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Moorgeschichten
"Pfad nicht verlassen. Lebensgefahr!", steht auf dem verwitterten Holzschild.
Früher war der Weg durch das grosse Moor noch befestigt gewesen. Seit der Jahrhundertflut führt nur noch ein verwilderter Trampelpfad zum alten Haus am See. Im Dorf erzählen ihm die Einheimischen, der Hausbesitzer Benedicht Hansen sei ein ehemaliger Chemieprofessor. Andere wiederum behaupten, der alte Ben sei ein gestrandeter Matrose, der im Sommer am See wilde Feste mit den Elfen und Hexen feiere.
Frank Baumeister ist es egal, ob Hansen ein alter Professor ist, oder sich im Sommer die Zeit mit Waldgeistern vertreibt. Er ist hier wegen dessen vielversprechender Anzeige.
"Zimmer mit Seeblick, ruhige abgeschiedene Lage, Preis nach Vereinbarung, Nichtraucher, keine Haustiere."
Er sucht schon lange nach so einem Ort. Hier wird er endlich seinen Roman fertigschreiben. Seinem Gefühl nach wird er im nächsten Sommer, bei Sonnenuntergang mit Blick auf den See, das letzte Wort zu Papier bringen.
Vor einer halben Stunde hat Frank Baumeister das Gefahrenschild passiert. Die Sonne steht schon tief und wirft die letzten wärmenden Strahlen durch die niedrigen Bäume. Er kämpft sich vorsichtig durch dichtes Buschwerk, die Augen wachsam auf den schmalen Trampelpfad gerichtet, falls der Weg unverhofft die Richtung wechselt. Ja, er kennt die Geschichten über verschwundene Leute, arme Verirrte, die oft nur als Moorleichen wieder ans Tageslicht kamen. Oft wurde über Suizid gemunkelt, dann wieder über Mordopfer berichtet, deren Körper im Moor für immer verschwunden bleiben. Das Buschwerk wird lichter und der Weg breiter. Er kann den See riechen. Als er hinter den Bäumen das Dach eines Holzhauses erkennt, beschleunigt er seine Schritte.
Plötzlich gibt der Boden nach und Baumeister steht mit beiden Beinen in einem stinkenden Moorloch. Der Matsch reicht ihm bis zu den Waden, feuchte Kälte kriecht seine Beine hoch und lässt ihn schaudern. "Scheisse", denkt Baumeister und versucht einen Fuss herauszuziehen. Doch statt den einen freizubekommen, sinkt der andere ein Stück tiefer. Panik lässt sein Herz rasen und er zwingt sich, rational zu denken, sucht nach einem Halt, einem überhängenden Ast, irgend etwas zum Festhalten. Aber da ist nichts, hinter ihm liegt der Weg voller Herbstlaub, er befindet sich fast in der Mitte dieser kleinen Lichtung. Als er wieder nach vorne blickt, zuckt er zusammen. Vor ihm auf dem Weg zum See nähert sich langsam ein dunkler Schatten.
"Oha, Probleme?", fragt eine tiefe, warme Stimme. Sie gehört zu einem breitschultrigen Mann. Sein Gesicht wird von einem mächtigen Vollbart verdeckt und darüber leuchten zwei wachsame Augen. Der Mann trägt einen grossen Hut und eine Art Fischermantel. Seine Hosen stecken in schweren Stiefeln, die den Spuren nach so manche Moorwanderung hinter sich haben. Seine Arme hat er wie ein Leutnant hinter dem Rücken verschränkt, er beugt sich leicht nach vorne.
"Da sind Sie ja in was Schönes reingeraten, was?", brummt er und starrt Baumeister direkt in die Augen.
"Sie schickt der Himmel, bitte helfen Sie mir hier raus!" Frank streckt dem Fremden seine Hand entgegen. Die Bewegung lässt ihn ein paar Zentimeter tiefer sinken und er erstarrt.
"Nicht bewegen, junger Mann, sonst sind Sie - ratzfatz - unterm Boden."
Baumeister lässt den Arm langsam sinken und kneift die Augen zusammen.
"Sind Sie etwa der alte ... Verzeihung, Sie müssen Ben Hansen sein, richtig?"
"Wer will das wissen?"
"Frank Baumeister, der Schriftsteller aus Grünwil, wir haben gestern telefoniert."
"Ah, sieh an, unser neuer Kandidat also", grinst Hansen und strahlend weisse Zähne blitzen zwischen den dunklen Barthaaren hindurch. Hansen mag etwas schrullig sein, aber seine physische Verfassung scheint intakt.
"Ok, Herr Hansen, wenn Sie so freundlich wären, und mich dann mal hier rausziehen könnten?"
"Wieviel wiegen Sie?"
"Hä?"
"Na, ich muss doch wissen, wie tragfähig das Seil sein muss, mit dem ich Sie da rausziehen soll."
"Ja, so, ungefähr achzig Kilo, würde ich sagen, aber ..."
"Hm, hm, achzig Kilo." Brummt Baumeister und scheint im Kopf etwas auszurechnen.
"Und wie gross sind Sie?"
Der Matsch reicht Baumeister nun bis zu den Oberschenkeln. Die Kälte breitet sich schmerzhaft in seinem Unterleib aus und seine Blase drückt.
"Wozu soll das gut sein?"
"Ok, ich schätze Sie mal auf, na, eins-achtzig? So, und nun zur entscheidenden Frage." Baumeister blickt gespannt in das bärtige Gesicht.
"Was ist Ihnen das Herausziehen wert?"
"Was? Sie wollen allen Ernstes - ich verklage Sie wegen unterlassener Hilfeleistung!"
"Oh, interessant, wie wollen Sie denn das anstellen, Frank? Ihnen sind doch in ein paar Minuten die Hände gebunden?", brummt der Alte.
Baumeister wird schlagartig bewusst, dass er sich nicht in der Position befindet, Bedingungen zu stellen. Er wischt mit den Händen auf der Mooroberfläche herum, teilt die toten Blätter, um irgendwo Halt zu finden, greift jedoch nur in abgestorbene Pflanzenteile.
"Wieso ist hier eigentlich so viel Laub? Die Bäume stehen doch viel weiter weg?"
"Oh, ich habe heute Morgen die Blätter im Hof zusammengefegt, Sie stehen sozusagen in meinem Kompost."
Baumeister wird schlecht, sein Mund steht offen und er spürt plötzlich einen unheimlichen Sog nach unten. Auch wenn sein Verstand ihm einreden will, dass das nicht sein kann, er spürt es, das Moor greift nach ihm, es will ihn zu sich nach unten ziehen.
Er steckt nun bis zum Bauch im Sumpf, rund um seinen Körper platzen kleine Luftblasen und schleudern ihm Dreck ins Gesicht. Dies ist kein gewöhnliches Moorloch, es ist zu exakt, wirkt irgendwie künstlich.
Baumeister zwingt sich zu einem gemässigten Ton.
"Ok, Herr Hansen, jetzt mal ganz sachlich. Seien Sie bitte vernünftig und ziehen Sie mich hier raus, dann werde ich Ihnen auch eine angemessen Belohnung überweisen."
"Was meinen Sie mit angemessen?" Hansen zaubert ein Klemmbrett hervor, das er die ganze Zeit hinter dem Rücken verborgen gehalten hat und zückt einen Schreibstift. Es ist so ein altmodisches Tablett mit Stahlbügelklemme, an der eine Schnur mit einer Stoppuhr befestigt ist.
"Wie bitte?", keucht Baumeister und starrt auf das Klemmbrett.
Hansen sieht jetzt aus wie ein Schiedsrichter aus einer dieser Spiel-ohne-Grenzen Shows aus den Achtzigern.
"Na, der letzte hatte mir immerhin siebentausend versprochen."
"Der letzte?"
"Ja, vor einer Woche, fast an der gleichen Stelle. War total hysterisch, hat gezappelt wie ein Aal." Hansen lacht rau auf.
"Der ist runtergeflutscht wie nix. Hat einfach zu viel gezappelt, verfehlte die Zeitlimite komplett ..." Hansen schaute auf sein Klemmbrett. "... um fünfzehn Minuten."
Baumeister geht ein Licht auf. Er ist blind und sorglos in eine Falle getappt. Der Weg führt extra bis hierher, das frische Laub verdeckt das Moorloch und suggeriert einen sicheren Pfad über die Lichtung. Auf dem Weg zum See musste er hier hinein tappen und Hansen wusste das, hat es von Anfang an geplant. Aber warum?
Jetzt wirft Baumeister alle Vorsicht von sich und lässt seiner Wut freien Lauf.
"Sie alter, seniler Narr, was wollen Sie eigentlich damit bezwecken?"
"Tja, Baumeister, Sie stehen nun im Dienste der Wissenschaft. Sie helfen mir zu erforschen, ob die Geschichten über Moorleichen stimmen, oder ob sie nur unserer gruseligen Fantasie enstpringen, und das auch noch völlig freiwillig."
"Fffreiwillig?"
"Na ja, habe ich Sie etwa in dieses Moorloch geworfen?"
Baumeister stöhnt auf, die Kälte ist schier unerträglich. Erst jetzt merkt er, dass er am ganzen Leib zittert, was das Absinken in diesen eisigen Sumpf zu beschleunigen scheint.
"Ah, es geht los." Hansen läuft auf die andere Seite und macht sich Notizen, dann drückt er die Stoppuhr.
"Wwarum, hhelfen Ssie mir nicht, iich gebe ihhnen, wwas Sie wwollen."
"Wieviel?", fragt Hansen trocken und zeigt mit dem Stift auf Baumeister.
"Aachtttausend, ich gebe Ihnen aachtttausend!"
"Hm, ich weiss nicht, so wenig ist Ihnen ihr Leben wert?" Hansen rückt seinen Hut zur Seite und kratzt sich am Kopf.
"Okay, okay, Zzehntausend, nnur zzziehen Sie mich bbitte hhier rrauss."
"Zehntausend", brummt Hansen und notiert es auf dem Klemmbrett.
Die Anspannung bei Baumeister erreicht ihren Höhepunkt, er steckt nun bis unter die Achseln im Schlamm. Die Arme hat er auf die Blätter gelegt und sein Zittern vermischt sich mit einem Schluchzen. Tränen der Wut und der Angst laufen ihm über das Gesicht und Hansen registriert es zufrieden mit einem Nicken und einer weiteren Notiz.
Bei Baumeister brechen die Dämme, er stöhnt und die Blase gibt nach. Wohlige Wärme breitet sich um seinen Unterleib aus, doch die Kälte packt nach wenigen Sekunden erneut seine Beine.
Die Sonne ist bereits hinter den Bäumen versunken, leichter Nebel wabert in dünnen Schwaden über die Lichtung.
Für Baumeister ist das nicht real, Hansen spielt mit ihm, er will nur sehen, wie lange man einen Menschen leiden lassen kann, gleich wird er ein Seil hervorzaubern, abrakadabra, und dann hat der Albtraum ein Ende.
Aber Hansen starrt ihn nur an, schaut auf die verdammte Stoppuhr, die sein langsames Abtauchen bis auf die Hundertstelsekunde messen kann. Ein Moment der Stille tritt ein, Hansen schaut unbewegt auf Baumeister, dessen Verstand die Wahrheit endlich erkennt.
"HHILFE, OHH GGOTT! ZZIEHEN SSIE MICH EENDLICHH RRRRAUSsss...", der Rest geht in weinendem Wimmern unter. Baumeister lässt den Kopf zur Seite sinken und schniefte laut durch die Nase.
Hansens Reaktion ist erlösend und surreal zugleich. Er drückt auf die Stoppuhr, macht eine Notiz und klemmt sich das Brett unter den Arm. Dann klatscht er Beifall. Baumeister, der mit halb erhobenen Armen bis zur Schulter im Schlamm steckt, starrt ihn durch einen Film aus Rotz und Tränen entgeistert an.
"Bravo, Frank, Sie haben bisher am längsten von allen durchgehalten."
Hansen nimmt das Klemmbrett hervor und schreibt hastig ein paar Zeilen aufs Papier, dann blättert er die Seite oben um und legt das Brett auf einen grossen Stein neben dem Weg.
"Zziehen Ssie mich jjetzt rraus?"
Hansen beugt sich zu Baumeister vor, zieht die buschigen Augenbrauen hoch und lächelt milde.
"Schauen Sie, Baumeister, Sie sind doch ein schlauer Mann, und Sie sind gut in Form, denn so lange hat bisher keiner die Kälte ausgehalten."
Baumeister hört Hansen wie durch Watte.
Seine Zähne schlagen heftig aufeinander, Blut quillt aus dem Mund und tropft ins Moor.
"Aber wenn ich Sie jetzt rausziehen würde, dann torpediere ich doch meine eigene Studie." Hansen macht eine eindeutige Bewegung des ausgestreckten Daumens quer zu seinem Hals.
"Durch meine Feldforschung wird man in Zukunft die Rätsel und Mythen über Moorleichen entzaubern können."
Baumeister dreht den Kopf zur Seite, er nimmt kaum wahr, dass ein schwarzer Hirschkäfer aus dem nassen Laub krabbelt und den Weg über seinen Kopf einschlägt.
"Wenn Sie es also schaffen würden, aus eigenem Antrieb aus diesem Moorloch herauszukommen", Hansen klingt jetzt verschwörerisch. "Dann untermauern Sie meine These, dass niemand zwingend im Moor ertrinken muss."
Baumeister zittert, die Kälte umhüllt seinen Verstand, die Nebelschwaden werden dichter.
"Allerdings, haben Sie für dieses Ziel bereits ziemlich viel wertvolle Zeit verloren."
Baumeister versteht schon lange nicht mehr, was Hansen da schwafelt. Er versucht nur noch mit unbeholfenen Schwimmbewegungen an den Rand des Lochs zu gelangen. Im ersten Moment sieht es auch ganz vielversprechend aus, sein Kopf wackelt zitternd hin und her, und sein Körper rutscht allmählich nach vorne.
Doch plötzlich bringt Baumeister den linken Arm nicht mehr hoch, sein Kopf liegt auf der Seite im Schlamm, sein Ohr füllt sich mit matschigem Torf und die Kälte klammert sich an seinen Schädel. Mit dem freien Arm klatscht er verzweifelt auf die Oberfläche, wodurch eine Welle von Schlamm seinen Mund füllt. Baumeister spuckt und hustet, verschluckt sich, noch mehr Schlamm strömt in seinen Mund, verstopft die Atemwege und ein grausam unnatürliches Röcheln erklingt, als er verzweifelt Luft holt.
Hansen steht breitbeinig daneben und sieht zu, wie Baumeister mit letzter Anstrengung ein paar trockene Blätter in der Hand zerdrückt, dann klatscht der Unterarm kraftlos auf die Torfoberfläche und mit einem Schmatzen versinkt der Rest von Baumeister im Moor.
Hansen stoppt die Uhr und notiert die Zeit.
Achtundzwanzig Minuten und fünf Sekunden.
Ein neuer Rekord.