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Lefluna
Auf tollen Straßen gehen wir. Und das in tollen Zeiten. Erst gestern war es wieder so weit: Spaß. Mit Retroflügeln zogen wir über die Stadt. Wir stürmten den Himmel wie einst die Vögel. Wer die heilige Kuh fand, gewann eine Reise zum Planeten seiner Wahl. Wer den Affen aus seinem Käfig befreite, durfte beim nächsten Jetpackrennen mit zehn Metern Vorsprung starten, und wer die singende Madonna vom Turm stieß, bekam tausend virtuelle Credit Points. Das sind ganz schön viele. In der Virtualität kann man einen ziemlichen Radau damit anstellen.
Doch ich wollte die Kuh, und weil fast niemand die Kuh will, bekam ich sie auch. Es heißt, alle anderen Planeten im Universum seien öde und langweilig, dort sei es mit dem Spaß nicht weit her. Mich reizen sie trotzdem, ich weiß nicht warum. Man vermutet, dass ich einen Atavismus habe. Ein altes Merkmal, das sich trotz Gen-Auslese immer wieder durchsetzt. Anscheinend sind manche Merkmale ziemlich zäh.
Ich hab mir Leflunomid ausgesucht, weil auf Leflunomid Gaswesen wohnen. Nur ganz selten schlägt die Evolution diesen Weg ein. Gaswesen sind wie Geister, wenn man sie anfasst, spürt man ein leichtes Kribbeln unter der Haut. Ihre Zellen, sofern man sie so nennen kann, sind komplexe Luftmoleküle, die durch ständig wechselnde Ionisierung miteinander in Verbindung stehen. Im Grunde sind Gaswesen Luftquallen. Manchmal werden sie auch Airjelly genannt.
Als ich heute Morgen in die Raumkapsel stieg, war ich guter Dinge. Und nach vier Stunden Zeitvertreib in der Virtualität war ich da. Ich sah durch die Luke ins All. Vor uns tuckerte Leflunomid auf seiner elliptischen Bahn, eine strahlend weiße Gaskugel, wie die Atemwolke eines Wintergotts. Unsere Raumkapsel drang problemlos in seine Atmosphäre ein und landete auf einer Wüstenebene. Die Piloten gaben mir drei Stunden Zeit, spätestens dann sollte ich zurück sein. Als ich aus der Kapsel stieg, spürte ich mein Herz im Raumanzug hämmern. Was für ein Gefühl, einfach unbeschreiblich … wie konnte das falsch sein?
Mensch, wenn man das den Atavismusgegnern doch nur irgendwie klarmachen könnte!
Es herrschten gute Laufverhältnisse, der Boden unter meinen Füßen war fest und sandig, doch sehen konnte ich kaum etwas, so dicht war der Nebel. Ich fuhr mit einer Hand durch die graue Suppe und staunte: Kleine Luftwirbel folgten meiner Bewegung. Ich machte es nochmal, jetzt schneller, und es passierte wieder. Die Wirbel waren fein und scharf konturiert, wie Schneckenhäuser. Ich breitete die Arme aus und drehte mich im Kreis, bis ich vor Schwindel fast umfiel. Dann trat ich schnell zurück. Ein großer Wirbelstrom hatte sich gebildet. Er stieg langsam nach oben und löste sich erst nach und nach auf.
Ich lachte und rannte los. Und hinter mir her: Wirrrrrrrrbel. Ha! Was ein Spaß! Nie hätte ich das gedacht.
Und die Gaswesen? Ich schaltete meine Sicht auf Infrarot, und siehe da: Sie waren über mir. Tausende von ihnen. Noch in kilometerweiter Entfernung konnte ich kleine rote Punkte schimmern sehen. Alle möglichen Spezies waren dabei: Exemplare so groß wie Häuser trieben auf Luftströmungen sanft dahin; andere beförderten sich mit langen Beinen nach vorn wie Tintenfische; und wieder andere, so schien es, brauchten gar keinen Antrieb, sie zischten nach links und rechts, stießen und rieben sich aneinander, schienen gar zu kommunizieren.
Mich, jedoch, beachtete niemand.
„Hey!“, rief ich, und die Sprecher auf meinem Helm transportieren die Schallwellen nach draußen. „Hey, ihr da oben! Seht ihr mich?“ Ich sprang auf und ab und wedelte mit den Armen hin und her. „Halloooo!“
Sie gingen einfach ihren Gasgeschäften nach. Ärgerlich. Ich hatte mich doch so auf das Kribbeln unter meiner Haut gefreut. Ich wollte eines berühren, eines richtig anfassen. In echt. Naja, vielleicht gab es woanders noch welche, die nett waren.
Ich ging ein paar Schritte und blieb gleich wieder stehen.
Über meinem Kopf schwebte eines. Ich ging nach rechts und es flog mit. Ich ging nach links und …
„Hey du!“, rief ich. „Komm mal runter.“
Es sah mich einfach an.
„Nein? Du verfolgst nur gern, was? Hm. Na gut …“
Ich sprintete im Zickzack über die Wüstenebene Leflunomids, und das Gaswesen verfolgte mich wie ein angebundener Luftballon. Ich konnte es einfach nicht abhängen. Ich hörte irgendwann auf zu rennen, weil ich vor Lachen nicht mehr konnte.
Als ich dann aufsah, schwebte das Gaswesen direkt vor mir, auf Augenhöhe. Es pulsierte wie sensibles Wasser. Mir fiel auf, dass es etwas heller als die anderen Gaswesen war, es strahlte so ein zartes Rosa aus. Vielleicht ein Weibchen?
„Lefluna“, nannte ich sie. „Lefluna, schau mal.“ Ich beugte mich und malte zwei Kreise in den Sand. Dann malte ich nochmal zwei. Und etwas weiter weg: vier Kreise.
„Zwei plus zwei“ – mit dem Finger zeigte ich auf die jeweiligen Kreise – „gibt vier. Verstehst du das? Zwei plus zwei gleich vier.“
Prompt teilte sich Lefluna in vier gleich große Kugeln auf.
„Du kannst rechnen, Lefluna!“ Davon stand aber nichts in der Virtualität!
Oder ahmte sie die Form nur nach?
Ich malte einmal drei und einmal vier Kreise in den Sand. Dann zeigte ich mit dem Finger auf Lefluna. Sofort schwebten sieben Kugeln vor mir.
„Erstaunlich …“
Doch dann bildete sie auf einmal zwölf Kugeln. Zwölf Kugeln? Ich verstand nicht. Drei plus vier war sieben … und drei mal vier war zwölf!
Ich klatschte in die Hände. Ich sprang auf und ab. „Wir verstehen uns, Lefluna, wir verstehen uns! Komm“, ich streckte die Hand nach ihr aus. „Komm her, ich tu dir ja nichts, komm, so machen wir das, wo ich herkomme, wir geben uns die Hand.“
Lefluna kam langsam rüber, ganz vorsichtig. „Komm, komm …“ Ich spürte bereits ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen, dann flog sie mit voller Wucht gegen meinen Helm. Batz!
„Doch nicht so grob!“
Sie machte es wieder. Baaaatz.
„Lefluna!“
Sie flog nach hinten und sprang hin und her wie ein Pendel. Ihr Pulsieren hatte zugenommen. Jetzt war's eher ein Rauschen. Sie lachte über mich.
„Na, wart's bloß ab …“
Ich stürmte los und versuchte sie zu packen. Aber Lefluna war flink, sie ging nach hinten, und zwar immer so schnell, dass ich sie gerade nicht zu fassen bekam. Ich konnte mich strecken, wie ich wollte, stets fehlte mir eine Ellenlänge. Fand ich ziemlich gemein. Ich blieb stehen, stützte die Hände auf die Knie und atmete durch. Und Lefluna auch. Sie nahm meine Gestalt an, ein Raumfahrer mit Helm, und beugte sich nach vorn, außer Atem.
„Das kannst du nicht machen, Lefluna!“
Sie richtete sich auf und äffte meine Bewegung nach.
Ich schüttelte den Kopf. Unmöglich, dieses Gaswesen. Aber was konnte man schon machen?
Den Hampelmann? Ich machte einen und Lefluna machte auch einen. Dann machte ich ein paar funky Dancemoves, und Lefluna machte auch ein paar funky Dancemoves. Das gab mir den Rest. Ich breitete die Arme aus und ging auf sie zu. Ich wollte sie umarmen. Lefluna breitete die Arme aus und ging ebenfalls auf mich zu, doch dann, als ich schon glaubte, sie im Arm zu halten, verwandelte sie sich zuürck in eine Kugel und zischte durch meine Beine. Ich drehte mich um, und sie zischte erneut durch meine Beine. Dann sprang sie hoch und rieb sich schnell an meiner Wirbelsäule, hoch und runter, hoch und runter, ich fasste nach hinten, dann kreiste sie um meinen Hals, ich riss die Hände hoch, dann klopfte sie gegen meinen Bauch.
Und das war kein Kribbeln unter der Haut – das kitzelte!
Ich verlor das Gleichgewicht, fiel auf den Boden, und Lefluna machte weiter.
„Hör auf!“, jaulte ich mit Tränen in den Augen. „Hör doch auf, Lefluna!“ Ich wälzte mich auf dem Boden und kicherte und kicherte. Hatte ich in der Heimat jemals so viel Spaß gehabt? Oder in der Virtualität? Ich denke nicht. Sollten sie doch alle ihre Jetpackrennen fahren, ich war gern woanders. Ich liebte das Unbekannte.
Etwa piepste in meinem Helm und ich sah auf die Uhr. In einer Viertelstunde musste ich zurück sein. Ach … wie die Zeit doch verfliegt, wenn man Spaß hat.
„Ich muss zurück“, sagte ich ihr. „Guck nicht so, ich muss zurück zur Raumkapsel, und nein, ich kann dich nicht mitnehmen, das weißt du ganz genau, fang gar nicht erst damit an.“
Sie folgte mir trotzdem. In Form eines Raumfahrers, sie lief den ganzen Weg mit mir zurück. Schweren Herzens, Lefluna und ich. Ich versuchte ihre Hand zu nehmen, aber sie wollte nicht.
Wir warten jetzt seit zwanzig Minuten. Die Raumkapsel ist noch nicht da. Macht nichts, so kann ich noch ein bisschen Zeit mit Lefluna verbringen. Mir reicht der Sauerstoff für eine weitere Stunde. Die Piloten meinten irgendwas von wegen Abstecher nach Vexvelt … kein Problem. Im Universum gibts doch so viel zu tun, bestimmt ist das ganz normal, wenn sie ein bisschen länger brauchen. Vielleicht suchen sie nach Mineralien, vielleicht ballern sie aus Jucks auf eine Asteroidenkette. Wer weiß das schon? Ich kenne leider keine Piloten. Ich bin auch noch nie einem Menschen begegnet, der die Kuh gefunden und die Reise gewonnen hat. Komisch eigentlich …
„Oder, was meinst du, Lefluna? Die Piloten kommen schon zurück, oder? Die würden mich doch nicht hier lassen ... warum auch? Warum sollten sie das machen? Komm, wir spielen noch ein bisschen.“
Ich breite die Arme aus, gehe auf sie zu und werde überrascht. Lefluna lässt es zu. Sie umarmt mich richtig, und es kribbelt von Kopf bis Fuß. Sie umarmt mich richtig fest.
„Ist alles okay?", frage ich sie, denn sie wirkt fast traurig. Aber natürlich bekomme ich keine Antwort. Mir fällt nur auf, dass es ganz still hier draußen ist. Wirklich ganz still. Und der Nebel ist jetzt irgendwie dichter. Ich muss an meinen Atavismus und seine Gegner denken. Ist das der Grund? Wegen der Neugierde? Wegen der Fragen? Aber wie könnte ich gefährlich sein?
Ich nehme die linke Hand, lasse sie kreisen, und während Lefluna mir noch im Arm liegt, sehe ich zu, wie ein kleiner Wirbel sich sanft nach oben dreht und sich dann nach und nach auflöst.