- Beitritt
- 08.01.2002
- Beiträge
- 5.120
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 57
Meeresleuchten
Vor etlichen Jahren, ich war so um die dreißig, kaufte mein Vater ein Segelboot. Keine dieser schnittigen, mondänen Yachten, sondern ein gut zehn Meter langes Boot, das mit seinem ausgeblichenen, aber noch intakten Holzdeck und dem totlackierten Mahagoni der Kajütenwände seine besten Jahre hinter sich hatte.
Unter Deck befanden sich Sitz- und Schlafmöglichkeiten, eine Kochstelle und Stauräume.
„Und es hat einen kräftigen Motor, Funk und einen Stahlrumpf“, betonte Vater stolz, was mir Landratte das beruhigende Gefühl gab, dass sehr viel passieren müsste, bevor dieses Boot Leck schlüge.
Mein Vater konnte gut segeln, ich dagegen hatte davon absolut keine Ahnung. Trotzdem schlug er mir einen zweiwöchigen Segeltörn in dänischen Gewässern vor.
„Aber ich kann dir doch überhaupt nicht helfen“, sagte ich, „wie soll das zu zweit denn klappen?“
„Ich segle das Boot alleine. Nur, wenn ich das Segel reffen oder bergen muss, müsstest du an der Pinne sitzen und steuern. Das ist leicht. Und das hast du ja auch schon mal gemacht."
Das stimmte und es hatte Spaß gemacht, das Boot zu steuern. Dieses erhabene Gefühl war mit dem eines Fahrschülers vergleichbar, der das erste Mal selbst hinter dem Steuer sitzt und den Wagen lenkt. Aber die erste Begegnung mit dem Boot blieb mir sowieso wegen etwas ganz anderem unvergesslich und ich musste lachen.
„Weißt du noch, damals die erste Fahrt vom Holzhafen bis nach Finkenwerder? Als du nicht anlegen mochtest?"
Mein Vater schmunzelte.
Meine Mutter hatte damals anlässlich unserer Premierenbootsfahrt durch den Hamburger Hafen einen Riesentopf Tomatensuppe mit Fleischklößen mit an Bord genommen. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir den Hafen von Finkenwerder erreichten. Obwohl wir uns bis dahin gemächlich mit dem Motor hinbewegt, wir also noch gar nichts geleistet hatten, waren wir hungrig wie die Wölfe. Mein Vater weigerte sich jedoch anzulegen.
„Ich will nicht Anlege- oder Hafengebühr bezahlen, und ich bin noch zu unerfahren, nachher mache ich was kaputt.“
Also zurück zum Holzhafen? Nein, wir beschlossen, im Hafenbecken zu bleiben und so lange im Kreis zu fahren, bis jeder etwas gegessen hatte. Der Topf wurde also auf das Gas gestellt und abwechselnd saß jeder von uns mal an der Pinne, um langsam Runde um Runde zu drehen oder eben unten in der Kajüte, um einen Teller Suppe auszulöffeln.
„Wenn damals die Wasserschutzpolizei das gesehen hätte, wir immer im Kreis, hätten sie uns bestimmt angehalten", sagte ich, „oder sie hätten sich schlapp gelacht über diese schräge Aktion.“
Für den Segeltörn planten wir, ein paar kleine dänische Inseln zu umrunden und zur Nacht jeweils in den Häfen anzulegen.
Wenn nur noch Meer ringsum war, der Wind die Segel blähte, kein Motor mehr lärmte und das Boot durch das Wasser glitt, dann war es wie in einer anderen Welt. Ich fühlte mich eins mit allem. Dieses schier unendliche Meer brachte mich in einen Flow. Ich fühlte mich frei und mühelos. Was an Land war, wurde unwichtig.
Sobald wir aber einen Hafen ansteuerten, wurde ich unruhig.
Denn die Behauptung meines Vaters, ich müsse nur an der Pinne sitzen und das Boot steuern, während er die Segel einholt, erwies sich als Problem.
Sein Kommando: „Steuere das Boot in den Wind“, war sicherlich für jeden Segler eine klare Anweisung. Nur ich wusste so rein gar nicht, was nun zu tun war.
„Wie herum soll ich denn nun steuern? Rechts? Links?“, rief ich ihm zu, während ich nervös versuchte, nicht vom Kurs abzukommen. Der Hafen war ja schon in Sicht.
„Na, mit der Nase in den Wind“, sagte er.
„Was heißt das? Soll der Wind von hinten kommen? Oder von vorne? Und woher kommt er?“, rief ich verzweifelt, „sag doch endlich, was ich machen soll!“
Es dauerte ein paar Tage bis mein Vater akzeptierte, dass aus mir keine Weltumseglerin würde und mir schließlich Anweisungen wie in einer Fahrschule mit rechts und links gab. Aber so kamen wir wenigstens heil an, ohne dass er beim Segeleinholen über Bord ging.
Nach dem Abendbrot saß ich meist allein an Deck, gegen den Kajütenaufbau gelehnt, Lieblingsmusik in den Ohren und über mir der satt bestückte Sternenhimmel. Der Blick nach oben wurde mir nie langweilig. Und je länger ich hinauf schaute, desto bewusster wurde mir, wie unbedeutend wir alle waren. Die Erde war ein winziger Punkt im All.
Mein Vater saß unten in der Kajüte und hörte Radio. Meist orgelte er von einem Sender zum nächsten weiter, um mal diese oder jene Nachricht zu hören. Wir ließen uns in Ruhe.
Wäre meine Mutter dabei gewesen, hätte ich mich den Abend über ununterbrochen unterhalten oder rechtfertigen müssen. Ich schweige ab und zu gern. Mein Vater verstand das. Er hing selbst seinen Gedanken nach.
An manchen Tagen segelten wir nicht, weil der Wetterdienst zu hohe Windstärken vorausgesagt hatte. Stattdessen gingen wir an Land, mieteten uns Fahrräder und fuhren drauf los. Auf einer dieser Inseln hoppelten auf einem kilometerlangen Sandweg hunderte von Kaninchen immer genau in dem Moment seitlich in die Büsche, wenn wir uns auf rund einen Meter näherten. Ich glaube, sie spielten mit uns. Sie hockten unbeweglich im Sand und jedes Mal dachte ich: ‚Oh Gott, wenn es nicht gleich den Weg frei gibt, wird es am Ende noch überfahren.' Ich habe noch nie so viele Kaninchen wie auf dieser Insel gesehen.
Das Leben auf dem Boot war für mich wie im Hotel, um das Essen musste ich mich nämlich nie kümmern. Morgens briet mein Vater für uns Eier mit Bacon und Toast dazu. Das mochten wir beide gern. Er bereitete alles allein zu, ich half nur beim Abwasch, aber das war ein Klacks.
Wir kauften direkt bei den Bauern gerade geerntetes Gemüse, das köstlich schmeckte, und an manchen Tagen ergatterten wir im Hafen frischen gefangenen Fisch.
Selbst mal nicht kochen zu müssen, war eine angenehme Erholung für mich.
Wenn im Hafen der Wind mit dem Tauwerk an den Masten klapperte, das Boot leicht hin- und herschaukelte, entstand das wohlige Gefühl, geborgen und sicher zu sein. Ich schlief stets rasch ein und durch.
Nur eine Nacht war anders. In der holte mich mein Vater aus dem Tiefschlaf.
„Du musst unbedingt mit an Deck kommen, sowas hast du noch nie gesehen“, sagte er.
„Kann das nicht bis morgen warten, lass mich weiterschlafen“, sagte ich.
„Nein, du musst jetzt mit raufkommen. Ich war eben pinkeln und hab da was entdeckt, das muss ich dir unbedingt zeigen.“
Er ließ nicht locker. Widerwillig stieg ich mit an Deck. Um uns herum das schwarze Wasser des Horsensfjordes. Wir hatten nicht im Hafen, sondern ein Stück vom Ufer entfernt in der Bucht geankert. Als einzige Lichtquelle über uns der tief hängende Sternenhimmel, ansonsten stockdunkel.
Mein Vater nahm einen Eimer, an dem eine Leine befestigt war, und warf ihn ins Wasser. Für eine Sekunde dachte ich: ‚Der spinnt, deswegen sollte ich an Deck? Was soll das?‘, aber dann sah ich, wie sich das Wasser beim Aufklatschen des Eimers verwandelte. Aus dem Schwarz wurde flüssiges Gold, wie wenn tausend winzige Sterne sich im Wasser zu einem breiten Band aneinanderklammern. Das Glitzern erlosch sanft nach einigen Sekunden. Mein Vater zog den Eimer an Bord und kippte das darin gesammelte Wasser mit Schwung ins Meer zurück und da, wo es aufschlug, wurde wiederum alles golden und zu blinkenden Sternchen. Wieder tauchte er den Eimer ein, zog ihn an der Leine hin und her und erzeugte so einen goldenen Schweif. Es war, als wäre das Wasser verwunschen, ein märchenhafter Traum, in dem sich alles in Gold verwandelt, sobald man es berührt.
Ich war gebannt, so zauberhaft war dieses Schauspiel, konnte mich gar nicht sattsehen. Abwechselnd zogen wir immer wieder den Eimer durchs Wasser, um das flüssige Gold zu bestaunen, dieses Glimmen und Funkeln, das sich stets nur Sekunden zeigte. Dann wieder gossen wir Wasser aus dem Eimer mit Schwung über Bord und ergötzten uns an dem goldenen See, der sich vor uns ausbreitete.
„Was ist das?“, fragte ich meinen Vater, „wie entsteht das?“
„Das nennt man Meeresleuchten“, sagte er, „ein seltenes Phänomen. So was erlebt man vermutlich nur einmal im Leben.“
Immer, wenn ich an dieses einzigartige Meeresleuchten zurückdenke, muss ich lächeln, weil es, wie mein Vater voraussagte, ein außergewöhnliches Andenken geworden ist.