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Mein Stellplatz Nummer 13
„Doch jeder tötet, was er liebt, (..)“ – Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading, 7. Strophe, Oscar Wilde
Bodyman haben sie mich bereits auf dem Gymnasium genannt, so ein Unsinn! Als Bodyman wird der Assistent eines amerikanischen Politikers bezeichnet, mit Bodyman kann aber auch ein Spezialist für Autokarosserien gemeint sein. In meinem speziellen Fall ist natürlich der athletische Körper für den Spitznamen verantwortlich. Immer nur ein Bodyman zu sein, das ist nicht lustig. Als ob nicht auch jemand wie ich tiefer Gefühle und kluger Gedanken fähig wäre! Meine Ergebnisse im Abitur waren gut, ich lese viel, finde Gefallen an Kunstgeschichte und habe mich folglich auch immatrikulieren lassen, aber alle sehen und begehren nur den Körper. Dabei sind meine Interessen überaus weit gefächert, ich bin vielseitig und aufgeschlossen. An manchen Tagen jedoch komme ich mir vor wie ein Toyboy bei einer billigen Seitensprung-Agentur. Da denke ich zum Beispiel an Jeanette, aber ich bediene hier keine schmutzigen Männerfantasien! Abgesehen davon wären diese in einem Leben wie dem meinen knallharte Realität. Meine Geschichte ist eine ganz andere und für das Kopfkino völlig ungeeignet. Wie einem Gemälde von Dante Gabriel Rossetti entsprungen erscheint diese sechsundzwanzigjährige präraffaelitische Schönheit in dem Fitness-Studio als La Ghirlandata oder Lady Lilith. Ich gebe ihr eine kostenlose Einführung in das smarte Zirkeltraining an den vollelektronischen Kraftgeräten und beim ausführlichen Demonstrieren der einzelnen Übungen spüre ich, wie sie mich und meinen Körper genüsslich in Augenschein nimmt. Sie hat eben den besonderen Blick für Qualität – wie einst Oscar Wilde. Das Beste ist für sie gerade gut genug und ich kann Jeanette keinen Wunsch abschlagen, denn unsere Liebe bedeutet für mich viel mehr als vielleicht für sie. Ich bin kein Libertin und das hier ist kein verantwortungsloser Hedonismus! Auch wenn ich weiß, dass es ganz und gar realitätsfern wirkt und selbst wenn es kitschig klingen mag: Mein größter Wunsch würde in Erfüllung gehen, wenn sie und ich als die einzigen und für immer glücklichen Bewohner einer verzauberten Insel zusammen sein könnten. Nein, der Bodyman ist jetzt nicht wahnsinnig geworden, nur verrückt vor Liebe.
„Gerrit“, fragt sie mich heute atemlos, „darf ich mein Auto auf deinem sicheren Stellplatz in der Tiefgarage parken, während ich fort bin? Nur für ein paar Tage, bitte!“ Ihre grünen Augen hypnotisieren mich, der flehende Klang ihrer leicht heiseren Stimme verträgt keinen Einwand: „Ich muss unbedingt weit weg. Mein Mann darf nichts davon wissen. Du fährst mich doch zum Flughafen?“ Unser Treffen findet in meiner kleinen Hochhauswohnung statt und wie jedes Mal elektrisiert mich bereits der reine Anblick ihrer schlanken, engelsgleichen Gestalt. Ich stehe jetzt direkt hinter Jeanette und sie hat sich gebückt. An das Twerking in den Vereinigten Staaten von Amerika denke ich mit Blick auf ihren beweglichen Po, der für den Geschmack vieler Amerikaner zu klein wäre. Für mich ist er genau richtig und er reckt sich mir erwartungsvoll entgegen. Unter ihrer zarten, weißen Haut scheint es zu vibrieren, wenn ich sie berühre und mit dem wohlgeformten Rücken und ihren gewellten, nach Rosen duftenden roten Haaren vor Augen zärtlich von hinten in sie eindringe. Ich bin nämlich nicht der brutale Stecher, der die Bitches nagelt. Das entspräche nicht meinem Frauenbild. Beide Hände auf die marmorne Fensterbank gestützt, schaut Jeanette, während wir genüsslich unserer Liebe frönen, in die Landschaft hinaus, wo in der milchigen Ferne die Berge des Taunusgebirges aufragen: Caspar David Friedrich – Der Wanderer über dem Nebelmeer! Dort in der Nähe des Großen Feldbergs, der höchsten Erhebung im Taunus, die jetzt im aufsteigenden Novembernebel beinahe schon verschwimmt, ließ ihr wohlhabender Ehemann erst vor einem Jahr eine neue Villa bauen für die kleine Familie, von der er träumt. „Einen Jungen und ein Mädchen wünscht er sich.“ Sie ist mit ihren Gedanken im Moment wohl nicht ganz bei der Sache. „Ich will gar keine Kinder haben.“ Spricht da jetzt die böse Lady Lilith? „Ich muss weg.“ Nein, es ist meine liebe Ghirlandata. „Du hilfst mir doch?“, fragt mich Jeanette, während unser Geschlechtsverkehr immer noch andauert und, nachdem ich ejakuliert habe, antworte ich lapidar: „Stellplatz geht klar!“
Der Fahrstuhl bringt uns jetzt nach unten zu ihrem nagelneuen, mattschwarzen Porsche Cayman S. Ich öffne für sie das große Tor zur Tiefgarage und sie fährt hinein. Auf dem tristen Grau an der Stirnseite meines mit dem Apartment gemieteten Stellplatzes prangt ein grünes Plastikschild mit der Nummer 13. Grün ist die Hoffnung, sagt man. Das stimmt mich nachdenklich, mit meiner unstillbaren Sehnsucht bin ich ein heimlicher Neoromantiker. Unterhalb des Schildes hat irgendein Dummkopf sich mit dem Kreideschriftzug Lucky Thirteen auf dem Beton verewigt. Als ich mit ihrem leichten Gepäck in der Hand vor ihr aus der Tiefgarage trete, trifft mich die feuchte Kühle dieses Spätherbsttages und der Duft nach verrottendem Laub und Gras. Auf eine traurige Art genau das Gegenteil von Walther von der Vogelweide und seiner Minnelyrik: „Gebrochen bluomen unde gras, / vor dem walde in einem tal.“ Ich weiß noch ziemlich viel aus dem Deutschkurs auf erhöhtem Anforderungsniveau, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie mir das hier und heute weiterhelfen soll.
Ganz mit dem Fahren beschäftigt sitze ich nun am Steuer meines zuverlässigen alten Autos, das die Tiefgarage kaum kennt. Für Jeanette und mich geht es schweigend in Richtung Frankfurt Airport mit Pharrell Williams im Ohr: Get Lucky und im nächsten Lied, das von einer weiblichen Stimme interpretiert wird, heißt es dann: Today Is Your Lucky Day, wohl so eine Art Thementag bei dem Sender heute. Die nebelnasse, sechsspurige Autobahn ist stark frequentiert, trotzdem nähern wir uns rasch dem futuristisch anmutenden riesigen Flughafenkomplex mit seiner endlos geschäftigen Betriebsamkeit. Vor dem belebten Abflugterminal drückt Jeanette mir noch etwas in die Hand: „Nur für den Notfall! Hiermit kannst du den Cayman öffnen, aber nicht einfach so damit herumfahren, versprich mir das bitte!“ Ich antworte leise: „Du kannst dich wie immer auf mich verlassen, weißt du doch.“
Wieder zurückgekehrt in mein einsames Apartment kommt mir die gesamte Angelegenheit zunehmend seltsam vor. Ich frage mich, was wäre, wenn ihr jetzt etwas zustieße und sie nicht zurückkäme? Ich liebe sie doch. Wir gehören zusammen wie Ying und Yang. Warum hat sie nie den Vorschlag gemacht, und das meine ich nicht im Sinne von Eskapismus, dass wir beide gemeinsam fliehen sollten? Ich bin bereit für ein neues Leben mit Jeanette, tief im Herzen bin ich bereit dafür. Für sie würde ich mich neu erfinden. Wenn sie jetzt für immer verschwunden oder sogar tot wäre? Schlimm wäre das für sie und auch für mich! Into this world we're thrown, das ist aus einem berühmten Lied der Doors, Jim Morrison hat das gesungen. Genau in diesem Moment erlebe ich den Nihilismus (oder ist es der Existenzialismus?), sozusagen ein Ungefragt-in-die-Welt-geworfen-worden-sein (war das jetzt Heidegger?). Ich gebe gerne zu, dass ich gerade in Philosophie noch sehr große Defizite habe. Mit dem teuren Porsche ohne Papiere stehe ich da wie ein gemeiner Autodieb! Jeanette kann es sich doch leisten, die Parkgebühren am Flughafen aufzubringen! Ich muss die Situation mental in den Griff kriegen. Bankdrücken hilft in so einem Fall eigentlich immer. Ich bette mich auf die stabile Hantelbank, welche ständig in meinem Wohnzimmer aufgebaut ist. Das Gewicht der Langhantel in beiden Händen, in den Armen und dem Brustkorb zu spüren beruhigt mich ein wenig. Die Übung hilft mir dabei, meine Atmung zu kontrollieren. Mens sana in corpore sano, das haben viele bis heute nicht verstanden. Fitness und Gesundheit, das ist so viel mehr als reiner Körperkult! Obwohl, bei meinem Anblick hätten die Bildhauer im alten Griechenland sofort zu Hammer und Meißel gegriffen und den Marmor behauen. Das hätten sie im Falle des bereits leicht adipösen Herrn Wehrheim mit seinen Herzrhythmusstörungen sicherlich nicht getan. Betablocker sei Dank ist bei dem schon fast tote Hose, sagt Jeanette jedenfalls. I'm the bodyman, not like you. I'm the bodyman, not like you. Diesen selbst ausgedachten Unsinn murmele ich beim Training im Geiste vor mich hin. Drei intensive Sätze mit der Langhantel und jeweils zwanzig Wiederholungen, aber die schlimmen Gedanken wollen nicht weichen! Ich kann Jeanette ja nicht fragen, kann sie nicht erreichen. Ihr Smartphone hat sie bestimmt abgeschaltet, wo immer in der Welt sie sich aufhalten mag. WhatsApp, Facebook, Twitter und Skype, das alles lehnt sie ab. Datenschutz ist ihr wichtig. Aber wenigstens eine kosmische Verbindung zwischen uns muss es doch geben! Wenn ich jetzt ganz fest an Jeanette denke, dann wird sie es bestimmt spüren. Weshalb muss es denn ausgerechnet mein Stellplatz Nummer 13 sein? Ein beunruhigendes Szenario: Am Flughafen wäre der Porsche schnell und leicht zu finden, dort würde man zuerst suchen. Ihr Ehemann und auch die Polizei wüssten dann, dass sie mit dem Flugzeug das Land verlassen habe. Jetzt nehme ich eine andere Trainingsposition ein und greife nach dem kalten Eisen der Kurzhanteln, versuche es mit Bizepscurls, ebenfalls drei Sätze mit je zwanzig Wiederholungen, keine Besserung! Ich nehme ja immer L-Carnitin vor dem Training. Dem Wehrheim mit seinen Cardio-Problemen würde ich eher zu L-Arginin raten, aber auf mich hört ja niemand. Dabei kennt sich der Bodyman wirklich aus mit den Aminosäuren. Vielleicht will Jeanette mit meiner Hilfe ihre Spuren verwischen? Soll ich in etwas hineingezogen werden? Soll ein Verdacht auf mich gelenkt werden? Das möchte ich nicht glauben, mein präraffaelitischer Engel ist doch keine Lady Lilith! Hat Jeanette tatsächlich etwas Schreckliches zu verantworten oder sogar selber getan? Bin ich womöglich jetzt schon in ein Verbrechen verwickelt, von dem ich überhaupt nichts weiß? Ich spüre ein beklemmendes Gefühl in mir aufsteigen, Schweiß bricht aus und das liegt nicht am Krafttraining.
Während ich mir einen großen Eiweißshake mit Schokoladengeschmack mixe, lenkt mich eine nüchterne Nachrichtensendung auf dem Flachbildschirm glücklicherweise wieder von den irrwitzigen Grübeleien ab, doch die Worte des Nachrichtensprechers machen mich stutzig: „Die Polizei bittet nun um die Mithilfe der Bevölkerung. In der Nähe des Großen Feldbergs wurde in einer Taunusvilla die Leiche des Immobilienmaklers Joachim Wehrheim gefunden. Zu den Einzelheiten und den näheren Umständen möchte sich der Polizeisprecher aus ermittlungstaktischen Gründen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht äußern. Die zuständigen Behörden bitten die Bevölkerung um Mithilfe bei der Suche nach dem mattschwarzen Porsche der Ehefrau des Maklers, Jeanette Wehrheim, die zur Zeit unauffindbar ist.“ Ein Foto mit ihrem makellosen Engelsgesicht wird eingeblendet, danach sieht man den tief auf dem Boden kauernden und geduldig lauernden dunklen Cayman. Wehrheim ist tot und wir sind frei, das ist mein erster Gedanke, den ich Jeanette telepathisch mitzuteilen versuche. Ich kriege aber keinen Kontakt zu ihr, spüre rein gar nichts, so sehr ich mich auch anstrenge. Ein Kaiman ist doch eine Art Krokodil? Ich höre beinahe meinen ehemaligen Deutschlehrer sagen, der Porsche auf dem Stellplatz Nummer 13 sei metaphorisch und symbolisiere das bedrohlich Böse. Wer ist hier eigentlich bedroht? Mich packt ein Gefühl exorbitanter Übelkeit. Bestimmt haben die lieben Mitbewohner hier im Haus den mattschwarzen Boliden bereits ausgespäht und die Polizei alarmiert, deren speziell eingerichtete Rufnummer im Fernsehen noch einmal gezeigt wird. Keine Ahnung, wie oft dieser Aufruf bereits herausgegangen ist!
Schon klingelt es an meiner Apartmenttür. „Scheiße“, sage ich kaum hörbar zu mir selbst. Unter normalen Umständen käme so etwas genauso wenig wie das F-Wort jemals über meine Lippen. Ich spüre, wie meine pulsierenden Herzkammern kurz aus dem Rhythmus geraten, als ich den drei adretten Polizeibeamten öffne. Sie bitten mich freundlich, sie nach unten in die düstere Tiefgarage zu begleiten. Dort nehmen sie den Porsche erst einmal gründlich unter die Lupe und lassen mich schmoren. Das ausgerechnet zwei Tage vor meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag! Today Is Your Lucky Day, das murmele ich im Geiste verzweifelt vor mich hin, immer wieder, immer wieder, bald werde ich verrückt, gleich drehe ich durch! Ich rufe mir mit aller Kraft meine Trainingsroutinen in Erinnerung, atme bewusst, fokussiere mich. Mind over matter, das sagt der Mentaltrainer aus dem Studio immer. Als die Befragung in der Tiefgarage schließlich beginnt, bin ich erstaunt darüber, wie gut mein Organismus mit dem in der Wartezeit aufgestauten Noradrenalin und Adrenalin zurechtkommt. Atmung und Puls habe ich wieder vollständig unter Kontrolle und antworte souverän und unaufgeregt auf die Fragen.
„Wie kommt der Porsche von Frau Jeanette Wehrheim auf Ihren Tiefgaragenplatz?“
„Sie hat mich heute früh gebeten, den Wagen für die kurze Dauer einer Flugreise auf meinem Stellplatz parken zu dürfen und ich habe sie dann zum Flughafen gefahren.“
„Wohin sollte die Reise denn gehen?“
Ich erkläre ihnen, dass Jeanette ganz einfach weit weg wollte und ihr Ehemann nichts davon wissen durfte. Wohin sie dann letzten Endes geflogen sei, wisse ich nicht.
„Ich habe Frau Jeanette Wehrheim lediglich vor dem Abflugterminal abgesetzt. Das ist die Wahrheit.“
Von Polizeiarbeit habe ich keine Ahnung und von dem, was da in der Wehrheimvilla und vielleicht auch bei der Gerichtsmedizin abgelaufen ist. Aber noch während der Befragung erhält einer der drei netten Beamten eine Nachricht auf seinem Diensthandy. Es hat sich inzwischen herausgestellt, dass der reiche Immobilienmakler Joachim Wehrheim im Alter von achtundvierzig Jahren an einem plötzlichen Herzversagen ohne Fremdeinwirkung gestorben ist. Ist es zu stark, bist du zu schwach, hätte Darwin gesagt, so etwas weiß ich noch aus dem Biologieunterricht. Das kommt davon, wenn ein eitler und arroganter Schnösel sich eine junge Frau sucht und auf seine alten Tage noch einmal Vater werden will! Es war also, entgegen des ersten Eindrucks, den die Polizei gewonnen hatte, ein natürlicher Tod, offensichtlich aufgrund Wehrheims immenser Aufregung über eine den Ermittlungsbehörden vorliegende handschriftliche Notiz: Ich bin jetzt weg und es hat keinen Sinn, nach mir zu suchen. „Lucky thirteen!“, bricht es aus mir heraus, woraufhin die drei mich befremdet anblicken.
Eine Woche später in den Nachrichten: "Frau Jeanette Wehrheim ist bis zum heutigen Tage unauffindbar geblieben, obwohl sie inzwischen vom Tode ihres Gatten erfahren haben dürfte und dessen Alleinerbin ist."