden. Dann richten wir sie her wie eine Leiche, und der Kunde ...“
Sie ließ den Satz unvollendet und blinzelte ihn vergnügt an, übergab den Gegenstand ihrer Andeutung seiner Einbildungskraft, und er malte sich daraufhin abstoßende Bilder aus, die Evita mit Worten wohl niemals hätte heraufbeschwören können.
„Ist das nicht verboten?“, wagte er einen Einwand.
„Wer sollte es uns verbieten?“, fuhr sie ärgerlich auf. „Wir tun keinem was zuleide. Außerdem bringt es ’nen hübschen Batzen ein. Ich muss das alles hier schließlich irgendwie bezahlen, oder? Dich, zum Beispiel. Schon vergessen?“ Das hatte er keineswegs. Evita kam richtig in Fahrt. „Die Sache ist die: Als ich jung war, war ich immer gut besucht. Ich hab einfach die Spardose aufgehalten, und die Jungs haben fleißig reingesteckt. Von dem Geld hab ich mir vor drei Jahren den Laden hier gekauft. Wenn der weiterhin so viel abwirft, gehört mir bald auch Nr. 11, und ich brauch nicht mal ’nen Kredit. Auf lange Sicht habe ich noch größere Pläne. Das soll mir mal einer verbieten!“ Sie kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und schleuderte ihm mit TicTac-frischem Atem ihren Monolog ins Gesicht. „Glaubst du, ich hab all die geilen Böcke auf mir rumrutschen lassen, nur damit ich jetzt einen auf Betschwester mache? Mich interessiert Rendite, nicht Moral. Wenn du Moral willst, geh in die Kirche zu den Pfaffen; die kübeln ihre Moral da nur so von der Kanzel runter, und abends stecken sie den Ministranten ihre kleinen Heiligenschwänze in den Hals und lachen sich halbtot über die Blödheit ihrer Schäfchen.“
Halt bloß die Schnauze, gemahnte Frank sich selbst, wenn du es jetzt auf die Spitze treibst, fliegst du im hohen Bogen raus, und das war es dann mit dem schönen Verdienst und Clarissa. Aber eine Frage, die musste einfach raus:
„Was ist mit den Mädchen?“
Sie blickte ihn überrascht an, wie einen, der eine Frage gestellt hat, deren Antwort sich doch wohl von selbst verstand.
„Was soll mit denen sein? Denen geht’s gut. Vielleicht macht’s ihnen nicht immer Spaß, ja und? Mir steht der Job auch manchmal bis hier, kennen wir doch alle. Die beiden verdienen sich ’ne ordentliche Stange damit. Die arbeiten dreimal, viermal im Monat, das bringt denen mehr in die Tasche, als die anderen hier nach zwei Monaten zusammenkriegen. Für irgendwelche blödsinnigen Ideale kannst du dir nirgends was kaufen. Wir wollen doch alle leben, oder?
Frank entging die pikante Ironie nicht: Evitas Mädchen mussten sterben, um zu leben. Prächtiger Stoff, um in einem Philosophieseminar verhackstückelt zu werden.
Dreimal, viermal im Monat, hatte Evita in ihrem flammenden Plädoyer gesagt. Bei zwei Mädchen waren das sechs bis acht Buchungen. Das deckte sich auffallend mit seinen Bluttouren, wie er sie nannte: im Schnitt zweimal die Woche.
Denk nicht darüber nach, sagte er sich, das geht dich nichts an; du willst gar nicht wissen, was genau da läuft.
Natürlich wollte er das. So einer Geschichte musste er einfach nachspüren.
„Das Blut ...?“
Evita verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte ihn herausfordernd an. „Welches Blut?“
„Hallers Blut.“
„Das ist bloß Schweineblut“ erklärte sie leichthin. „Manche Kunden wollen, dass es wie eine Unfalltote aussieht, schön mit Wunden und allem Drum und Dran. Gibt’s natürlich nur gegen Aufschlag. Frag mich nicht, was die davon haben. Nehme mal an, das ist auch so ’ne Machtgeschichte.“
„Was ist mit den Citraten?“
„Ach, du weißt davon? Citrate sind Salze der Citronensäure; die halten das Blut flüssig. Hast du ’ne Ahnung, wie schnell Blut gerinnt?“
Hatte er nicht.
„Hat Haller sonst noch was geplaudert?“, forschte sie nach. „Etwas, das ich wissen sollte? Hm? Mir kannst du’s ruhig sagen.“
„Nee, hat er nicht.“
Da gab es ja auch nichts zu verschweigen, außer vielleicht Hallers Drohung: Ich häng dich am Haken auf wie ein Schwein. Nichts, womit er hätte angeben wollen. Ganz sicher nicht das, was Evita aus ihm herauszuschmeicheln hoffte.
Sie nickte so betont, dass die Botschaft unmissverständlich war: Ich will dir das mal glauben, aber solltest du mich doch angelogen haben, Freundchen, dann zieh dich warm an.
Sie ging zurück zu ihrem Schreibtisch, griff nach dem Telefon und bat Andrej ins Büro.
„Wer steht auf so etwas?“, erkundigte sich Frank, während sie auf den Russen warteten.
„Du würdest dich wundern“, antwortete Evita. „Soll bei Leichenbestattern ein beliebtes Spielchen sein, aber die sitzen ja auch an der Quelle. Und ob’s stimmt ...?“ Sie zuckte die Achseln. „Jedenfalls haben wir hier eine stabile Nachfrage. Es kommen natürlich nur Leute mit Geld ... mit viel Geld, versteht sich. Wir sind Monopolist in der Gegend, da können wir schon was verlangen.“ Sie schnaufte ein freudloses Lächeln aus. „Komisch, oder? Diese Kunden, die sind alle verheiratet. Wie leblos müssen die Frauen dieser Männer sein, dass die mir so viel Geld zahlen, um ’ne Leiche zu vögeln.“
„Verachtest du sie?“
Sie warf ihm einen stechenden Blick zu.
„Die Kerls? Alle, wie sie da sind. Die legen dir die Kohle aufs Bett, und dann bist du nichts weiter für die als ein Stück Fleisch mit zwei Titten und ’ner Möse drin. In diesem Gewerbe ficken sie dir jede Achtung vor ihnen grunzend aus dem Balg. Die paar Netten, die drunter sind, zählen nicht.“
„Warum hast du’s dann gemacht?“
„Das Geld war’s. Am Ende sind wir alle Huren. Alle spreizen die Beine, halten die Ärsche und Schlünder hin; hier, im Büro, in der Werkstatt, in den Ämtern. Aber wir sind wenigstens ehrlich dabei. – Ah, Andrej.“
Der Russe hatte die Tür geöffnet und kam ins Büro.
„Ich hab unserem Hausmeister hier von der Fünften erzählt.“
„Jetzt schon?“ Der Russe war sichtlich überrascht.
„Er wird nicht plaudern.“ Und während sie Andrej unverwandt ansah, sagte sie: „Wird er doch nicht, oder?“
„Ganz bestimmt nicht“, versicherte Frank.
„Plaudert er doch, weißt du, was zu tun ist.“
Andrej brummte zustimmend.
Frank hatte einige beiläufige Unterhaltungen mit dem Schläger geführt. Sie waren durchaus nicht unfreundlich gewesen. Aber so viel stand fest: Sollte er etwas von seinem Wissen nach außen tragen, würde ihm Andrej, da gab es keinen Zweifel, die Gesundheit ruinieren – im besten Falle.
Evita lächelte zufrieden. „Dann sind wir uns ja einig.“ Sie blätterte in ihren Unterlagen und winkte Frank herbei. „Morgen ist wieder ein Termin. Du holst am frühen Abend Nachschub bei Haller, und danach erweitern wir dein Aufgabenspektrum. Stell dich schon mal ein auf ungefähr Mitternacht.“

Am nächsten Tag um kurz nach Mitternacht holte Evita ihn zum angekündigten Besuch der Nekropolis ab. Sie verließen das Bordell zur Straße hin, wo sich Evita nach links wandte, bis sie hinter Nr. 11 das Gittertor einer Hofeinfahrt aufsperrte.
„Ist der einzige Zugang“, erklärte sie, während sie über den Hof gingen. Der war nur vage beleuchtet von den Lichtern aus den Zimmern der Bordellhäuser zu ihrer Linken. Die anderen drei Seiten des Karrees wurden von den rückwärtigen Wänden heruntergekommener Wohnblocks gebildet, von denen nur schießschartenartige Klofenster auf den Hof hinausgingen. Diese Abgeschiedenheit war ein idealer Schleichweg für Leichenliebhaber.
„Hab mich schon gewundert, warum ich im Haus nie was mitbekommen hab“, sagte Frank.
„Da hätten sich unsere Kunden auch schön bedankt. Hier vorne ist es schon.“
Frank schätzte, dass sie jetzt im Hof genau auf der dem Eingang zu Nr. 9 gegenüberliegenden Seite standen. Sie blieben vor einem etwas mehr als mannshohen Anbau stehen, der sich gegen das Bordell duckte und eine beachtliche Breite und Länge aufwies.
Evita entriegelte die Flügeltüren. Der Schließmechanismus hätte einem Hochsicherheitstrakt zur Ehre gereicht. In der Dunkelheit dahinter tastete sie nach einem Lichtschalter.
Frank folgte ihr hinein, und Evita schloss hinter ihm wieder ab. Der Raum war leer und penibel sauber gehalten. An seinem Ende war eine Tür in die Hauswand eingelassen. Evita zog sie auf; dahinter befand sich ein Fahrstuhl.
„Unser Styx in die Totenwelt“, sagte Evita. „Es gibt keinen Fährmann hinauf, nur ’nen Liftboy, und das ist entweder Andrej, oder, wenn der keine Zeit hat, bin ich’s.“
Er betrachtete den Fahrstuhlspiegel. Auf dem Glas war nicht die kleinste Schliere zu sehen.
„Hinter dem Spiegel ist das Treppenhaus“, erklärte Evita auf der Fahrt nach oben. „Wir haben die Fahrstuhltüren im ganzen Haus zugemauert. Kein Mensch ahnt was davon. – Da sind wir auch schon.“
Die Tür glitt auf. Der kleine Flur der fünften Etage wurde von den niedrig sitzenden Dachschrägen klaustrophobisch eingezwängt. Durch die Dachfenster schimmerte der kraftlose Schein eines wolkenverhangenen Halbmondes herein und warf ihn und Evita als konturschwache, in Hüfthöhe scharf abgewinkelte Schatten gegen die Wand.
Evita öffnete die einzige Tür auf diesem Flur und schaltete das Licht in dem Raum dahinter an.
„Et voilá“, sagte sie und machte eine ausladende Handbewegung, als präsentierte sie ihm eine Nobelsuite im Steigenberger.
Frank war von der Nekropolis enttäuscht. Er hatte gehofft, wenigstens einen Blick auf den Leichenschänder oder die Tote werfen zu können, aber die beiden hatten das Feld bereits geräumt. Was das Zimmer anging, hatte er sich morbiden Hirngespinsten hingegeben, aber die Realität war ernüchternd. Das war keine Folterkammer, kein mit Fäulnisgasen verpestetes Mausoleum. Bloß ein Raum mit einem übergroßen französischen Bett, im hochgestellten Kopfteil ein Spiegel. Das Fenster mit dem heruntergelassenen Rolladen in der Dachschräge war zum Lüften angekippt. Auffällig waren eigentlich nur hunderte von Fotos, die dicht an dicht auf den Wänden klebten und die Tapete darunter kaum noch erkennen ließen. Und die Kühlbox neben dem Bett. Eine von Hallers Boxen.
„Das muss alles sauber“, bestimmte Evita und zeigte auf eine Tür in der gegenüberliegenden Wand. „Da drin ist das Bad, da findest du auch das Putzzeug.“
Frank holte aus einem Schrank im Bad die Reinigungsmittel, streifte sich Handschuhe über und begann mit dem Bett. Laken und Decke waren mit dunklen Flecken übersät. Eine größere Lache auf dem Laken war noch feucht – als er sich darüber beugte, spiegelte sich sein Gesicht darin.
Er atmete einige Male tief durch, um seinen Magen zu beruhigen.
„Wohin mit dem Zeug?“, wollte er wissen.
„Pack’s in den Blauen. Kommt unten in die Tonne. Hier oben nutzen wir die Bettwäsche nur einmal.“
Frank stopfte die erste Decke in den Sack. Dabei fiel etwas aus einer Stofffalte auf den Boden. Sah aus wie ein vom Spieß gestreifter Schaschlikwürfel. Er bückte sich danach, betrachtete seinen Fund näher ... und ließ ihn erschrocken wieder fallen.
„Das ist ’n Stück Leber.“
„Kann schon sein“, sagte Evita. „Ich hab dir doch gesagt, manchmal wollen sie was von ’nem Unfall. Der Kunde heute hatte Lust auf die Frau-vom-LKW-überfahren-Nummer. Hier, schau mal, so was Ähnliches hatten wir schon mal.“
Sie klopfte auf eines der vielen Fotos an der Wand. Die gestochen scharfe Aufnahme zeigte ein Mädchen, das rücklings auf einem Bett lag, leichenblass, mit geschlossenen Lidern, selbst noch im Tod eine Schönheit, jedenfalls was das Gesicht betraf. Ihre Arme und Beine waren leicht gespreizt, die Handflächen mit den spinnenbeinartig gekrümmten Fingern himmelwärts gerichtet, Oberschenkel und Waden ein Flickenteppich aus Hämatomen und Abschürfungen. Ihr Bauch ... Frank schluckte, als er das Kuddelmuddel von Innereien und Blut betrachtete, das aus der aufgeplatzten Bauchdecke hervorquoll und sich wie ein saftglänzender Gekröseberg zur rasierten Scham hin auftürmte.
„Die Nummer hat damals auch Andrea übernommen“, erläuterte Evita. „Zwei geschlagene Stunden hab ich an ihr rumgeschminkt, genau wie heute. Ein ganzes Pfund Leber ist draufgegangen. Hast du ’ne Vorstellung, was das für die Mädchen heißt? Zwei Stunden ohne jeden Mucks liegen? Und dann noch der Kunde? Als Leiche darfst du keinen Finger krümmen. Mach das mal.“
Bei allem Abscheu konnte Frank nicht umhin, Evitas Talent zu bewundern. Sie hätte eine astreine Karriere als Visagistin für Splatterstreifen hinlegen können.
„Das Foto von der LKW-Nummer heute wird noch besser“, versprach Evita und tippte auf eine freie Stelle zwischen den Fotos. „Hier häng ich’s hin.“
Sie drehte sich um und lächelte. Aus jedem Grübchen in ihrem Gesicht sprach der Stolz über das maskenbildnerische Meisterstück.
„Los jetzt“, drängte sie, „ich hab unten auch noch was zu tun. Halbe Stunde bist du fertig.“
Frank stopfte das Bettzeug in den blauen Sack, wischte die Blutspritzer vom Bettrahmen, wienerte den Boden, reinigte die Kühlbox in der Dusche, hernach die Dusche selbst, und zum Schluss nahm er aus dem Schrankfach neben dem Putzzeug frische Bettwäsche und bezog den Leichenacker.
Als sie dann gehen wollten, fiel ihm ein kleines Brett an der Wand auf. Darauf stand ein Einmachglas, das mit einer klaren Flüssigkeit bis oben hin gefüllt war. In dem Glas schwamm ein über dem ersten Gelenk abgetrennter kleiner Finger mit ausgefranstem Wundrand.
Saubere Arbeit, dachte Frank mit schaudernder Anerkennung, sieht aus wie echt.
„Ist der gekauft oder hast du den gemacht?“
„Ist ’n Erinnerungsstück. Wir hatten mal eine hier, die war völlig durch’n Wind. Zweitausend extra hat die genommen, dafür durfte der Kunde ihr mit ’ner Gartenschere den Finger abschneiden. Die hat das Geld für Stoff ausgegeben. Wahnsinn, oder? Für Dreck, der einen umbringt. Und dafür ’nen Finger hergeben. Ich hätt’ mit dem Geld was Besseres angefangen.“
Frank hatte es plötzlich eilig, in den Fahrstuhl zu kommen. Als sie nach unten fuhren, fiel ihm noch etwas ein, das ihm während der Putzerei beständig durch den Kopf gegangen war.
„Wo ist eigentlich die Leber hin? Ich mein, du hast doch gesagt, das wär ’n ganzes Pfund gewesen, aber da war nur das kleine Stückchen ...“
Evita machte eine Geste der Ratlosigkeit. „Der brät sich das Zeug zu Hause mit ’nem Haufen Zwiebeln. Wär doch schad drum, hat er mir mal gesagt. Außerdem könnt’ er so das Mädchen noch mal schmecken. – Was siehst du mich so an? Ich würd so was bestimmt nicht essen.“
Bevor sie die Hoftür des Anbaus aufschloss – Frank wollte nur noch raus, raus in die Unschuld des Hinterhofs, raus in das Leben auf der Straße –, nahm Evita ihn noch einmal ins Gebet.
„Damit das klar ist: Du hast nichts gehört, nichts gesehen, und du wirst nichts ...“
„Kein Wort“, versicherte er. „Wie die drei Affen.“
Bloß raus hier.
„Und du fährst niemals allein da hoch, verstanden?“
Das war nun nicht schwer zu verstehen.
Frank nickte.
Raus.

Zu niemandem ein Wort, das hieß für Frank: ausgenommen Clarissa. Er vertraute ihr, wie man nur jemandem vertraut, den man ... Aber war das nicht ein zu großes Wort?
Vielleicht, so hatte er oft überlegt, vielleicht mochte er sie ja bloß; mochte sie, weil sie mitunter genauso einsam zu sein schien, wie er es war. Wie sie traurig dastand, wenn kein Kunde in der Nähe war, jedwede Spannung ihres Körpers verflogen, den leeren Blick seelenwärts gerichtet – nur um im nächsten Augenblick, beim nächsten „Bist du noch frei?“ wieder die verruchte Lady aus sich herauszupulen.
Aber Mitgefühl als Basis für ein gemeinsames Leben funktionierte allenfalls im Tierheim. Die Käfigbewohner dieses Laufhauses wurden nicht mitgenommen; ein kleines Spielstündchen beizeiten, dann galt es, auf das nächste Herrchen zu warten.
Mal ganz davon abgesehen, dass Clarissa es augenscheinlich nicht darauf anlegte, ausgerechnet von ihm mitgenommen zu werden. Nicht mal auf einen Kaffee nach Feierabend ließ sie sich ein.
Aber wen außer Clarissa hatte er denn schon zum Reden? Und die Sache mit der Nekropolis war wirklich zu heiß.
Eine Woche lang schnürte er immer wieder an ihrem Zimmer vorbei, bis er sie endlich allein dort oben antraf. Er wollte schon die Geschichte von der kleinen Totenwelt über ihren Köpfen rausfeuern, als sie ihn am Ärmel zupfte. Offenbar hatte auch sie etwas auf dem Herzen.
„Kommst du kurz rein?“, bat sie ihn.
Frank zögerte. Diese Schwelle hatte er weiß Gott schon oft überschritten. Mit Putzeimer und Staubsauger. Aber noch nie mit Clarissa. Sie war die verbotene Frucht. Wenn er jetzt mit hineinging und davon naschte, würden sie beide hochkant hier rausfliegen.
„Wenn uns einer sieht?“, wandte er ein.
„Bitte!“, drängte sie.
Ihre Augen schimmerten feucht. An einem amourösen Abenteuer war ihr sichtlich nicht gelegen.
Verzweifelt wägte Frank das Für und Wider ab. Er dachte an die armseligen Vorsprechtermine in Zimmer 114 der Arbeitsagentur; dachte an den Fallmanager, der ihm mit Leistungskürzung gedroht hatte, sollte er nicht den dritten Kurs Bewerbertraining besuchen; dachte an seinen geplanten Winterurlaub.
In diesem Moment wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie recht Evita doch hatte: Am Ende sind wir alle Huren. Er war keinen Deut anders als Clarissa. Einer, der sich für Geld verkaufte. Die Klappe hielt. Eine Hausmeisterhure.
Lass sie nicht hängen, dachte er. Scheint, als bräuchte sie deine Hilfe.
„Aber nur kurz“, sagte er und betrat das Zimmer.
Clarissa schloss die Tür, und damit wurden alle Gedanken an Evita, Andrej und das schöne Geld fürs Nächste ausgesperrt.
Sie setzte sich auf das Bett und begann zu weinen. Langsam, beinahe widerstrebend, trat er näher. Er konnte mit weinenden Frauen nichts anfangen. Tränen machten ihn hilflos.
„Was ist mit dir?“, erkundigte er sich. „Siehst nicht gut aus.“
„Mir geht’s beschissen.“
„So schlimm?“
Er setzte sich neben sie. Tapsig legte er seinen Arm um ihre Schulter und wollte sie an sich drücken, aber Clarissa wand sich frei und rückte ein wenig von ihm ab.
„Lass das“, sagte sie.
„Aber ich wollt’ doch nur ...“
„Ich weiß, was du wolltest. Ich ertrag das nicht.“
Ihre Zurückweisung versetzte ihm einen Stich. Sie hatte ihn schließlich hereingebeten. „Nur ein bisschen in den Arm nehmen, mehr wollt’ ich gar nicht.“
„Aber ich will das nicht“, sagte sie, und ihre zitternde Stimme gewann an Schärfe. „Kannst du das nicht verstehen? Diese schmierigen Kerle, tagein, tagaus. Kommen hier reingekrochen und suchen nach ihrer verschissenen Mutter. Nach ’nem Frauchen. Verzogene Bengels wollen sie sein. Hunde. Stiefellecker. Beschimpfen soll ich sie. In den Mund spucken. Ihre Fettärsche mit der Peitsche versohlen. Die widern mich so an!“
„Ich bin nicht wie die.“
„Du bist ein Mann.“
Das war ein Argument, das er nur schwerlich widerlegen konnte. Etwas in ihm empörte sich über die Sippenhaft, in die sie ihn nahm. Aber der Gedanke an die allabendliche Heerschau der Testosteronkrieger da draußen brachte den kleinen Protestler rasch zum Schweigen.
„Kann ich dir was helfen?“
„Zuhören“, sagte sie. „Ich hab keinen, der mir zuhört.“
Da sind wir schon zwei, dachte er.
Sie erzählte ihm die alte Geschichte vom Vater, der mit einer Jüngeren durchgebrannt war. Von der Mutter, die sich betrunken und sie geschlagen hatte. Wie sie nach dem Hauptschulabschluss von zu Hause ausgebüchst war, sich wahllos Männern an den Hals geworfen hatte, bloß um eine Bleibe zu haben, bis sie schließlich vor fünf Jahren hier gestrandet war, in der Hoffnung, sich ein kleines Startkapital für einen Neuanfang zusammensparen zu können. Aber sie war immer noch hier, und vom Geld kaum was übrig.
„Und jetzt wollen die ...“
Hier versagte ihr die Stimme. Die Verzweiflung in ihrem Blick schnürte ihm die Kehle zu. Mit jeder Faser seines Körpers wollte er nach ihr greifen, sie beruhigen, ihr Mut zusprechen. Gottnocheins, warum lässt du mich nicht, dachte er bitter. Ich bin doch hier. Bin doch hier.
„Was wollen die?“
„Evita. Andrej.“ Sie holte tief Luft. „Ich soll ’ne Etage höher.“
Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte stumm hinein.
Frank hielt es nicht mehr auf dem Bett. Er sprang auf und lief ziellos im Zimmer umher.
„Das können die nicht machen“, sagte er. Immer wieder: „Können die nicht. Können die nicht. Können die nicht.“
Er sprach es wie eine rituelle Formel, die Beschwörung eines gnädigen Gottes, der es mit dem vorgezeichneten Schicksal vielleicht doch nicht ganz so genau nahm.
Er setzte sich wieder neben sie.
„Keiner kann dich zwingen. Nicht dazu.“
Sie ließ die Hände kraftlos in den Schoß fallen. Ihre Wangen waren rot vom Salz der Tränen.
„Ich will keine Leiche sein“, sagte sie.
„Du musst das doch nicht machen.“
Sie sah ihn zornig an. „Was weißt du denn schon?“
„Ich war oben.“
„Du?“
Misstrauen keimte in ihrem verschleierten Blick auf.
„Nur zum Saubermachen, ’n paar Mal bloß“, beeilte er sich zu sagen. Noch vor Minuten hatte er ihr unbedingt von dem Zimmer erzählen wollen, jetzt überlegte er fieberhaft, wie er ihren Fragen nach den Details entwischen konnte. „Was ist mit den Mädchen, die das bisher gemacht haben?“
„Steffi allein schafft das nicht.“
„Evita sprach von zwei Mädchen.“
„Andrea? Die kommt nicht mehr. Ist einfach abgehau’n. Keiner weiß, wohin. Die hat mir mal gesagt, sie hält das nicht mehr aus. Bringt mich irgendwann noch wirklich um, hat sie gesagt. Und jetzt soll ich an ihrer Stelle da rauf.“
„Dann hör auf mit dem Job. Du hast was Besseres verdient.“
Damit meinte er sich.
„Ich kann nicht einfach aufhören.“
„Aber warum denn nicht?“
Sie wandte den Blick ab und sagte bloß ein Wort: „Andrej.“
Der also. Gleichwohl war Frank nicht entmutigt. Andrej war weit fort, irgendwo hinter dieser Tür, und Frank fühlte sich Clarissa in diesem Moment so nah, dass er einen lange überwunden geglaubten Leichtsinn beging: Er gab ein Versprechen ab.
„Niemand wird dich da oben reinstecken“, sagte er, ganz der treue Beschützer.
Sie bedachte ihn mit einem ausdruckslosen Blick, der nicht erkennen ließ, ob sie aus seinen Worten etwas Hoffnung schöpfte.
„Das lass ich nicht zu“, bekräftigte er.

Er ließ es dann doch zu.
Evita war außer sich vor Zorn. Sie ließ keine seiner Einwendungen gelten. Seine Herzschmerzangelegenheiten solle er gefälligst mit sich selbst ausmachen, aber nur ja die Mädchen in Ruhe lassen. Und wenn er schon unbedingt den Galan spielen wolle, bittschön, aber dann müsse er Clarissa erst auslösen (hier nannte sie ein Sümmchen, das er in zwei Jahren schottischster Lebensart nicht zusammengebracht hätte). Sie drohte ihm erst mit Rausschmiss. Dann mit Andrej.
Der ritterliche Mumm, der noch in Clarissas Zimmer durch seine Venen geschäumt war, schmolz auf ein paar jämmerliche „Ja, aber“-Brocken zusammen.
Er behielt die Stelle und die Unversehrtheit seiner Glieder. Die Warnung aber war unmissverständlich: noch so’n Ding!
Was sollte er auch tun? Zur Polizei gehen? Die betrieb hier eine Revierfiliale. Wann immer Andrej einem allzu aufdringlichen Kunden das Gesicht durchwalkte, kamen bald darauf die Beamten, flachsten ein wenig mit Evita und dem Russen, und wenn sie in Spendierlaune waren oder der Randalierer sich gar zu ungebärdig gegen die Festnahme sträubte, verpassten sie ihm noch einen ordentlichen Verwahrungsklaps, wie sie es nannten – sie konnten es im Bericht ja immer noch Andrej unterjubeln, der hinwiederum nichts befürchten musste, hatte er doch bloß eines der Mädchen beschützt. So waren alle fein dabei raus, und manchmal kamen die Beamten Tage später in Zivil und holten sich Evitas Dank bei einem der Mädchen ab.
Nein, er musste allein damit klarkommen.
Als er sich nach Tagen getraute, Clarissa wieder unter die Augen zu treten, war ihr Zimmer verwaist. Er wusste weder, wo sie wohnte, noch kannte er ihren Nachnamen oder eine Telefonnummer. Eines der Mädchen zu fragen, kam nicht in Frage - denen war Stillschweigen so fremd wie Keuschheit.
Ich lass das nicht zu, hatte er Clarissa verprochen. Was war er nur für ein kleiner, feiger Schisser.
In dieser Nacht betrank er sich das erste Mal seit vielen Jahren.

Drei Wochen vergingen, in denen er immer wieder das Treppenhaus hinauflief und an der verschlossenen Tür zur fünften Etage lauschte. Nichts. Wenn er nach einer Buchung zum Saubermachen in die Nekropolis fuhr, aufmerksam bewacht von Andrej oder Evita, achtete er auf jedes Detail, das ihm Aufschluss über Clarissas Befinden hätte geben können. Vergebens. Die Fotos – vielleicht hing sie schon dort, von Evita kunstvoll zurechtgemacht, aber er fand nie die Zeit, mehr als nur einen flüchtigen Blick auf das Totenalbum zu werfen.
Dann, eines nachts, als er einen Betrunkenen auf der ersten Etage einsammelte und ihm unsanft die Treppe hinabhalf – der abgefüllte Kneipengänger hatte halb Frankreich mit faden Häschenwitzen gelangweilt –, wurde er Zeuge eines ungewöhnlichen Disputs zwischen Evita und Andrej. Er war noch nicht ganz mit seiner schwankenden Begleitung unten angekommen, als die Tür zum Büro aufging und die beiden auf den Flur heraustraten.
„Die Schlampe bringt uns in Teufelsküche“, sagte Evita erbost.
„Hab’s überall versucht“, erwiderte Andrej kleinlaut.
„Schau genauer hin. Wird sich ja nicht in Luft aufgelöst haben.“
„Und dann?“
„Kündigung.“
Nur diese Wortfetzen, dann waren die beiden auf der Straße verschwunden.
Schlau war Frank nicht daraus geworden. Wer war mit Schlampe gemeint? Clarissa etwa? Gab es Schwierigkeiten?
Seine Befürchtung bestätigte sich, als er nach Feierabend auf dem Parkplatz vor seinem klapprigen Fiesta stand. Er schloss auf, schob seine Hand unter den Türgriff und fühlte ein Stück Papier. Es war eine kurze, offenbar in aller Eile hingekrakelte Notiz:
Hol mich an der evangelischen Kirche ab. Bitte! Claudia
Mit der bangen Frage, wie es ihr gehe und ob sie ihm seine Feigheit verziehen habe, fuhr er zur Kirche und hielt am Bürgersteig. Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten der Gebäudewand, eilte zu ihm herüber und warf sich auf den Beifahrersitz.
„Endlich“, sagte er mit klopfendem Herzen, „ich hab mir solche ...“
„Fahr!“
„Wohin?“
„Scheißegal!“
Während der ziellosen Fahrt durch die Peripherie der Stadt warf er häufiger einen flüchtigen Blick zu ihr hinüber. Sie hatte die Domina abgestreift und trug jetzt Shirt und Jeans, die Haare nachlässig zu einem Zopf gebunden. Schlecht sah sie aus. Eingefallen. Verhärmt.
„Wie geht es dir?“, brach er schließlich das Schweigen.
Sie würgte. Dachte er jedenfalls, aber es sollte wohl eine Antwort sein.
„Was?“, hakte er nach.
„Vorgestern hatte ich eine Buchung,“ sagte sie, ohne aufzublicken.
„Diese Schweine“, rief er aus, als wäre es die Überraschung des Jahres.
„Heute sollte meine zweite sein.“
Sie gab sich alle Mühe, ruhig zu sprechen, aber Frank spürte: nur ein bisschen an der emotionalen Kruste knibbeln, und ihre ganze eiternde Seele würde herausspritzen.
Er dachte an den Blutnachschub, den er heute besorgt hatte. Für Claudia also. Noch bei seinem Botengang hatte er es prächtig verstanden, diesen Gedanken gar nicht erst zuzulassen.
„Die zweite schon? Wieso sollte?“
„Ich war nicht da.“
„Warum nicht?“
Erstklassige Frage, mein Lieber. Du hast den Bogen raus. Muss sich für sie ja ganz danach anhören, als verlangtest du eine Rechtfertigung von ihr.
„Ich mein, warum ...“
„Warum, warum, warum! Willst du tauschen? Ja?“
„Bei Gott, nein!“
Claudia holte tief Luft. „Als er fertig war ...“ Sie brach ab und lehnte den Kopf an die Nackenstütze. „Als er mit mir fertig war, hat er noch mit Evita gesprochen. Die dachten wohl, ich bekäme es nicht mit. Nicht übel, die Kleine, hat er gesagt. Nicht ganz so sensationell wie die echte Tote vor drei Tagen, aber wirklich nicht übel. Weißt du, was das heißt?“
Ihre Stimme war nah am Überschnappen.
Frank war schlagartig übel geworden. „Das hat er nur so gesagt“, wandte er ein, „du weißt doch, wie Männer sind. Immer auf den Putz hauen. Wollen immer die Größten sein. Das war bloß ’n blöder Spruch.“
„Das war kein beschissener Spruch!“, schrie sie ihn an. „Der hat vor mir ’ne Leiche gehabt.“
„Das ist ... ich weiß gar nicht, was ich ... dann musst du zur Polizei, Clarissa.“
„Ich heiße Claudia. Das weißt du! Der Freier ist ’n krankes Schwein von Staatsanwalt. Und die Bullen? Es sind Evitas Bullen. “
„Aber du kannst das doch nicht einfach so laufen lassen.“
„Wenn ich was sage, holt mich Andrej.“
„Versteck dich irgendwo. Andrej ist nicht Gott.“
„Ich wünschte, er wär’s; dann wär ihm alles egal.“
Sie fuhren eine Weile schweigend durch die Nacht. Frank war zutiefst beunruhigt. Irgendetwas hatte sie noch auf dem Herzen, so angespannt, wie sie weiterhin dasaß.
„Da ist noch was“, begann sie schließlich.
„Ja?“, sagte er, obwohl er es nicht hören wollte. Die Art, wie sie sprach, weckte in ihm nur einen Wunsch: Ich will das nicht hören.
„Ich war gestern bei der Routine.“
„Die Untersuchung?“
Alle Mädchen mussten in bestimmten Abständen zum Arzt, oder wie es in Nr. 9 hieß: Muschicheck.
Claudia hatte die Hände in den Schoß gelegt und strickte mit ihren Fingern ein Gedankenknäuel.
„Die haben was gefunden.“
Er schaute kurz zu ihr rüber. Sie warf ihm einen wilden, stierenden Blick zu.
Ohne ein weiteres Wort wusste er um den Befund. Er hatte davon gehört, abgestoßen und fasziniert zugleich. Hatte nie daran geglaubt. Bloß eines dieser abseitigen Schauermärchen.
Der Herr Staatsanwalt hatte sich beim Rein-und-raus mit der Toten Leichenwürmer eingehandelt. Und jetzt wimmelte es in Claudias Schoß von diesen ...
Die Schinkenbrote vom frühen Abend verlangten nach Freiheit. Rasch lenkte er den Fiesta an den Straßenrand, riss die Tür auf, dann schoss ihm auch schon der halbverdaute Schinken-Vollkorn-Pamps durch Mund und Nase, geradewegs in den Rinnstein.
Als er sich wieder aufrichtete, hielt sie ihm mit tränennassem Gesicht ein Taschentuch hin. Er nahm es und wischte sich den Mund ab, beschämt darüber, dass er sich so gehen ließ. Sie war es, die allen Grund zum Magenaufruhr hatte, aber vermutlich hatte sie das schon hinter sich.
„Warum hast du kein Gummi genommen?“, keuchte er, und der Vorwurf war so gallenbitter wie der Geschmack auf seiner Zunge.
Claudia blickte ihn verständnislos an. „Ich hab immer Gummis genommen. Ich bin doch nicht verrückt.“
„Aber wie konnte dann das passieren?“
Sie schüttelte leise den Kopf. „Keine Ahnung, wovon du sprichst. Der Arzt meinte, der Gebärmutterhals würd ihm gar nicht gefallen. Er hat ’ne Gewebeprobe eingeschickt.“ Kaum noch hörbar fügte sie hinzu: „Ich weiß, was dabei rauskommt. Ich spür das.“
Frank atmete für einen Augenblick erleichtert auf. Keine Würmer. Es war doch nur eine alberne Lagerfeuergeschichte. Dann wurde ihm klar, worauf ihre Andeutung hinauslief, und der Schreck fuhr ihm tief ins Gedärm.
Zervixkarzinom. Das hatte seine Mutter aus dem Leben gefressen. Die Gebärmutter hatten sie ihr rausgeschabt, aber der Krebs hatte bereits gestreut. Gestreut – was für ein elender Euphemismus! Ein Blitzkrieg war es gewesen.
Mit seiner Rechten griff er nach ihren zitternden Händen.
„Das heißt doch nichts“, versuchte er sie zu beruhigen. „Das kann alles Mögliche sein. Warte doch erst mal das Ergebnis ab.“
„Scheiß aufs Warten“, sagte sie, während sie seine Hand so fest drückte, dass es schmerzte. „Ich warte, seit ich denken kann, aber am Ende geht immer alles schief. Das ist doch kein Leben.“
Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Es hätten seine Worte sein können.
„Frank?“
„Ja?“
„Bitte, kann ich heute nacht bei dir schlafen? Nur diese eine Nacht? Ich muss was nachdenken.“
So viele Nächte, wie du willst, dachte Frank.
„Klar“, sagte er.
„Dann fahr mich kurz nach Hause, ich hol meine Sachen.“

Sie lotste ihn in ein verwahrlostes Viertel. Er blieb im Wagen vor dem Achtstock sitzen, während sie die wenigen Schritte zur Tür eilte und im Haus verschwand.
Er schaltete das Radio an und drehte es laut, um Angst und Sorge zu betäuben. Whitney Houston versprach, ihn immer zu lieben.
Hör bloß auf mit der romantischen Folklore, dachte er verbittert. Irgendwann kommt die Zeit, da verpasst einer von uns dem anderen einen Arschtritt, und das war’s dann mit dem Gemaunze. Nichts im Leben war so gewiss wie der Tod und die Arschtritte. Schönen Dank auch.
Ein Schatten schob sich vor die Fahrertür. Frank schaute auf zum Gesicht des Besuchers, das ihm da, Wange an Wange mit dem käsigen Vollmond, entgegenblickte.
Die Tür wurde aufgerissen.
Andrej, dachte er noch voll Entsetzen.
Eine Faust huschte vor den Doppelmond, wurde größer und größer.
Treffer.
Aus.

Am Anfang war das Dunkel.
Bald gesellten sich blitzende Lichtpunkte hinzu, stoben durch die Finsternis.
Seine erste Empfindung: Kälte. Sie kroch ihm von den Lenden das Rückgrat hinauf, frostete seine Fußsohlen, kitzelte ihm die Hoden.
Sein Kopf ... oh, sein Kopf. Der war zu dreifacher Größe aufgebläht, nur um den hämmernden Schmerzen eine genügend große Spielwiese zu bereiten.
Er hörte Stimmen. Ein dumpfes Gemurmel, das keinen Sinn ergab; bloß eine Abfolge von Urlauten, wie Affengebabbel in zehnfach verlangsamter Geschwindigkeit.
Jahre vergingen. Aus den Urlauten wurden Silben, alsbald Wörter, dann Sätze.
Die Modulation der einen Stimme kannte er. Wie hieß sie doch gleich? Bonita? Evita? Marita? Dieser verfluchte Kopfschmerz. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
Die zweite Stimme. Harte Diktion. Der Name sauste ihm im Schädel herum, eine kleine mistige Fliege, die er nicht zu fassen bekam. Mütterchen Russland kam ihm in den Sinn. Aber nein, es war ein Väterchen. Ein Mann. Mit äußerster Willenskraft schnappte er nach dem Namen, bis er ihn hatte: Andrej.
Die andere Stimme: Evita, natürlich.
Da war noch ein Dritter.
„Halsstich oder Bruststich, is’ mir egal“, sagte der Dritte.
„Halsstich“, bestimmte Andrej.
Hals oder Brust? Wovon sprachen die?
Er versuchte, die Augen zu öffnen. Seine Lider widersetzten sich dem Ansinnen mit bleierner Schwere, aber sie mussten dann doch auf.
Ein kalter Lichtstrahl schlüpfte durch den Spalt, stach mit Nadelsschärfe in den Sehnerv. Rasch schloss er die Augen, atmete tief durch und unternahm einen neuerlichen, blinzelnden Anlauf. Diesmal gelang es besser.
Ganz Buchhalter, der er zeit seines Lebens gewesen war, erstellte er eine Bestandsliste des Anlagevermögens:
Da war zunächst einmal der Raum, in dem er sich befand, vielleicht sechs mal sechs Meter im Geviert. Vom Boden bis zur Decke weiß gekachelt. Ihm gerade gegenüber ein aus massiven Glasbausteinen zusammengesetztes Fenster, das die Nacht dahinter nur als dunkle Ahnung hereinließ. Zur Linken eine geschlossene Metalltür, zur Rechten ein ebenso geschlossenes, doppelt so breites Schiebetor, gleichfalls aus Metall.
Eine schmucklos-pragmatische Betriebs- und Geschäftsausstattung: Weiße Neonleuchten an der Decke; von der Decke hing ein motorbetriebener Kettenzug herab, der in einer Querstrebe von annähernd zwei Armeslängen endete, die auf dem Boden auflag; an den beiden Enden der Querstrebe waren zwei Klemmvorrichtungen verschraubt; das Bedienpult für den Kettenzug baumelte an einem Kabelstrang einträchtig neben der Kette.
Unweit davon hing eine handliche Maschine an einem zweiten Kabelmantel herab: Eine elektrische Säge mit einem Rotationszahnblatt.
Ein Metalltisch neben der Tür, darauf: Messer unterschiedlicher Form und Größe, eine kleine Axt, ein nachlässig zusammengerolltes Seil, Paketklebeband, verschiedenerlei Werkzeuge, deren Bestimmungszweck Frank nicht kannte, und – ein leerer 20-Liter-Eimer mit knallroter Banderole und dem Aufdruck Kraft Tomaten-Ketchup.
Er befand sich in einem Schlachtraum. Das war die Erkenntnis, schlicht und einfach.
Bei dem Gedanken war es nicht mehr weit bis zu Hallers Schlachtbetrieb, und richtig: Haller stand, flankiert von Evita und Andrej, unter den Glasbausteinen. Sie trugen einheitliche Mode: Gummistiefel und weiße Kittel. Andrej hatte neuerdings fünf Beine, drei davon gehörten zum Stativ einer Videokamera, hinter dem der Russe stand. Filmenswertes schien es nicht zu geben – das Objektiv war nach unten geneigt.
Was ja nicht so bleiben muss, dachte Frank, und jetzt wurde ihm bewusst, dass er splitternackt auf dem kalten Boden saß, mit dem Rücken gegen die Kacheln gelehnt. Er zog die Fersen seiner aufgestellten Beine noch näher ans Gesäß heran und beugte seine Brust vor bis zu den Knien, um seine Blöße zu bedecken und vielleicht ein wenig gegen die Kälte anzukämpfen, die aus seiner kalkfarbenen Haut Archipele unterschiedlichster Blaufärbungen hervorgelockt hatte. Erst, als er die Arme um die Beine legte, bemerkte er die Handschellen, die man ihm angelegt hatte.
„Frank.“
Das kam von links. Er blickte zur Seite. Sogleich kapriolten die Schmerzen wieder durch seinen Schädel.
Es war Claudia. Nackt. In fast der gleichen Haltung wie er. Sie trug den gleichen Handgelenksschmuck, nur dass sie ihr die Hände auf dem Rücken gefesselt hatten.
„Claudia.“
Das kleine Techtelmechtel blieb nicht ungehört.
„Ah, seht mal“, hörte er Haller sagen, „das Hausmeisterchen ist wach.“
Haller trat zu ihm und beugte sich herab.
„Wie geht’s uns denn?“
Nur eine rhetorische Frage. Haller wollte keine Antwort. Er streckte seine Hand aus und tätschelte behutsam Franks Wange.
„Weißte noch?“
tätschel
„Verarsch mich nicht noch mal, hab ich gesagt.“
tätschel tätschel
„Überleg mal, wie du uns alle verarscht hast. Du und die Nutte da.“
Haller sprach in einem leidenschaftslosen Vernunftston, der Frank die Kehle zuschnürte. Die Nummer kannte er noch gut, von seinem Vater. Bei einem Vergehen in einlullender Geduld die tausendundeins Erziehungsgebote deklamieren, mit der liebenden Hand über den Scheitel des ungezogenen Bengels streicheln – unterdessen lauerte die andere, kräftigere Hand nur darauf, selbst den geringsten Widerspruch („Wag dich und sag ein Wort!“) oder, noch frecher, das zerknirschte Schuldeingeständnis („Still! Du hättest vorher dran denken sollen!“) des kleinen Missetäters stummzuprügeln.
„Kommst an den Haken, hab ich gesagt.“
Franks väterliche Konditionierung ließ keine Verteidigungsrede zu.
„An den Haken“, wiederholte Haller. „Red’st nicht mit jedem, nä?“
Niemand hängt einen anderen einfach so an den Haken, sagte sich der Mucksmäuschenfrank, dem das Herz aus dem Hals springen wollte. Ein kleiner Angstmacher war er, der Haller. War wohl nicht gut um sein Selbstwertgefühl bestellt, dass er solche Sprüche klopfen musste.
„Na, mir isses wurscht“, sagte Haller, stutzte einen Moment und lachte dann laut auf. „Hey, ist der nicht gut? Im Schlachthaus ist mir alles wurscht. Das ist doch wohl ...“
„Haller!“, fiel Evita ihm scharf ins Wort.
Der Schlachter brummte missmutig und richtete sich auf.
„Gut, fangen wir an“, sagte er und nickt Andrej zu.
Der Russe trat mit dem Stativ einige Schritte zur Seite und justierte die Kamera.
Evita ging derweil zum Tor und zog es auf. Ein Schwall kühler Abendluft schwappte herein.
„Wir sehen uns im Büro“, sagte sie noch, dann war sie schon hinaus und das Tor wieder zu.
Haller griff in die Tasche seines Kittels und streifte sich eine Gummimaske über – es war das pausbäckige Karnevalsgesicht eines grinsenden Schweines.
„Keine blöden Großaufnahmen“, feixte er zu Andrej hinüber, seine Stimme dumpf unter dem starren Schweinegrinsen. „Bereit?“
„Bereit“, antwortete Andrej und drückte den Aufnahmeknopf.
Haller durchmaß den Raum mit stapfenden Schritten. Andrej folgte ihm mit einem Kameraschwenk.
Neben Frank strampelte Claudia mit den Beinen, aber ihre Fersen fanden auf dem glatten Boden keinen Halt.
„Hilfe!“, schrie sie gellend.
Der Schrei und die Aussicht, tatsächlich am Haken zu enden, brachte endlich Schwung in Franks Stimmbänder.
„Lass mich!“, bettelte er zum Schlachterschwein hinauf.
Warme Flüssigkeit umspülte seinen Sack.
„Das Hausmeisterchen ist nicht stubenrein“, kommentierte Haller.
„Geh weg!“
„Nein.“
Das Schweinegesicht neigte sich tiefer. Es hatte Hallers blaue Augen.
„Hätt’ dich wirklich gern am Haken geseh’n“, sagte das Schwein. „Hast echt Glück.“
Damit tat es einen Schritt zur Seite, packte Claudia bei den Knöcheln und schleifte sie rüber zum Kettenzug.
Kameraschwenk Andrej.
Frank blieb schluchzend an der Wand zurück, die Finger wie zum Gebet ineinander verschränkt, aber das war allein den Handschellen geschuldet.
Claudia lag schreiend auf dem Rücken, keilte in rasender Folge nach Haller aus. Der war anderes Schlachtvieh gewöhnt, weitaus schwerer, mit Kuhhufen bewehrt – dagegen die emsigen Fußsohlen hier: lächerlich.
Mit raschen, routinierten Handgriffen verbrachte er Claudias Füße in die Klemmvorrichtungen der Querstrebe.
Die Schmerzen machten sie rasend. Ihr Kreischen steigerte sich zum schrillen Geheul. Nicht menschlich, diese Stimme, ja, nicht mal mehr tierisch.
„Hör auf!“, glaubte Frank zu rufen, aber er brachte bloß ein Krächzen heraus, das in der Kakophonie unterging.
Er hatte bis zuletzt auf die Barmherzigkeit des Schlachters gesetzt, auf das Ätschi-Bätschi-Ende eines brutalen Scherzes gehofft. Jetzt aber, da es Claudia unbestreitbar ans Leben gehen sollte, rauschte Adrenalin in einer Flutwelle durch seine Venen, steigerte seine matten Kräfte für einen kurzen Moment ins Herkulische. Er schoss förmlich hoch auf die Füße. Ehe noch Andrej oder Haller reagieren konnten, war er schon unter irrem Gebrüll zum Tisch gelaufen und schnappte sich eine Klinge. Wegen der Handschellen hielt er das Messerheft mit beiden Händen. Er wirbelte herum, ein nackter Samurai mit einem Kinderschwert. Das alles ging so rasch vor sich, dass Haller kaum Zeit fand, dem Messer auszuweichen – er tat einen Ausfallschritt und hob dabei schützend den linken Arm. Die Schneide verfehlte seinen Hals und fuhr ihm ins Fleisch des Oberarms.
Die Schreie des Schweins mischten sich ins übrige Geheul. Es war, als wären die gemarterten Seelen aus dem Fegefeuer in diesen Raum gefahren, und eine jede klagte ihre Pein: das Grausen vor viehischem Tod; der Wahnsinn, der sich in die Schädeldecke krallte; die Wut, von Schmerz durchsaftet.
Einzig Andrej blieb ruhig. Er verließ seinen Regisseursposten, riss Frank das Messer aus der Hand und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, dass dieser bis zur Wand zurücktaumelte, wo er stöhnend zu Boden rutschte.
Haller tobte.
„Der Sauhund hat mich geschnitten!“, schrie er und schlug zur Beweisführung mit der rechten Hand auf die durchtrennte Stelle seines Shirts, die sich allmählich rot färbte. Aber mehr war es auch nicht – bloß ein Schnitt, der ein bisschen Blut hervorlockte.
Andrej kniete sich neben Frank und nahm ihn in den Schwitzkasten. Die Ellbogenbeuge klemmte Franks Kehlkopf ein, raubte ihm den Atem, lähmte sein ohnehin sinnloses Gestrampel.
„Mach das noch mal, und ich brech dir den Hals“, versprach Andrej. „Du guckst einfach zu und hältst die Fresse.“
Haller lief derweil wie wildgeworden auf und ab, Mordlust in seinen Augen unter der Maske. Aber irgendetwas hielt ihn davon ab, seine Rachsucht in die Tat umzusetzen. Seine Wut konzentrierte sich auf Claudia, die ohne Unterlass schrie.
„Halt endlich die bekackte Schnauze, du blöde Kuh!“ Er nahm die Rolle Paketband vom Tisch, riss einen Streifen ab und klebte Claudia den Mund zu.
Es wurde ruhig im Schlachtraum, nur Claudias hyperventilierendes Schnaufen war noch zu hören.
„Mach weiter!“, befahl Andrej. „Der Kunde wartet.“
Der Kunde?, dachte Frank. Welcher Kunde?
„Dir hat er ja nicht den Arm versaut“, klagte das Hallerschwein. „Was is’ mit dem Film? Du und dieser Mistarsch wart beide im Bild.“
„Ich schneid’s später raus. Mach jetzt.“
Haller betastete noch einmal seine Wunde, dann nahm er das Bedienpult des Kettenzugs und drückte einen Knopf. Summend lief der Motor an. Langsam zogen die Kettenglieder die Querstrebe in die Höhe, und mit ihr Claudia. Als sie in der Luft hing – die Arme auf dem Rücken fixiert, die Beine bis an die Dehnungsgrenze gespreizt –, wand sie sich hin und her, wie eine Entfesselungskünstlerin, die vergeblich versuchte, sich an diesen unglaublichen Befreiungskniff zu erinnern.
Haller holte einen länglichen, runden Gegenstand vom Tisch. Das Schwein nickte Frank grinsend zu.
„Ist ’n Bolzenschussapparat“, erklärte Haller, als befände er sich auf einer Fachtagung der Schlachterinnung. „’s gibt drei Arten von Bolzen: penetrierend, stumpf und einen, der Gas einbläst. Der hier ist stumpf.“ Er hielt sich den Apparat demonstrativ an die Schweinestirn. „Dringt nicht ins Hirn. Betäubt bloß.“
Frank verspürte einen neuerlichen Entleerungsdrang, aber es war schon alles raus aus ihm. Er saß einfach da, vom Grauen und dem Russen innig umarmt, und beglotzte Hallers Auftritt.
„Bolzenschuss muss sein“, führte Haller weiter aus, während er nah an Claudia herantrat. „Steht in der Tierschutzschlachtverordnung. Kannste nachlesen, wenn du’s nicht glaubst.“
Frank hätte ihm alles geglaubt, wenn er nur Claudia gehen ließe. Bitte, lass sie doch gehen. Tu ihr nichts, ja? Lass sie einfach vom Haken, und wir gehen alle heim. Niemand wird was erfahren. Großes, großes Ehrenwort!
O Gott! Bitte, Haller!
„Der Apparat wird senkrecht zur Stirnfläche angesetzt“, sagte Haller. „Denk dir ’ne Linie vom Hornansatz zum gegenüberliegenden Auge. Dann vom anderen Horn zum anderen Auge. Wo die Linien sich kreuzen, setzt du den Apparat auf. Ungefähr hier.“ Er griff nach Claudias herabhängendem Haar, hielt ihren Kopf fest und setzte das Bolzenschussgerät auf ihre Stirn. „Gehör’n natürlich ’n paar Fingerspitzen dazu, die richtige Stelle zu finden, die blöde Kuh hat ja keine Hörner.“
Ein kurzer Druckluft-Plopp. Claudias Kopf wurde nach hinten getrieben, zog den Körper nach und ließ ihn vor und zurück schwingen. Ihre Muskulatur erschlaffte. Das Schnaufen hörte auf.
„Höchstens ’ne Minute zwischen Betäubungsschuss und Entblutungsschnitt“, sagte Haller, während er zum Tisch trat und das Bolzenschussgerät gegen zwei Schlachtermesser tauschte. „Is’ Vorschrift.“
Frank schloss die Augen und heulte wie ein Kind. Er wünschte sich, taub zu sein, aber das grausige Hörspiel lief weiter.
„Erster Schritt: Eröffnung der Haut.“
Er flüchtete in Gedanken auf eine Sommerwiese, aber die Blumen darauf waren verwelkt, manche bereits in Fäulnis übergegangen. Ein grinsendes Schwein rumpelte auf einem Rasentraktor über die Wiese und schnitt die Halme entzwei; wo die Halme fielen, tränkte sich der Boden mit Blut.
„Das is’ jetzt immer Fummelei ... Durchstich hinter der Kehle ... genau zwischen Luftröhre und Wirbelsäule ... na, komm schon ... da liegen die Biester ... Halsschlagadern auf beiden Seiten ... passt ...“
Nur ein kleiner Wasserfall, der da plätschert, versuchte Frank sich einzureden.
„Der Sack hat die Augen zu“, beschwerte sich Haller. „Verdammt, sorg dafür, dass der sich das hier beguckt!“
Andrejs Atem blies ihm ins Ohr. „Mach die Augen auf!“
Frank gehorchte.
Da hing Claudia. Kopfüber am Kettenzug. Träge schaukelndes Schlachtfleisch. Perfekt gesetzter Zwillingsschnitt am Hals. So viel Blut. Zweistromblut. Läuft durch den Abfluss im Boden. Platscht in den Tank darunter.
Haller durchschneidet ihr vollends die Kehle. Noch mehr Blut. Er trennt den Kopf vom Rumpf. Hackt mit einem Beilmesser die Oberarme ab. Jetzt die elektrische Säge. So laut, so grässlich laut. Beginnt bei der Scham. Arbeitet sich nach unten durch. Bauchdecke auf. Brustkorb auf. Die Füllung fällt raus: plumps, plumps, plumps. Organe. Gedärmeschlingen. Der Magen.
Bewundere das Schwein. Wär absolut nichts für mich, so’n Schlachterjob. Glaub, ich müsst kotzen dabei.
Später dann: Andrej. „Fertig?“
„Fertig.“
„Dann rüber zum Kunden.“

Andrej führte Frank in den Raum hinter der Metalltür.
Endlich, dachte Frank erleichtert, ich hab so Hunger. Will bloß noch nach Hause und unter die Dusche.
Andrej drückte ihn bäuchlings auf einen Tisch hinab.
„Richtig so?“
Na klar war das richtig. Bisschen ausruhen von den Strapazen.
„Ja, das ist gut“, antwortete eine Männerstimme.
Ach, er war gar nicht gemeint.
„Einen frischeren Jahrgang hatten Sie nicht?“, erkundigte sich der Mann.
„Derzeit nicht“, hörte Frank Andrej sagen.
An der Tischplatte vorbei sah er ein Beinpaar, das in einer anthrazitfarbenen Anzughose steckte. Die Hose stülpte sich über schweineteuren Schuhen. Hallerschuhe. Guter Witz, fand er. Muss ich unbedingt morgen Claudia erzählen.
„Soll ich’s aufnehmen?“, wollte Andrej wissen.
„Ja, bitte. Dieses erste Mal will ich nicht vergessen.“
Eine Hand wuschelte durch seine Haare, streichelte seine Stirn. Die Hand war parfümiert.
Schritte, die sich entfernten.
Also, diese liebkosende Hand, die roch wirklich gut.
Schritte, die zurückkamen.
„Mit Gesicht?“
„Ohne“, kam die Antwort mit Bedauern. „Man weiß ja nie.“
Ein kurzes Geklapper.
„Aufnahme?“
„Aufnahme. Holen Sie Haller, dann gehen Sie bitte.“
Schritte, die sich entfernten.
Wären doch bloß seine Handschellen nicht gewesen, er hätte nach dieser duftenden, ihn zärtlich erforschenden Hand gegriffen.
Schritte, die zurückkamen.
„Wohin damit?“
„Hierhin, bitte.“
Eine Hand, nicht die schöne, duftende, sanfte Hand, eine behaarte Schwielenhand legte ein Messer auf die Tischplatte. Die Klinge glänzte rot.
„Sie setzen den Schuss und warten dann bitte draußen.“
Ein blutbefleckter Kittel geriet in sein Blickfeld. Er verdrehte die Augen und schaute hoch zum Schwein.
„Hallo Schwein“, sagte Frank und lächelte versonnen.
Das Schwein grinste wortlos zurück.
Die zärtliche Hand wurde fortgenommen. Das Schwein drückte ihm einen kühlen Metallmund an die Stirn.
„Nicht aufhören“, jammerte Frank der Hand hinterher.
Ein Druckluft-Plopp.
Das Schwein verschwand in der Dunkelheit. Meeresrauschen brandete durch Franks Ohren. Hier hatte er immer hingewollt: ans Meer. Das Meer und diese Hand – konnte ein Tag bezaubernder enden?
Jemand zog sich aus an diesem nachtschwarzen Strand. Durch die Brandung hindurch hörte er das Klappern seiner Gürtelschnalle. Es war der Handmann, der Treue, der Gute. Er konnte ihn erschnuppern. Der Handmann trat hinter ihn und drückte ihm sanft, unendlich sanft die Beine auseinander.
Heißes, pulsierendes Fleisch glitt durch den Spalt seiner Hinterbacken. Der Handmann beugte sich über ihn.
Dann war sie endlich, endlich wieder da, diese Hand, die so köstlich duftete. Er hätte vor Freude weinen mögen, allein er konnte es nicht. Er konnte nur liegen. Schweben. Träumen.
Die Hand hielt ihm etwas an die Kehle, hart, scharf; es ließ eine Ahnung von Schmerz in ihm anklingen, aber dieser Hand hätte er alles verziehen.
Dann machte die Hand eine rasche Bewegung, und dabei wirbelte sie ein Bouquet auf, dass ihm tausend Sterne vor den Augen tanzten.

 

hallo ihr beiden,

Zudem kommt, dass die Erzählung immer mehr aus dem Bereich des Möglichen driftet und es dem Leser ab einem gewissen Punkt zu viel wird. Das heißt nicht, super Geschichte, scheiß Schluss. Das heißt: Super Geschichte, die besten Stellen finden sich nicht am Ende.
>>> das würde ich mit unterschreiben.

petdays, auch ein fan dieser geschichte, sich aber eine überarbeitung des schlusses wünschend

 

Tach petdays und steinbeisser (habt ihr keinen Anfangsbuchstaben-Großmach-Pinöppel auf der Tastatur?) und M. Glass,

@petdays

Auch finde ich, dass er zu schnell Claudias Tod für sich akzeptiert. Er müsste vor Horror total fertig sein etc. etc.
Er ist total fertig, besser gesagt: verrückt geworden. Das wollte ich nicht plakativ hinschreiben, also z.B.: „Dieser Anblick raubte ihm den Verstand / Als Frank das sah, wurde er verrückt“. Vielmehr habe ich versucht, sein Meschuggesein zu „zeigen“, durch Bemerkungen wie:

Bewundere das Schwein. Wär absolut nichts für mich, so’n Schlachterjob.
oder
Endlich, dachte Frank erleichtert, ich hab so Hunger.
oder
Guter Witz, fand er. Muss ich unbedingt morgen Claudia erzählen.

Dass er nach Claudias/Clarissas Zerstückelung diese scheinbar normalen oder rationalen Gedanken hat, sollte ein Hinweise darauf sein, dass es ihm das Oberstübchen leergeräumt hat. Wenn du das nicht so wahrgenommen hast, verstehe ich auch deine Frage, ob Claudia denn nun tot sei oder nicht. Aber ich glaube, es ist deutlich genug, und möchte es daher nicht ändern oder gar erweitern durch erklärende Anhängsel wie „Aber Claudia war ja tot“.

Die parfümierte Hand als Bild fand ich gut und erschreckend, nur hatte ich sie auf jeden Fall weiblich konnotiert und das hatte ich nicht in den Gesamtzusammenhang einordnen können. Vielleicht fügst du noch ein Detail hinzu, dass man an einen Herrenduft denkt. Das fände ich leserfreundlicher.
Den Einwand kann ich verstehen – obwohl heute komplette Pflegeserien für Männer angeboten werden. Ich werde da etwas ergänzen, weiß momentan noch nicht, was. Aber bis morgen … oder übermorgen …ich überlege mir etwas.

Vielleicht bleibt Claudia auch für ihn Clarissa, weil er den Namen mehr mag/ zuerst mit ihr assoziiert hat / ihn passender findet etc. etc.
Darüber hat – glaub ich – schon ein anderer Kritiker gemoppert. Verwirrung ist doof. Ich ändere es. Claudia bleibt nun auch für ihn komplett Clarissa.

Manches kann ja zunächst rätselhaft erscheinen, wie die parfümierte Hand. Das finde ich geheimnisvoll. Aber zumindest erwarte ich, dass der Held sich auch dazu Gedanken macht und ich nicht als Leser "alleine rätseln muss".
Der Punkt ist, dass Frank sich dazu keine sinnvollen Gedanken mehr machen kann. Er ist wahnsinnig geworden. Die Hand soll durchaus rätselhaft bleiben. Da ist halt ein Kerl, der Frank anal aufbockt und ihm in diesem Moment die Kehle durchschneidet – erzählt aus Franks Sicht. Deshalb auch der „gehetztere“ Schreibstil am Ende.

Kleine Wiederholungen finde ich oft besser, als wenn man vom Leser zu viel erwartet. Z.B. zeichnen sich auch Meister der Horrorgeschichte wie P. Wilson gerade durch solche Dinge aus: klare, kraftvolle Sprache, schöne Bilder, sehr hohe Leserfreundlichkeit (z.B. auch durch WdH!!) etc.
Das ist es wohl, was Wolf Schneider mit „positiver/notwendiger Redundanz“ meint.
Du sprichst da etwas an, das mich seit geraumer Zeit beschäftigt: Welchen typischen Leser soll/darf man voraussetzen? Welche Aufmerksamkeit darf man von diesem erwarten? Und lohnt es, Zeit und Energie für die Verbesserung des Schreibstils aufzuwenden? Nimmt ein durchschnittlicher Leser sprachliche Feinheiten überhaupt wahr, oder will er einfach nur eine spannende Geschichte lesen?

Wohlgemerkt, ich meine nicht die Mitglieder von kg.de – hier beschäftigen sich viele mit dem Schreiben und der Sprache und lesen folglich anders als der gemeine Leser. Die Leseproben vieler „Bestseller“ sind da wahre Augenöffner. Sprachlich mitunter auf dem Niveau eines Schulaufsatzes, verkaufen sich aber wie blöde.


@steinbeisser

als pitzzabote bin ich schon in ein paar bordelle gekommen
Das klingt nach 'nem arschvoll erzählenswerter Erlebnisse. Mit doppelt Kuppenkäse, hm?

weiter so
Jau.


@ M. Glass

Auch geht es nicht um die zweite Hälfte, sondern um den Schluss, das Finale. Hier stecken nicht mehr so viele Details drin, jedenfalls keine liebevollen und stimmigen.
Wie grad schon erwähnt: Der Stil“bruch“, wenn es denn ein solcher ist, war beabsichtigt. Es sollte kürzer, abgehackter werden. Nehmen wir mal Clarissas Schlachtung: Hier eine „liebevolle“ Schilderung zu wählen, erscheint mir unpassend. Ich habe die Szene aus Franks Sicht erzählt, und der dreht in diesem Moment am Rad. Für mich war die Frage: Wie nimmt er das Geschehen wahr, in seiner Situation? In gewählten Sätzen oder atemlos, panisch, letztlich entrückt, so eine Art geistiger Fluchtreflex?
Oder die Szene, als Frank an der Reihe ist: Fändest du es wirklich besser, wenn das alles mit Weitwinkel aufgezeichnet wäre? Ich mein, Frank liegt da, verrückt geworden, er weiß nicht, was ihm da geschieht, er hat sich vielmehr in eine Scheinwelt zurückgezogen und denkt und redet wirres Zeug. Das finde ich passender als eine detailreiche Beschreibung. Diese Nahaufnahmen machen es für mich grauenvoller.

Zudem kommt, dass die Erzählung immer mehr aus dem Bereich des Möglichen driftet und es dem Leser ab einem gewissen Punkt zu viel wird.
Hier verstehe ich nicht, was du meinst. Es ist doch eine real mögliche Geschichte. Kein Monster, kein Abrakadabra, keine Höllenkreise, nüscht. Ein Schlachthaus, ein Schlachter, die handelsüblichen Werkzeuge, appe Beine, appe Köppe. Es könnte so geschehen. Was meinst du genau mit „die Erzählung driftet immer mehr aus dem Bereich des Möglichen“?

Nach wie vor bin ich der Meinung, dass der von mir gewählte Schluss – oder die Art, diesen zu schreiben – passend ist. Soll nicht heißen, dass ich mich nicht überzeugen lasse, aber mir ist noch nicht klar, was du und auch petdays da kritisieren. Den Schluss mehr aus der Sicht des auktorialen Erzählers schreiben? Wäre für mich der einzig denkbare Weg, denn einen ruhigen und ausführlichen Erzählfluss aus Franks Sicht kann ich mir nicht vorstellen – das würde so gar nicht zu seiner geistigen Verfassung passen.


Großen Dank jedenfalls für eure intensive Beschäftigung mit der Geschichte.


Auf bald,
Some

 
Zuletzt bearbeitet:

hallo some,

Und lohnt es, Zeit und Energie für die Verbesserung des Schreibstils aufzuwenden? Nimmt ein durchschnittlicher Leser sprachliche Feinheiten überhaupt wahr, oder will er einfach nur eine spannende Geschichte lesen?

ich würde mit ja antworten.

viele horrorerzählungen wie z.b. in "necrophobia" sind nicht nur vom plot sehr spannend, sondern auch literarisch spannend. die kombination ist einfach unwiderstehlich. und warum sollte ich auf ein solch erfolgreiches konzept wie "doppelspannung" verzichten wollen?!

deine geschichte hat mir gerade - auch - aufgrund der schreibweise spaß gemacht zu lesen. das war für mich, um beim doppel zu bleiben, ein doppelgenuss. :) ;)

Anschaulichkeit. Leserorientiertes Schreiben. Für mich ein wichtiges Kriterium. Schnell überliest man das eine oder andere. Ein paar kleine wiederholungen müssen nicht schaden, sondern können - vorausgesetzt, sie sind geschickt eingesetzt- den lesegenuss sehr erhöhen.

als leser fühlt man sich einfach besser aufgehoben, besser "geführt".
und der autor hat den vorteil, dass er kaum einen leser "verliert".

mir selber fallen diese dinge - leider - auch oft schwer. aber gerade bei meinen längeren texten wie z.b. in dieser rubrik "thai lucky plant" habe ich an diesem punkt sehr lange gearbeitet.

bezogen auf deine geschichte, hatte ich, wie schon erwähnt, im ersten teil das gefühl, sehr gut geführt zu werden. wie im tango, gute führung ist alles. ;) :)

im zweiten teil habe ich nicht mitbekommen, dass dein prot wahnsinnig geworden ist. eher hatte ich den eindruck, dass die geschichte mich trotz sorgfältiger formulierungen nicht mehr richtig "mitnimmt", dass ich "aussteige", probleme habe, allem zu folgen und alles zu glauben. da wäre mir ein auktorialer erzähler in diesem fall lieber.

den witz für die tote claudia habe ich demnach tatsächlich *nur* als flüchtigkeitsfehler interpretiert, denn vorher kam mir frank nicht wahnsinnig vor. ich finde, das abdriften in den "wahnsinn" solltest du doch schon vor dem witz erwähnt haben.

ich habe schon verstanden, wie du das ende konzipiert hast. klar, das hat seinen eigenen reiz. und ist ansonsten auch makellos formuliert. aber es war mir in diesem fall "zu anstrengend", oder genauer: nicht motivierend genug, um mich so viel anzustrengen.

wahrscheinlich hast du dir deine leser mit dem sehr leserfreundlichen, spannenden , humorvollen ersten teil "falsch erzogen". :D

ich denke, wenn du den "wahnsinn" kurz erklären könntest, so dass man manches nicht für fehler hält, wäre schon viel gewonnen.


schöne grüße petdays

 

Tach petdays,

viele horrorerzählungen wie z.b. in "necrophobia" sind nicht nur vom plot sehr spannend, sondern auch literarisch spannend. die kombination ist einfach unwiderstehlich. und warum sollte ich auf ein solch erfolgreiches konzept wie "doppelspannung" verzichten wollen?!
Unwiderstehlich. Stimm ich dir zu. Aber gilt das auch für viele andere Leser?

Mal ein Beispiel: Ich hab mir vor einigen Monaten die Leseprobe eines Buches „gegönnt“, das von einem deutschen Autorenehepaar geschrieben wurde; ein schlampiger Übersetzer hat's also nicht verbockt. Die Geschichte handelt von, nun, lass es mich so sagen – von einem reiselustigen Freudenmädchen aus lang vergangenen Tagen. Die Dialoge: absolute Grütze! Und schon zu Beginn wird man auf wenigen Zeilen nachgerade zugeschissen mit Formulierungen wie „leuchtende Knopfaugen“ (na klar, 'n Teddy mit Lämpchen im Schädel), „seelenvoller Augenaufschlag“ (das ist toll – im Wortsinne), „kornblumenblauen Augen“ oder, na, was wohl, wenn die Äuglein weder leuchten noch selig aufditschen noch kornblumenblau sind – hier, nimm das: ein „sanft geschwungener Mund, rot wie Mohn“. Wo bleibt der an Hepatitis erkrankte Stallbursche mit 'ner Visage gelb wie Appenzeller?
Ach, und das hier: „Über ihren sanft gerundeten Hüften spannte sich eine schmale Taille, gekrönt von Brüsten, die gerade die Größe zweier saftiger Herbstäpfel hatten.“ Die schmale Taille spannt sich? Warum bloß? Theater mit dem Stuhlgang? Und diese Taille wird also gekrönt (gekrönt!) von Brüsten? Möpse bis runter zur Taille? Weia. Doch halt, sie haben ja gerade die Größe von saftigen Herbstäpfeln. Saftig! Beiß einer da rein, und ihm tropft der ganze Apfelschmodder vom Kinn. Wenn ich mir die so beschriebene Tante vorstelle, werde ich geistig wund.
Und diese Sprachperlen sind in der Leseprobe auf elf Zeilen verteilt. Das ist ein Gedränge, das ist nicht auszuhalten. Aber so lesen sich Bestseller.

So, genug gekräht.

Anschaulichkeit. Leserorientiertes Schreiben. Für mich ein wichtiges Kriterium. Schnell überliest man das eine oder andere. Ein paar kleine wiederholungen müssen nicht schaden, sondern können - vorausgesetzt, sie sind geschickt eingesetzt- den lesegenuss sehr erhöhen.
Ja ...

als leser fühlt man sich einfach besser aufgehoben, besser "geführt".
und der autor hat den vorteil, dass er kaum einen leser "verliert".
Ja doch! :D
Ernsthaft: Ich achte beim Schreiben darauf, die Leser nicht abzuhängen. Aber vor lauter Betriebsblindheit kann das schon mal in die Hose gehen.

mir selber fallen diese dinge - leider - auch oft schwer. aber gerade bei meinen längeren texten wie z.b. in dieser rubrik "thai lucky plant" habe ich an diesem punkt sehr lange gearbeitet.
Schau ich mir in den nächsten Tagen mal an, wenn ich ein bisschen Luft habe.

im zweiten teil habe ich nicht mitbekommen, dass dein prot wahnsinnig geworden ist.
Sch...ade!

da wäre mir ein auktorialer erzähler in diesem fall lieber.
Wenn es um Perspektivwechsel geht, mach ich mir sonst nicht so schnell in den Schlüpper, aber in dieser Geschichte wäre mir das ein zu harter Bruch.

Ich habe das Ende noch mal aufgrund deiner Anmerkungen und die der anderen durchgelesen. Was ich nicht ändern werde, ist der letzte Abschnitt, also die Szene mit dem „Handmann“ (die Sache mit dem Parfüm werde ich aber noch verdeutlichen).

Die Szene im Schlachtraum überarbeite ich allerdings noch einmal. Ich werde es ausführlicher machen, insbesondere ab dem Moment, in dem Clarissa „an den Haken kommt“. Dann werde ich auch Franks Wahnsinn deutlicher zeigen.

Aber der letzte Abschnitt bleibt. So! :)

Die Überarbeitung kann durchaus ein paar Tage dauern. Hab viel zu erledigen im Moment.


Nochmals: Großen Dank für die wertvollen Hinweise, die Mecker und das Lob.


Auf bald,
Some

 

Hey Somebody!

Wow, 43 Kommentare. Da wurde wahrscheinlich schon alles gesagt, aber wenn ich schon einen so langen Text lese, dann will auch ein paar Zeilen hinterlassen.

Vor einigen Tagen begann ich mich zu fragen, warum plötzlich wieder alte Geschichten kommentiert wurden, so zum Beispiel deine. Und dann dieser Titel: Nekroblissment. Bäh. Alles, was "Nekro" im Titel hat schreckt mich irgendwie ab. Necronomicon, Nekromant - das Wort ist einfach zu klischeebeladen. Ok, "Nekroblissment" ist ein netter Hinweis auf ein Bordell, aber dennoch.
Nachdem ich dann das mit den Top 2011 gepeilt hatte, war ich aber doch neugierig - immerhin sollte es eine der Besten 2011 sein!

Und dann gings los ...
Oft frage ich mich, warum gewissen Geschichten empfohlen werden. Das ist manchmal einfach nicht gerechtfertigt - aber hier ist es das zweifellos!

Trotz seiner Länge langweilt der Text nie und hält einen immer bei der Stange, weil jeder Satz und jeder Abschnitt wirklich einen Sinn hat.

Das Milieu hast du hervorrangend beschrieben. Das Bordell, die Huren, die Freier - es wirkt immer glaubwürdig, ohne in Klischees abzudriften.

Die Charaktere: Sie sind wirklich gut gezeichnet. Du hast ihnen nicht einfach ein paar Eigenschaften verpasst, sondern sie definieren sich wirklich durch ihre Handlungen. Sie sind immer nachvollziebar und absolut unverwechselbar. Sogar ohne Namen kann man sie nur anhand der Dialoge unterscheiden, weil jeder eine eigene Art zu sprechen hat.
Der treudoofe Frank und seine unschuldige Schwärmerei für Claudia.
Evita, die über die Jahre immer härter geworden ist, um schlussendlich für den Erfolg über Leichen zu gehen.

An so Kleinigkeiten wie den Citraten merkt man, dass du gründlich recherchiert hast. Die Dialoge und das ganze Setting sind voll ausgereift.

Nur zweimal bin ich ins Stocken geraten: Einmal, als das mit den Leichenwürmern kam. Die Stelle wirkt irgendwie bemüht und unbeholfen, so hätte das unbedingt noch reingemusst.
Das zweite mal am Ende, als es plötzlich auf Torture Porn alá Hostel hinauslief.
Da dachte ich: "Die ganze lange schöne Geschichte ... dafür?"
Aber Franks Weicheiabgang, der einfach herrlich zu dem duckmäuserischen Charakter passt, entschädigt.

Was du hier geleistet hast, ist große Textarbeit, und die Empfehlung ist voll gerechtfertigt.


MfG
Tim

 

Hallo,

hab die Geschichte im Rahmen der Top-2011-Abstimmung gelesen. Sonst ist Horror nicht so meine Sache. Ich war aus ziemlich geplättet, vor allem vom Schluss der Geschichte, aber das ist halt so weil ich eben mit Horror an sich nicht so viel anfangen kann. Vor allem wenn alles immer irgendwie in einem Blutbad endet. Vermutlich muss man für Horror dieser Art wirklich speziell konditioniert sein, so wie die meisten deiner Kritiker, die ja (bis auf eine Ausnahme, glaub ich) deine Geschichte grandios finden. Nichts für ungut.

Ich hab dann auch einige Kommentare gelesen, vor allem deinen Disput mit Katla (oder ihren mit dir ;) ) und von da an bin ich völlig ausgestiegen, weil ich es irgendwie nicht nachvollziehen kann, wie man Spaß am Beschreiben solcher Schlachterszenen wie am Schluss haben kann. So wie ich es auch nicht verstehe, wie Leute Spaß haben können, auf Scheiben zu schießen, das als Sport bezeichnen, und wenn dann einer aus ihren Kreisen einen Amoklauf begeht und danach Leute eine Verschärfung der Waffengesetze fordern, diese Minderheit von Schützenlobbyisten sich aufregen, dass man ihnen ihren „Sport“ kaputt machen und ihre Existenzgrundlage rauben würde. Sorry – ich schweife jetzt total ab, aber das zeigt halt nur, wie fremd mir solche Nischen-Welten sind. Nochmal - nichts für ungut.

Wollte halt die Geschichte lesen, um sie fair gegen die anderen aus der Top-2011-Liste vergleichen zu können, was ich damit auch getan habe. Mehr kann ich dazu leider nicht sagen.

Grüße

Fred B

 

Tach zusammen,

entschuldigt bitte die recht späte Antwort auf eure Kommentare. Bin einfach nicht früher dazu gekommen.

@ Rabbit

Wow, 43 Kommentare.
Jau. Hätte ich allein schon wegen der Länge der Geschichte nie erwartet.

So, und jetzt muss ich dir allein deswegen danken:

Nachdem ich dann das mit den Top 2011 gepeilt hatte, war ich aber doch neugierig - immerhin sollte es eine der Besten 2011 sein!
Das hatte ich ebensowenig gepeilt. Ich war im letzten Jahr kaum aktiv auf der Seite und hätte nicht im Traum daran gedacht, mit dieser Geschichte überhaupt auch nur in die Abstimmung zu gelangen. Danke dir fürs Draufstoßen, und danke allen Vorauswählern, die das Teil aus der Menge der Geschichten gefischt haben.

Die Charaktere: Sie sind wirklich gut gezeichnet.
Hey, das ist das größte Lob, das du mir aussprechen kannst. Die Charakterzeichnungen sind in fast allen meinen Geschichten das Wichtigste. Ob es immer klappt, steht auf einem anderen Blatt, aber bei den Figuren gebe ich mir die größte Mühe. Freut mich sehr, was du da schreibst.

An so Kleinigkeiten wie den Citraten merkt man, dass du gründlich recherchiert hast. Die Dialoge und das ganze Setting sind voll ausgereift.
Citrate, genau. Wusste ich vorher nicht. Volltreffer. Bei meinen Recherchen habe ich mir auch die Schlachtung einer Kuh angesehen. Das war hässlich. Verdammt hässlich.

Einmal, als das mit den Leichenwürmern kam. Die Stelle wirkt irgendwie bemüht und unbeholfen, so hätte das unbedingt noch reingemusst.
Ich hatte tatsächlich das Gefühl, das unterbringen zu müssen. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an das erste Mal, als ich davon gehört habe – mir wurde für einen Moment ziemlich flau im Magen. Es ist wohl nur ein Schauermärchen, aber allein die Vorstellung: Mannomann. Das sollte auf jeden Fall mit rein. Unbeholfen? Aua! :D

Was du hier geleistet hast, ist große Textarbeit, und die Empfehlung ist voll gerechtfertigt.
Ganz großen Dank nochmals. Das motiviert und ist ein satter Punch in die Fresse der manchmal überlauten Selbstzweifel.


@ Resi

Vermutlich muss man für Horror dieser Art wirklich speziell konditioniert sein
Gestatte, dass ich während dieser Antwort meine Hauer in das frisch gerissene Kitz schlage. :D

weil ich es irgendwie nicht nachvollziehen kann, wie man Spaß am Beschreiben solcher Schlachterszenen wie am Schluss haben kann.
Es geht gar nicht so sehr um den „Spaß am Schlachten“ - sonst hätte ich die Geschichte damit vollstopfen können, bis das Blut nur so aus dem Forum spritzt.
Ich baue eine Geschichte nicht um möglichst grausame Szenen herum; wenn aber eine Geschichte auf eine solche Szene hinausläuft, dann schreibe ich es auch hin (jedenfalls bis an meine Schmerzgrenze). Alles andere fände ich verlogen.

Spaß am Schlachten? Es gibt ein schönes deutsches Wort, das es viel besser trifft: Angstlust. Beim Horror geht es um das zentrale Thema unseres Lebens, die einzige Gewissheit, die wir haben: die Vanitas, die Vergänglichkeit unseres Lebens, und damit das Sterben und den Tod. Hast du dich nie gefragt, wie das sein wird, wenn du stirbst? Welches Sterben dich ereilen könnte? Wie ist das, wenn man ertrinkt, verbrennt, verstümmelt wird, vom eigenen Körper allmählich gefressen wird? Was durchleidet man im Angesicht drohender Folter, um mal den Bezug zu meiner Geschichte herzustellen? Was ist das überhaupt: Folter?

Niemand muss so etwas lesen, natürlich nicht. Du kannst auch fragen, ob man so etwas schreiben muss. Ich für meinen Teil kann dir nur sagen: Ja. Nicht, weil ich ein durchgeknallter Typ bin, der sich nachts eine Eishockeymaske überstreift und Jungfrauen in den Häcksler stopft. Das Sterben beschäftigt mich in all seinen Facetten, weil ich ihm nicht aus dem Wege gehen kann. Irgendwann – wohl nicht mehr heute abend, wahrscheinlich nicht morgen, hoffentlich nicht übermorgen – aber irgendwann werden wir unseren letzten Atemzug tun, und dann bleibt nicht viel mehr von uns übrig als ein bisschen Fäulnissoße, von der die Würmer naschen. Und dafür das ganze Gerenne? Das kann ich nicht ausblenden, auch wenn ich nicht ständig daran denke.

Klar, ich kann das andere Extrem wählen und es mir mit Rosamunde Pilcher gemütlich machen. Ich kenne Menschen, die das tun. Die wollen nicht vom Leid lesen, vom Sterben, vom Tod. Ich wage mal (leicht überspitzt) zu behaupten, dass auch Pilcher-Geschichten Horror sind, und das meine ich ohne jeden hämischen Unterton. Da finden also, nach einer Reihe von Verwicklungen, die Liebenden einander. Hochzeitsglück am Rande einer Steilklippe an der Kanalküste. Und hier endet die Geschichte. Das ist in gewissem Sinne verlogen, denn was folgt, erfahren wir nicht, dabei geht es jetzt doch erst richtig los: Missverständnisse, Eifersüchteleien, Enttäuschungen, Geldsorgen, Krankheit. Ärger und Wut. Hass?

Vielleicht sähe die ganze Geschichte ja so aus, erzählt als Trilogie:
Band 1: „Sommer am Meer“
Band 2: „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“
Band 3: „Cornwall Chainsaw Massacre“

Vielleicht läuft der Märchenprinz irgendwann durch die Innenstadt, in der einen Hand den abgetrennten Kopf der Gattin, in der anderen ein blutverschmiertes Samuraischwert (das habe ich mir nicht ausgedacht).

Ich mag gemütliche Geschichten, durchaus, aber meist interessiert mich, was dahinter steckt, was danach kommt. Memento mori! Aber bitte ohne Weichzeichner.

Wollte halt die Geschichte lesen, um sie fair gegen die anderen aus der Top-2011-Liste vergleichen zu können, was ich damit auch getan habe. Mehr kann ich dazu leider nicht sagen.
Ich freue mich dennoch sehr über deinen Kommentar, grad weil Horror nicht dein Genre ist. Immerhin hast du das lange Teil gelesen. Das hätte ich mir bei einem anderen Genre wohl nicht angetan. Nee, 30 Seiten Liebesschmu … Gott bewahre.

Ach so, das noch:

So wie ich es auch nicht verstehe, wie Leute Spaß haben können, auf Scheiben zu schießen,
Also mir würde das sicher Spaß machen.

und wenn dann einer aus ihren Kreisen einen Amoklauf begeht und danach Leute eine Verschärfung der Waffengesetze fordern,
Ich bin gegen jeden privaten Waffenbesitz.

Wenn meine Antwort nur halb so konfus war, wie mein Schädel sich im Moment anfühlt, bin ich schon zufrieden für heut'.

So dann, ich muss … der Vollmond!

Auf bald,
Some

 

Hallo Some,
Eine Freude, das kritisieren zu dürfen. Eine gute Geschichte, der Spannungsbogen zuerst gemächlich, dann zum Schluss hin aber in Fahrt kommend:
Ich musste schon genau hinsehen und meine Sinne schärfen, um hier Schwächen zu finden, die da wären:
Der Anfang ist mir zu beliebig, zu unklar. Frank steht da ohne Eigenschaften und da mag ich Katla recht geben.
Bis ich mit Frank warm werde, vergeht die halbe Geschichte und ich muss ihm auch ankreiden, dass er beinahe ein Antihled ist und recht wenig zusammenbekommt, das macht ihn mitsamt seinen wenigen Eigenschaften bis zum Ende blass. Er hat ein paar gute Momente, dort wo er an seine Frau denket, die ihn verlassen hat und dann wo er sich in Clarissa verliebt. Mir scheint, du kontest dich nicht recht zwischen Helden und Antihelden entscheiden, und so bleibt Frank über weite Strecken recht beliebig. Da gefallen mir Evita und Andrej besser. Sie sind mit recht klaren Eigenschaften gezeichnet.
Die Bordellatmosphäre wirkt recht platt und die Figuren überraschen nicht wirklich. Das sieht nicht nach intensiver Recherche in der Szene aus ;)
Ich mag mich Ktlas Kritik am Inhalt nicht anschließen, weil ich finde, man sollte Kritik am Inhalt, die Subjektiv ist, mit Kritik an einer Kurzgeschichte, die Objektiv sein soll, nicht vermischen. So will ich zum Setting nur sagen, ja, es ist nicht besonders einfallreich, aber für den durchschnittlich interessierten Leser mag es reichen und mir sind keine groben Schnitzer aufgefallen.

Weiters habe ich ein Problem mit der Logik: Einmal: Warum nimmt sie Frank. Da s ist durchaus unplausibel. Dann muss er Putzfrau und Kurier in einem sein. DAs ist für mich auch nicht ganz nachvollziehbar. Ich würde eine Putzfrau nehmen für das übliche eben, der aber nicht viel bezahlen und für die Sachen im 5 Stock und die Botengänge jemand, denn ich vertrauen könnte. Hier gibt es für Evita kein Motiv, Frank einzuweihen. - oder wenn das Motiv sein sollte, das er etwas erfahren hat, dann ist es mir zu schwach)
Weiters das Thema mit dem Sex im 5 Stock. Die Mädchen sollen sich totstellen und haben einen großen Horror davor. Kann ich nicht nachvollziehen: Als Prostituierte sind sie ja einiges gewöhnt und anscheinend müssen sie nur ruhig liegen und nachher gibts ordentlich Kohle. Plausibler fände ich wenn sie die Klienten töten würden, falls sie draufkämen, dass die Mädchen nicht tot sind, und dass die Mädchen das wissen und in Todesangst dort liegen und jede Regung für Stunden unterdrücken müssten - ist mir aber selbst immer noch zu un-plausibel. Logischer fände ich, wenn sie eine Injektion bekämen, dass sie ganz starr würden, eben wie eine richtige Leiche. Weiters kann ich nicht nachvollziehen, was an ihren Klienten so schrecklich sein sollte - So wie ich die Geschichte verstehe, schließt du Vampiere, etc. aus. Hier kommen nur echte Menschen vor. Die Angst der Mädchen vom 5 Stock hat mich aber auf Vampire tippen lassen - wäre allerdings auch nicht besonders originell gewesen.
Den Anfang fand ich verwirrend:

Unter der blinkenden Neontafel mit der Aufschrift Eros-Center Nr. 9 verließ ihn die Zielstrebigkeit, die ihn hergeführt hatte. Er blieb stehen und kaute auf seiner Unterlippe. Männer drängten sich auf dem schmalen Bürgersteig an ihm vorbei, hierhin nach Nr. 7, dorthin nach Nr. 11, immer ihrem Ständer nach.
Die Milchglastür zu Nr. 9 wurde aufgestoßen. Der tiefrot beleuchtete Gang dahinter spuckte zwei feixende Kerle auf die Straße.
den fetten Teil finde ich redundant.
So wie ich das vestehe gibt es auch ein Eros Center Nr 7 und 11: Finde ich irgendwie einfallslos und verwirrt mich, so wie wenn der Aldi drei Shopingmärkte nebeneinander bauen würde.
Glaubst du, ich hab all die geilen Böcke auf mir rumrutschen lassen, nur damit ich jetzt einen auf Betschwester mache? Mich interessiert Rendite, nicht Moral. Wenn du Moral willst, geh in die Kirche zu den Pfaffen; die kübeln ihre Moral da nur so von der Kanzel runter, und abends stecken sie den Ministranten ihre kleinen Heiligenschwänze in den Hals und lachen sich halbtot über die Blödheit ihrer Schäfchen.“
Hier kaufe ich den Text Evita nicht ab. Das ist mir zu dick aufgetragen.
Es war der Handmann, der Treue, der Gute. Er konnte ihn erschnuppern. Der Handmann trat hinter ihn und drückte ihm sanft, unendlich sanft die Beine auseinander.
Der Handmann ist einfach da. Das erscheint mir zu willkürlich. Er muss wohl bei den Mädchen schon früher Schrecken verbreitet haben. Ich kann mir aber nicht vorstellen, wie, weil hier hinterlässt er ja keine Zeugen.

Das mag jetzt vielleicht nach viel Kritik klingen, ist es aber nicht. Der Text ist in sich sehr gut, meine Anmerkungen mögen dir nur Hinweise sein, etwas Gutes noch besser zu machen

LG
Bernhard

 
Zuletzt bearbeitet:

Oh wow!

Wenn es im Hinblick auf Deine Geschichte nicht so makaber klingen wuerde, wiese ich jetzt darauf hin, dass ich mir gern eine Scheibe von Dir abschneiden täte ;)
Also ehrlich, ich bin der Story hochinteressiert gefolgt, musste einige Male wuergen und lachen, fand Deine Wortkreationen, Vergleiche und Metaphern sehr erfrischend. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Verwandlung vom lauen Lueftchen zum Orkan. :D
Vielleicht sollte ich meinem Ehegatten auch eine lukrative Belohnung in Aussicht stellen, damit er hier mal "durchfegt". ;) :D
Wenn ich denn ein Manko erwähnen muesste, dann wäre es die eklige Fleischeslust am Ende, die hättest Du fuer meinen Geschmack subtiler darstellen können, dann hätte es mich nicht nur geekelt, auch gegruselt. Das hat es nämlich noch in den vorangegangenen Beschreibungen der Vorkommnisse hinter der lackierten Tuer. Zum Schluss wurde es mir ein bisschen too much, obwohl ich den degenerierten Zustand des Hausmeisters auch wieder witzig fand. Aber vielleicht wolltest Du dieses Gefuehl beim Leser auch ganz bewusst auslösen!?

 

Hallo Somebody,

ich glaube, es ist soweit alles gesagt von den anderen Kommentatoren, deswegen hier nur ein äußerst subjektiver Leseeindruck: absolut geil! Den Titel halte ich schlichtweg für grandios, die Dialoge sind bukowski-esk authentisch, (was ich als Kompliment meine!), im Sujet agieren die Figuren realistisch, und dass Ende finde ich toppt alles, echt finster. Gelungen, habe ich sehr gerne gelesen.

Gruss, Jimmy.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom