Nachtlicht
In dem kleinen Kanonenofen glimmte ein Buchenscheit, wärmte die Porzellankanne und die beiden Siamkatzen, die sich faul auf den Decken unter dem Teetischchen räkelten.
Gusseiserne Pfosten trugen das Gewächshaus, wie die Stängel die Schafgarbenblüte
Sie betrachtete ihr Bild im Spiegel.
In der Abenddämmerung strahlte ihr bleicher Körper im matten Licht der Gaslüster. Die kleine graue Kappe mit einer frischen, betörend duftenden, Escapade´, schmiegte sich um den hellen Zopf. Weiße, glatte Haare ergossen sich über ihre Schulter und flossen in ihr gepudertes Dekolleté.
Die feinen violetten Linien ihres frischen Nabeltattoo´s schlängelten sich weich in ihre Haut. Nicht mal einen Tag hatte der Sonnenlotus gebraucht um sich mit ihr zu verbinden.
Sandrine hatte sich für die Nacht angemeldet.
Der letzte Schritt um den Sonnenlotus zu aktivieren.
Den Saphir ihrer Großmutter in den Nabel implantieren und mit einer hübschen Mondsteinkappe, aus den Höhlen von Shangrila, abdecken.
Ihr Bauch glühte. Die letzten Fasern des violetten Sonnenlotus verbanden sich mit ihrer erregten Aura. Nun würde bald nichts mehr auf die filigranen Zeichen deuten.
Irina erhob sich, fuhr sich durch die Haare, rückte das knappe Korsett zurecht und schlug unsichtbare Falten aus dem gebleichten Rock.
Barfuß schlenderte sie zu der Feuerung des großen Dampfkessels, an der Wand zwischen Wohn und Gewächshaus. Sie legte Holz nach, kontrollierte die Regler und stellte die komplizierte Mechanik auf einen leichten Sommerregen ein.
Auf dem Weg in die Werkstatt spürte sie die alten Holzdielen unter ihren Füßen. Die Flügeltüren zur Galerie standen weit auf. In der Auslage staksten ihre Messingspinnen elegant um Taschenuhren, filigrane Brillen, edle Halsreifen und ziselierte Respiratoren.
Vom Nachmittag lagen noch die Schnürstiefel und die seidenen Strümpfe auf der van Liester Vitrine.
Edelkristallbrillen mit verschiedenfarbigen Spektrallinsen. Leicht wie eine Feder und präzise wie ein Schweizer Uhrwerk. Ein eleganter aber teurer Schutz für junge Damen, die sich Abseits der mütterlichen Tanztees oder der gouvernanten Salons in den nächtlichen Tanzsälen vergnügten.
Auf der anderen Seite der Straße hielt eine Mietdroschke.
Sandrine stieg aus und überredete den Fahrer ihre Tasche in die Galerie zu tragen.
Ihre dunkelrote Korsage, aus feinster Brüsseler Spitze, wurde nur von hauchdünner Spinnenseide gehalten. Im Gegensatz zu Irina war Sandrine eher von dunklem Teint. Eine Erinnerung an italienischen Vorfahren, die sich ebenso wenig verbergen ließ, wie ihr überbordendes Temperament oder ihre überaus weibliche Erscheinung.
Sandrine erlaubte dem Kutscher einen raschen Blick in ihr Dekolleté, bevor er sich mit hochrotem Kopf entfernen durfte.
Irina schloss die Galerietüre und zog die schweren Samtvorhänge zu.
Sie spürte Sandrines Aura, die schimmernd auf ihren Nabel zu schwebte.
„ Sieh mal einer an, für so …“, Sie grinste anzüglich, öffnete ihre Tasche, legte das kleine Kistchen mit dem Saphir, chirurgische Instrumente und Salbe neben die Schnürstiefel.
„ … aufnahmefähig hätte ich dich gar nicht gehalten. Hast du nicht gesagt das du ein braves Mädchen bist?“ Sie lächelte Irina an.
„ Aber ja, meine Liebe“, sie stand so nah bei Sandrine, das sie sich fast berührten.
„ und brave Mädchen begrüßen ihre Gäste.“ Irina küsste Sandrines volle Lippen.
„So, meine Liebe. Heute bin ich hier um deinen Nabel mit diesem wunderschönen Saphir zu öffnen. Also, husch husch.“
Irina sah sie kurz schmollend an. Tanzte in die Werkstatt und zog den leeren Arbeitstisch hinter sich her in die Galerie.
„Machen wir´s auf dem Tisch. Ich leg mich auf den Rücken.“
Sandrine breitete ein sauberes Tuch aus, holte die Instrumente von der Vitrine und ohne ein weiteres Wort stach sie mit einer kleinen Spritze Irina in den Bauch.
„ Das wird jetzt ein wenig weh tun aber du schläfst gleich ein.“
Sandrine griff sich, aus der Tasche, ihre Spektralbrille und eines der Messer vom Tisch. Gute eine Stunde später war die Arbeit getan. Der Saphir lag geborgen in ihrem Nabel.
Irinas Aura und Selbstheilungskräfte hatten die Arbeit fast abgeschlossen. Jetzt kam der kompliziertere Teil.
Irina wachte auf, ihre Lieder flatterten.
„ Wie fühlst du dich?“ Sandrine hielt Sie auf dem Tisch fest.
„Lass die Augen bitte noch zu.“
Neben sich hatte sie den Rosenholzkasten stehen. Phiolen hingen in kleinen Korkbechern. Sandrine holte Papierstreifen aus einer Lade. Mit Hilfe einer Glaspipette, tropfte sie einen winzigen Hauch einer öligen Flüssigkeit auf das Papier.
„ Kannst du dich noch erinnern dass ich dir vom Prager Farbtopf erzählt habe?“ Irina nickte.
„ Und weißt du noch, was ich dir alles darüber erzählt habe?“
„Du meinst überwältigend, außerordentlich und all die Sachen?“
„Ja das auch, aber vor allem, das du keine Zeit haben wirst dich an diese Erfahrung zu gewöhnen.“ Sie wedelte mit dem Papierstreifen vor Irinas Nase.
Irina explodierte in Farben. Eine Kathedrale tiefsten Orange breitete sich in ihrem Körper aus. Gelbe Schleier wehten in rote Wolken hinein. Wenn sie sich anspannte oder unwillkürlich bewegte, weil gerade eine Wand strahlend dunklen Violett über sie hinweg flog, rollten Wellen grüner Lichtstreifen auf ihrer Haut und vereinigten sich mit lichten braunen Schlieren. Schwärzeste Dunkelheit wechselte mit weißester Helligkeit. Azurblaue Räume fielen den Indigostrahlen zum Opfer und implodierten in der Gleichzeitigkeit kathedralen Oranges.
Sie schlug die Augen auf.
Sandrine stand vor dem Tisch und hatte ihr eine der van Liester Brillen angelegt. Die violetten Spektrallinsen waren über die Augengläser geschoben. Trotzdem glühte die Galerie in hellen Koronen.
„Komm, ich helf dir auf.“
Irina griff nach der Brille.
„ Nein, warte noch einen Moment, du musst dich erst daran gewöhnen. Mach die Augen noch mal zu.“ Sandrine schob die Spektrallinsen nach oben und fächerte ihr mit der Hand Luft zu.
„Wieder nur riechen, und wenn du meinst das du soweit bist, dann machst du sie vorsichtig wieder auf.“
„ Unglaublich. Deine Finger riechen nach Jasmin.“
Blasse Gelbe Schlieren wehten vor ihren inneren Augen.
Sie zupfte sich die Rose von der Kappe und hielt sie sich vor die Nase.
Öliges Orangerot tropfte, von unten nach oben durch das Gelb und sammelte sich in ihrem inneren Himmel. Weiße Blasen platzten und verteilten sich ölig wirbelnd in alle Richtungen.
„Ich mach die Augen nie wieder auf.“
„ Ja Liebes, ich weiß. Das ging uns allen so. Deshalb gibt es ja die Mondsteine.“
Sandrine strich sanft über Irinas Nabel. Mit einer leichten Handbewegung stülpte sie den Mondstein über den warmen Saphir. Glutrote Wellen schaukelten in die Spitzen des Sonnenlotus. In einem letzten Schimmern verblassten die Lotuslinien zu dem bleichen Weiß ihrer Haut. Das flimmernde Licht der Auren verebbte und hinterließ die dunklen Farben der Dinge.
Mittlerweile war die Dämmerung der Nacht gewichen. Die Armleuchter in der Galerie verbreiteten ihr gelbes Licht.
„Sieh her! Ein kleiner Kniff genügt und du hältst den Mondstein wieder in der Hand.“
Irina probierte es aus. Sofort war alles umgeben von den wogenden Lichtfäden.
„ Und genau so, setzt du den Stein wieder ein.“
Wieder folgte sie Sandrines Anweisung und das warme Licht der Wandlampen beherrschte erneut den Raum.
Irina ließ sich ein paar Schritte führen. Sie hatte Durst und es wurde Zeit für den Spiegel.
„ Lass doch alles liegen und komm mit. Ich hab noch Tee auf dem Ofen.“
„ Ich weiß ja dass du nicht ohne mich anfängst.“ Winkte Sandrine ab.
„ Ich komm gleich nach. Nur noch die Kästen verstauen und die Messer reinigen. Na geh schon.“
Die Pfützen, die der Regen hinterlassen hatte, waren fast ausgetrocknet. Von den Blättern und Blüten des Aprikosenbaums perlten die letzten Tropfen durch ihre Haare auf ihre Schultern. Die Luft war feucht und ihre Teetasse voller Wasser.
Sie griff sich eine der Decken unter dem Teetisch und legte die Holzbank damit aus. Den Spiegel rieb sie schnell mit einem Ledertuch trocken.
Hinten verriegelte Sandrine lautstark die Türe.
„ Ich staune jedesmal aufs Neue, wenn ich sehe wie groß dieses Paradies ist. Wie habt ihr es nur geschafft damit nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen.“ Sie stellte die Tasche unter die Holzbank und setzte sich neben Irina.
„ Ah, da ist ja auch der Spiegel. Wirklich ein schönes Stück. Und so groß.“
„ Ein Erbstück. Von Großmutter.“ Sie reichte Sandrine eine frische Tasse voll Tee. „Bitte sehr, frischer Darjeeling, noch heiß, ganz wie du ihn magst.“
„Und trotzdem kühl genug das wir gleich loskönnen.“
„Ich zuerst.“
Irina klippte die Kappe auf, löste den Zopf und schüttelte ihre weißen Haare. Sie stand vor dem Spiegel, strich sich über den Nabel und verbarg den gelösten Mondstein in einer Rocktasche.
Die ersten Blättchen des Sonnenlotus wehten in zartem Violett um ihren Nabel. Die nächsten, größeren, Blätter öffneten sich und wuchsen über ihren Körper. Irina sah wie die Lotussonne in ihrem Spiegelbild erblühte und die goldenen Fäden auf sie zu wehten.
Ihr Körper verlor zunehmend an Kontur. Die schmalen Füße, ihre langen Beine, der runde Schwung ihrer Hüften verloren Substanz an vielfarbiges Licht das zielstrebig in den Spiegel floss.
In einem ruhigen Tanz wehte ihr Bewusstsein hinaus, über die letzte Grenze, vorbei an den farbigen Wellen ihrer Aura in den fließenden Spiegel.
Einen tiefen Atemzug später war aus der Spiegelfläche ein Raum und dem dahinter eine farbige See aus der ihr Sandrine entgegenflog. Gemeinsam drehten sie aufwärts ihre Runden um die gusseisernen Stängel der Schafgarbenlüte, hinaus in den Himmel, gezogen in das Licht der Sterne.