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Maskerade
Schon im Flur höre ich die Männerstimmen. Ich könnte schwören, das verhaltene Lachen ist das von Frank. Nachdem ich leise Jacke und Schal abgelegt habe, fahre ich mit den Fingern durch die Haare, prüfe mein Spiegelbild und warte. Da ich nicht verstehen kann, worüber gesprochen wird, zwinge ich mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die knarzenden Dielenbretter und mein hüpfendes Herz ignoriere ich. Als ich im Türrahmen erscheine, verstummt das Gespräch.
„Du bist spät dran, Schatz“, empfängt mich Joachim und nippt an seinem Bier.
Frank schnellt wie ein Springmesser vom Stuhl hoch und stößt gegen den Küchentisch, dabei schwankt die Flasche Radeberger bedrohlich. „Hey, Carla!“, ruft er eine Spur zu laut und schenkt mir einen Linksrechtskuss. Er tut so, als würde keine Mauer zwischen uns stehen. Keine Mauer aus Hoffnung und Enttäuschung, die nur durch Worte eingerissen werden könnte.
Ich bin verunsichert und befürchte, man sieht es mir an. „Was heckt ihr zwei da aus?“, will ich wissen, während ich ein Glas mit Leitungswasser fülle. Meine Kehle ist trocken.
„Wir haben Karten. Für den Faschingsball am Samstag. Jetzt geht’s drum, was zieh’n wir an.“ Frank zwinkert mir zu.
„Ach? Da freu’ ich mich für euch. Ihr gebt bestimmt ein schönes Paar ab.“
„Wenn du uns lieb bittest, nehmen wir dich mit“, wirft mir Frank den Ball zurück.
„Ich hab aber schon andere Pläne.“
„Carla, das Leben besteht nicht nur aus Arbeit. Amüsier dich mal!“
Wie es aussieht, haben die beiden Jungs soeben beschlossen, mich weich zu klopfen.
"Wann war’n wir das letzte Mal weg, hm? Voriges Jahr ging es auch nicht, als du …“
„… schwanger warst. Genau. Warum sprichst du es nicht aus?“ Ich trinke einen Schluck Wasser, muss mein Gesicht hinter dem Glas verbergen. Die Narbe im Unterleib zieht. Ich atme tief durch. „Ringelpiez mit Anfassen. Was sagt denn Babs dazu?“
Frank räuspert sich. „Ja, doch, findet sie gut.“ Er greift sich in den Hemdkragen. „Jedenfalls hat sie nix gesagt.“
„Sie weiß es noch nicht, stimmt’s?“ Ich muss lachen, obwohl mir nicht danach zumute ist.
„Sie wird es erfahren, so bald ich daheim ankomme.“
„Ich wollt’ sie schon die ganze Zeit besuchen. Ich schaff’s irgendwie nicht.“ Der Satz bleibt mir beinahe im Hals stecken. „Wie geht’s ihr denn?“ Noch während ich spreche, erkenne ich, wie oberflächlich sich meine Frage anhören muss. So, als ob ich nicht wüsste, wie man sich fühlt, wenn man Abschied nehmen musste. Erst von einem Kind, dann von einer Idee.
„Sie hat alles gut überstanden.“ Er macht eine Pause, als müsse er jedes Wort genau abwägen. „Sie kommt klar, denk’ ich. Weißt doch, sie ist hart im Nehmen.“
„Na, du musst es ja wissen.“
„Ach, komm Carla, sei kein Spielverderber!“, sagt Joachim. Genau der schmachtende Singsang, wie er ihn anstimmt, wenn er meint, ich sollte wieder mal meinen ehelichen Pflichten nachkommen.
„Muss es ausgerechnet ein Maskenball sein? Ich würd’ mal wieder ins Theater oder Kino geh’n, dieses Remake mit Richard Gere, wie heißt das gleich noch? Betrug?“
„Untreu.“ Frank hat wieder diesen Blick aufgesetzt, von dem ich mich aufgespießt fühle. Er tänzelt auf mich zu, umfasst meine Taille und schiebt mich sanft, aber bestimmt durch die Küche. „Können wir ja später mal machen!“ Er lacht.
„Kindskopf, alberner!“ Ich kann dem Idioten nicht böse sein.
„So, Freunde. Ich muss!“ Frank wirft sein Sakko über die Schulter. „Bis Samstag dann.“
Wir begleiten ihn zur Tür und schauen ihm nach. Er überspringt jeweils eine Stufe, winkt uns flüchtig zu und verschwindet aus meinem Blickfeld, als hätte es ihn nie gegeben.
„Babs hat’s auch nicht leicht“, sagt Joachim mehr zu sich.
Was er damit meint, will ich nicht wissen.
„Hast doch bestimmt Hunger, hm?“
Ich nicke nur.
„Los komm! Ich hau’ uns schnell ’n paar Eier in die Pfanne!“
„Gute Idee.“ Nur zu gerne würde ich die Verlorenheit ausblenden, die sich wie ein leises Gift in jede Zelle stiehlt und mich lähmt.
Dunkelheit umgibt die Körper wie eine böse Vorahnung. Sie gibt nur ein paar Stellen nackte Haut preis, makellos und mit einem Leuchten, das von innen zu kommen scheint. Die Blondine hat den Kopf in seinen Schoß gelegt. Ihre Fingerspitzen berühren - zart wie Schmetterlingsflügeln - seinen muskulösen Bauch. Mit jedem Atemzug saugt sie seinen Geruch ein und genießt ihre Begierde.
Da bin ich mir sicher, je länger ich das Plakat betrachte.
„Könnte man direkt neidisch werden, stimmt’s?“, sagt jemand hinter mir, sodass mein Herz einen Schlag aussetzt. Ich wirble herum und blicke in Franks belustigtes Gesicht. „Soll wirklich ein guter Streifen sein, ’ne Paraderolle für die Lane … “
„Sag mal, hast du sie noch alle? Mich so zu erschrecken.“ In letzter Sekunde zügle ich meinen Impuls, ihm eine runterzuhauen.
„Sorry! Blöd von mir! Aber als ich dich da sah … Ich dachte halt … Hätt’ ich weiterlaufen sollen, oder was?“
„Und du bist ganz zufällig hier langgekommen. Weißt nicht, dass ich um die Zeit den Laden schließe?“ Wie auf Stichwort beginnt die Glocke der Rathausuhr blechern zu schlagen.
„War im Reisebüro.“ Er macht eine knappe Kopfbewegung. „Komm!“, sagt er und berührt vorsichtig meinen Arm. „Bis zur Kreuzung.“
Schweigend laufen wir nebeneinander. Die Köpfe gesenkt, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben. Einer das Double des anderen. Und obwohl eisige Windböen um die Häuserecken fegen, wünsche ich mir, dass wir immer so weiterliefen, ohne Bestimmung, dass wir keine andere Wahl hätten.
„Ihr wollt in Urlaub fahren? In die südliche Sonne?“, frage ich.
„Mal seh’n. Wenn die Kinder Ferien haben. Babs muss auch mal raus. Is’ alles nicht so einfach. Im Moment.“
„Was? Der Winterblues?“
„Mensch, Carla, frag doch nicht so!“
„Wie soll ich denn …?“
Er bleibt stehen und sieht mich ernst an. „Kannst du dir vorstellen, dass ich unsere Gespräche, unsere Scherze vermisse? Ich komm mir vor wie ein verdammter Schuljunge. Du spukst in meinem Kopf.“ Seine Stimme ist rau und fremd. „Ich kann nix dagegen machen.“
Und plötzlich sehe ich die Szene wieder vor mir, glasklar und messerscharf. Die Geburtstagsfeier von Babs. Ich lehne am Fensterrahmen und beobachte tanzendes Laub. Das Lachen aus dem Nebenraum wird unerträglich. Frank hat mich im Halbdunkeln gefunden, tritt hinter mich, flüstert in mein Haar und küsst für einen Sekundenbruchteil meine Traurigkeit weg.
Er holt mich zurück in den frostigen Winterabend. „Ich frag’ mich oft, was wäre, wenn wir uns früher begegnet wären.“
Ich wünsche mir, dass er mich in den Arm nimmt und mich wärmt, aber ich sage: „Lass’ gut sein, Großer!“ Scharf ziehe ich die Luft durch den Mund ein, dann imitiere ich seine Stimme: „Meine Frau versteht mich nicht mehr!“
Er lacht.
„Ich kann das nicht, Frank!“, flüstere ich. Mit der Kälte kriecht die Angst in mir hoch. Die Angst, enttäuscht zu werden und alles zu verlieren. Meine Haut ist so dünn geworden. „Danke für’s Bringen!“ Der Wunsch, allein zu sein, wird übermächtig. Wer braucht schon Geständnisse, die in eine Sackgasse führen? Das mache ich mit mir aus. Meine Augen tränen vom scharfen Wind.
Babs schält sich als Erste aus ihrem Mantel. Eine Komposition aus Blau und Silber kommt zum Vorschein. Ausgesprochen geschmackvoll, sehr harmonisch, die kleine Meerjungfrau. Wenn es stimmt, dass eine Verkleidung die unterbewusste Sehnsucht danach ausdrückt, was wir sein wollen, dann wünscht sich Babs, die Frau ohne Unterleib zu sein. Verständlich, nach den Erlebnissen der letzten Wochen. Ich hätte ihr beistehen sollen. Ihr sagen müssen, dass man lernen muss, seine Gedanken zu steuern, weg vom Zentrum des Schmerzes hin zu anderen Aufgaben oder auch zu anderen Männern. Alles beginnt im Kopf. Auch das Ende des Kummers. Wir könnten uns immer noch zum Kaffeekränzchen treffen, gegenseitig Händchen halten und unsere Herzen ausschütten. Besser nicht. Ich bleibe auf Distanz.
Mein Schweigen ist wenigstens ehrlich.
So ehrlich wie meine Verkleidung, weil sie keine ist. Ich trage mein kleines Schwarzes. Heute bin ich Verführerin und Trauernde, heute werde ich auf dem Vulkan tanzen. Der Augenblick, in dem ich glaube zu ersticken, ist schnell vorbei.
Frank hat ein Auge unter einer schwarzen Klappe versteckt, aber dafür spüre ich seinen Blick umso intensiver, der über meine bloßen Arme und Schultern spaziert und am Ausschnitt Rast macht. Meine Haut kribbelt. Der Gedanke, ich könnte das Schiff sein, das der Freibeuter der Meere heute entern will, erregt mich.
Nachdem Joachim von der Garderobe zurück ist, setzt sich unsere kleine Prozession in Bewegung.
Hitze schlägt uns entgegen, im Saal kann man sein eigenes Wort nicht verstehen. Ein Mönch und eine Nonne winken uns aufgeregt zu. Fast hätte ich die beiden nicht erkannt, die einen Sechsertisch für uns besetzt halten.
Die Masse tobt und grölt den Text mit, den Anton aus Tirol vorgibt. Er preist gerade seine Figur an, die angeblich ein Wunder der Natur ist. Ein Harlekin wirft eine Papierschlange nach Babs, nimmt sie bei der Hand und zieht sie auf die Tanzfläche. Als wir uns weiter durch die Tischreihen zwängen, bleibt Joachim mit dem wadenlangen Flanellnachthemd hängen. Er sieht so hilflos aus. Ein bisschen tut er mir leid, aber er wollte es ja so.
Bevor Joachim von der Ordensschwester entführt wird, zuckt er mit den Schultern und schenkt mir einen letzten verzweifelten Blick. Babs bleibt auch verschwunden. Unser Tisch ist verwaist. Frank nickt und malt Kreise in die Luft. Seine Aufforderung zum Tanz. Er geht vorneweg, schiebt sich durch das Gedränge, teilt für mich das Meer, mein verwegener Piratenkapitän.
Erst setze ich die Füße fest auf den Boden, dann springe ich, immer höher und höher, und wenn alles vibriert in mir, dann hebe ich ab. Ich habe beinahe vergessen, wie sehr ich diese Verwandlung mag und wie befreiend sie sein kann.
So geschmeidig, wie es mein knappes Kleidchen zulässt, schraube ich meinen Po auf den Barhocker. Frank steht neben mir und fächert uns mit der Getränkekarte Luft zu. „Was willst’n trinken? Sex on the Beach, Leuchtturm?“ Er entscheidet für mich: „Sex ist immer gut.“
In der Spiegelwand kann ich mich sehen, das Hütchen mit dem Tüllschleier verleiht mir etwas Lächerliches. Ich komme mir vor wie eine misslungene Mischung aus Vamp und meiner eigenen Großmutter. Wenigstens ist das Licht vorteilhaft, das, was vom Gesicht übrig ist, sieht jung und erhitzt aus. Die Schatten sind verschwunden.
Wir saugen schweigend an den Strohhalmen, der Cocktail ist klebrig süß. Ich weiß nicht, der wievielte es ist, ich habe nicht mitgezählt. Frank reibt sich an meinem Schenkel. Ich lasse mich nicht lumpen und erwidere den Druck, kein Blatt Papier passt zwischen uns. Er dreht mich schwungvoll zu sich und mir wird schwindlig, als ob ich Karussell fahren würde. Mit meinem Zeigefinger zeichne ich geheimnisvolle Muster auf seine nackte, verschwitzte Brust. Meine roten Krallen wirken billig und obszön und unecht, so wie mein Gekicher. Mir egal, ich amüsiere mich.
„Nimm doch mal die alberne Gardine weg.“ Im nächsten Augenblick hebt er den Schleier von meinem Gesicht. Unsere Blicke verhaken sich. „Warum versteckst’n deine Augen?
„Vielleicht hab ich Angst, dass du meine Gedanken liest.“ Ich bin nicht sicher, ob ich das ausgesprochen habe.
„Du hast schöne Augen, weißt du das? Blau und tief wie das Meer“, blödelt er. Dann wird er ernst, nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich.
Die Lippen sind weich, die Zunge fordernd. Es gibt nur uns beide, wir treiben in einem Raum, der nur aus Zärtlichkeit besteht. Hände streicheln mich, sind überall gleichzeitig, sogar in mir. Seltsam. Ich kann die Berührungen genießen wie schon lange nicht mehr. Ich lasse mich fallen. Das Bett unter mir ist weich, ein Wasserbett, es schaukelt sanft. Das Meer rauscht. Er drückt meine Schenkel auseinander, dringt in mich ein, es geht so einfach. Logisch, denke ich, ich bin klebrig süß und unersättlich. Und billig. Wer ist der Kerl eigentlich, dem ich mein Becken entgegenrecke? Ich öffne die Augen. Er trägt eine Maske, doch ich weiß mit einem Mal, es ist Richard Gere, ja genau, der junge Richard Gere. Er stöhnt, dann spricht er mit Franks Stimme: „Amüsierst du dich?“ Sein Gesicht zerfließt, bevor ich ihm sagen kann, wie sehr ich ihn liebe. Ich schließe die Augen wieder, das Gesicht ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich alles, was geschieht, deutlich erspüre. Er treibt von mir weg, doch ich will, dass er härter zustößt, es darf ruhig wehtun, muss wehtun. Ich bin hart im Nehmen. Ich kralle mich in seinen Rücken, bis ein scharfer Schmerz meine Eingeweide durchzuckt. Das Boot schwankt und droht zu kippen, als der Mann die scharfe Klinge aus meinem Körper zieht. Er nimmt die Augenklappe ab und grinst. Blut läuft über Franks Hand. Dort wo mein Unterleib sein sollte, klafft eine offene Wunde. Ich schreie. Lautlos.
Das Bett neben mir ist leer.
Joachim ist frisch rasiert und geduscht, die Haare noch feucht. Er deckt den Frühstückstisch, als ich in die Küche schlurfe.
„Na du. Kommst gerade richtig“, sagt er aufgekratzt. „Siehst ein bisschen käsig aus.“
Jedes Wort von ihm gleicht einem Paukenschlag, mein Kopf dröhnt.
Er hat Brötchen aufgebacken, Salami hauchdünn geschnitten, Erdbeerkonfitüre und Joghurt auf den Tisch gestellt. Eine Kerze flackert. Er hat sich richtig Mühe gegeben. Beim Anblick des Rühreis dreht sich mir der Magen um.
„Mir ist schlecht.“ Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen, meine Arme baumeln kraftlos an mir herab, als wären sie nur mit wenigen Stichen am Rumpf festgenäht.
„Mach, was du willst! Ich fang jetzt an. Schwofen macht hungrig.“
Es ist nicht mit anzusehen, wie gierig er schlingt. Ich hole mir einen Becher Kaffee aus der Maschine, die ein letztes Röcheln von sich gibt, trete ans Fenster und schaue in den Garten.
„War doch toll gestern, oder? Mal was anderes.“ Er spricht mit vollem Mund. „Weißt du, manchmal ist es ganz einfach: Hürde nehmen und zack …“ Das Brötchenmesser muss ihm aus der Hand gesprungen sein. „Ich bin richtig stolz auf dich, Carla. Ein guter Weg.“
Die Kalendersprüche nerven. Schon lange. Sicherheitshalber vergewissere ich mich, doch er liest nicht ab, er hat das wirklich auswendig gelernt.
„Achim?“, unterbreche ich den Exkurs in die Küchenpsychologie.
„Ja, Schatz?“
„Welche Augenfarbe habe ich?“
Er zögert. Zu lange. “Graublau.“
„Aha.“ Kann man gelten lassen, füge ich in Gedanken hinzu, aber nur, wenn das Meer aufgewühlt ist.
Es beginnt zu schneien. Plötzlich ist es ganz still. Auch in mir. Ich stelle mir vor, wie der Schnee alles zudeckt, die schmutzigen Kieswege, die Sehnsucht und die Scham.