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- 10.07.2007
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Kurz vor Schluss
Ich wache auf, weil Nick vor meinem Bett steht und mich anstarrt. Keine Ahnung wie er das macht, aber ich werde jedes Mal wach, ohne dass er mich anfasst oder etwas sagt.
„Ist was passiert?“, frage ich, obwohl ich schon weiß, dass es so sein muss. Er weckt mich nie ohne Grund. Meine Mutter hat immer gesagt, eines Tages werde ich den Weltuntergang verschlafen. Nick würde mich lassen.
„Die Dahlkamps haben heute Nacht die Abkürzung genommen“, sagt Nick.
Mit einem Schlag bin ich richtig wach. „Scheiße. Mit den Kindern?“
„Ja. Tut mir leid. Aber es wird warm heute. Wir sollten gleich anfangen.“
Ich hasse es, wenn Leute die Abkürzung nehmen. Es ist so egoistisch, keiner denkt daran, dass hinterher jemand aufräumen muss. Aber wenn man Kinder hat, kann ich es sogar irgendwie verstehen. Wie soll man das aushalten, jeden Tag in ihre Augen zu schauen und zu wissen, dass sie nie erwachsen werden und einen enttäuschen können? Und wenn es schlaue Kinder sind, stellen sie irgendwann Fragen, die man nicht beantworten will. Oder kann.
Die Dahlkamps haben es wenigstens sozialverträglich gemacht. Nicht wie dieser Arsch in der Platanenstraße, der seine ganze Familie erschossen hat, eine furchtbare Sauerei. Hier waren es Tabletten, nehme ich an. Und sie haben einen Zettel in unseren Briefkasten gelegt, damit wir es nicht erst am Geruch merken. Gute Nachbarn, bis zuletzt.
Trotzdem bedeutet das, dass wir vier Körper zum Krematorium bringen müssen, zwei davon so klein, dass ich sie alleine die Treppe runter tragen kann. Sie waren Zwillinge, höchstens ein oder zwei Jahre vorher geboren. Vor dem Tag, an dem wir alle erfahren haben, dass es eine schlechte Idee ist, noch Kinder in die Welt zu setzen. Ich bin so froh, dass Nick und ich uns nicht sicher waren, ob wir ein Baby wollen.
Wir haben echt Glück, dass der Motor den Biodiesel anscheinend ganz gut verträgt. Ich weiß nicht, was wir ohne Auto machen würden. Wenn da jemand die Abkürzung nähme, oder einfach einen Herzinfarkt hätte, was sollten wir dann machen? Ich verstehe total, dass jetzt keiner mehr auf Ölbohrplattformen arbeiten will, aber ich bin wirklich dankbar, dass es Alternativen gibt. Wenn es die dicke Omi von gegenüber erwischt, glaub ich nicht, dass wir das mit dem Lastenrad hinkriegen.
Das sind keine netten Gedanken. Pietätlos, hätte meine Mutter gesagt. Aber anders schafft man das nicht. Nick und ich helfen oft beim Aufräumen, wenn Leute abkürzen. Wir haben langsam so was wie Routine. Wir wissen, du kannst dabei an alles denken, nur nicht an das, was du gerade machst.
„Ich will heute ins Museum“, sage ich. „Kommst du mit?“
„Klar. Wenn du dich in Farbe wälzt und deinen nackten Hintern an die Wände drückst, lass’ ich mir das nicht entgehen.“
„Arsch“, sage ich.
„Von mir aus“, sagt Nick. „Aber das klingt so unfein. Nicht besonders künstlerisch.“
Ich will nicht lachen, nicht mit einer toten Familie auf dem Anhänger. Aber es blubbert einfach aus mir raus. Und es fühlt sich gut an.
Nick und ich sind stark. Wir passen aufeinander auf. Von uns beiden wird keiner die Abkürzung nehmen, und wir werden das Beste machen aus der Zeit, die uns noch bleibt. Das gottverdammt Allerbeste.
Wir wollen nicht auf die Asche warten. So gut haben wir die Dahlkamps nicht gekannt. Alex wird sich darum kümmern. Gar kein Problem, sagt er, während er in meinen Ausschnitt schielt. Ich wünschte, heute wäre jemand anderes im Dienst.
Alex ist eigentlich ganz in Ordnung, wenn man ihn näher kennt. Und wir kennen ihn gut, weil wir so oft hier sind. Es ist nur schwer auszuhalten, wie er jedes Mal wieder mit seiner Nummer anfängt.
„Wieder ein paar Opfer, die drauf reingefallen sind“, sagt er. „Ich versteh’ nicht, warum die Leute das nicht kapieren, dass die den Mainstreammedien einfach jeden Schwachsinn abkaufen. Es gibt keine Beweise für eine Hypernova. Null! Die Dinger sind so selten, es gibt vielleicht eine in einer Million Jahren pro Galaxie. Und dass es ganz in unserer Nähe passiert, und der Gammablitz genau auf die Erde trifft, das kannst du vergessen.“
Ich könnte mit ihm streiten, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, den Spucketröpfchen auszuweichen. „Vielleicht haben sich die Astronomen ja verrechnet“, sage ich.
Vielleicht steigerst du dich jetzt nicht rein und ersparst mir den Rest des Vortrags.
„Oh nein, das war kein Irrtum. Die haben gewusst, was sie tun“, sagt er. Wieder einmal.
„Bevölkerungskontrolle, darum geht es. Ich meine, von all den Dingen, die uns umbringen könnten, das Klima, Atombomben, Meteoriten, soll es ausgerechnet so ein Scheiß-Blitz sein? Da hätten sie auch gleich die Zombieapokalypse vorhersagen können! Aber die Schafe haben es natürlich alle geschluckt, genau wie es geplant war.“
Ich weiß nicht, was für ein Plan das gewesen sein soll. Schritt eins, sag den Leuten, die Erde hat noch fünf bis zehn Jahre, bevor alles Leben ausgelöscht wird, ein dummer kosmischer Zufall und alles ist vorbei. Schritt zwei: Alle schmeißen hin, Regierungen brechen zusammen, Selbstmorde überall. Schritt drei: Profit! Aber ich sage nichts. Jeder hat seine eigene Art, mit der Sache umzugehen, und vielleicht sind Verschwörungstheorien sogar die beste. Auf seine Art ist Alex wohl ganz glücklich. Schade, dass ich nicht so gestrickt bin.
Nachdem er seine ganze Predigt abgespult hat, ohne dass jemand widersprochen hat, scheint Alex nicht mehr zu wissen, was er sagen soll. Er fängt an zu pfeifen. Ich glaube, er arbeitet hier, weil es ihm ein Gefühl von Überlegenheit gibt. All die Leute, die abkürzen – für ihn sind das alles Schafe, die auf die Propaganda reingefallen sind.
Ich unterschreibe die Papiere. Es gibt nicht mehr viel Bürokratie, aber wenn es um den Tod geht, bemühen wir uns darum, die Form zu wahren. Zumindest die meisten von uns.
„Schönen Tag noch“, sagt Alex zwischen zwei Pfeifmelodien.
„Danke“, sage ich. Das Wort fällt aus meinem Mund wie ein Stein.
Der Weg nach draußen kommt mir viel zu weit vor. Wenn ich eines Tages nicht mehr könnte? Würde er dann auch pfeifen?
Nick legt einen Arm um mich. „Hey“, sagt er. „Denkst du was Trauriges?“
„Unsere Nachbarn haben sich umgebracht“, sage ich.
Er schüttelt den Kopf. „Eva, nicht. Sie haben die Abkürzung genommen. Jeder entscheidet für sich.“
Ich atme tief durch. „Du hast Recht. Das wirklich Traurige war der Versuch, Yesterday zu pfeifen.“
Wenn Nick schläft und ich ihn anstarre, passiert nichts. Ich teste das eine ganze Weile. Dann probiere ich es mit einem Kuss. Als das auch nichts bewirkt, ziehe ich ihm die Decke weg.
„Sorry“, sage ich. „Es ist alles in Ordnung, aber wir haben den Termin um zehn. Und mit wir meine ich dich.“
„Kein Problem“, sagt er. „Danke fürs Wecken.“
„Frühstück?“ frage ich.
„Lieber nicht. Aber hinterher kriege ich so viel Eis wie ich will.“
„Nix da, das ist bei Mandeln. Die sind weiter oben.“
Nick schiebt die Unterlippe vor und ich muss lachen. Er lächelt auch, aber ich kann sehen, dass ihm nicht danach zumute ist.
„Fahren wir?“
„Es ist um die Ecke“, sage ich.
„Aber hinterher …“, sagt er.
„Hinterher hole ich dich ab, und du kriegst so viel Eis wie du willst.“
Beinahe hätte ich gesagt „Sei kein Baby“, aber ich habe die Kurve gekriegt. Manchmal schaffe ich es, einem Fettnäpfchen auszuweichen.
Es stimmt nicht, dass wir nicht sicher waren, ob wir Kinder wollen. Ich war nicht sicher.
Das mit der Vasektomie war Nicks Idee, aber das macht es nicht leichter für ihn.
Der Arzt ist supernett. Er entschuldigt sich hundert Mal dafür, dass es mit dem Termin so lange gedauert hat– die Nachfrage zurzeit ist riesig. Sie werden anrufen, wenn es vorbei ist, damit ich Nick abholen kann.
Ich nehme seine Hand. „Alles okay?“
„Klar. Alle sagen, die Spritze wäre das Schlimmste, alles andere ist halb so wild.“
„Ich liebe dich“, sage ich.
„Ich liebe dich auch“, sagt er.
„Du musst auch immer das letzte Wort haben“, sage ich, und er zeigt mir den Mittelfinger.
Es wird nicht lange dauern. Ein winziger Eingriff, hat der Arzt gesagt.
Ich gehe solange zum Markt. Mal sehen, ob es Eis gibt.
Einkaufen hat sich sehr verändert. Eigentlich kann man es gar nicht mehr so nennen. Seit wir keine Zukunft mehr haben, interessiert sich niemand mehr für Geld.
Viele Leute verbringen sehr viel Zeit in den Gärten. Mich lenkt das nicht genug ab, aber es ist gut, dass es für so viele funktioniert. Um diese Jahreszeit bedeutet es: Tonnenweise Erdbeeren.
„Eva! Du nimmst ein paar, oder?“
Margarete. Sie hat sich auch sehr verändert. Bevor die NASA es bestätigt hat, ist sie morgens als Erste in der Straße aus dem Haus und abends als Letzte wieder heimgekommen. Und am Wochenende hat man sie nur gesehen, wenn sie sich beschweren kam, weil die Kinder im Hof zu laut waren.
Jetzt sieht man sie entweder im Gemeinschaftsgarten oder hier. Ich bin immer noch nicht sicher, ob sie jemals schläft, aber sie wirkt viel zufriedener. Und ihre Erdbeeren sind die besten.
„Ja, ich nehme gern welche“, sage ich.
Sie reicht mir einen Beutel – genau die richtige Menge für zwei Leute, die gerne Erdbeeren essen.
„Deine Kette ist hübsch“, sagt sie.
„Cool, oder? Ist aus Papier“, sage ich. „Eine Freundin von mir bastelt grade eine nach der anderen.“
„Papier, ehrlich? Die Perlen sehen so …“
„Nimm sie“, sage ich spontan, und löse den Verschluss.
„Nicht doch“, sagt Margarete, aber ich drücke ihr die Kette in die Hand. Irgendwie fühlt es sich gut an, mal wieder etwas gegen etwas anderes zu tauschen. Fast so, wie wir früher eingekauft haben.
„Meine Freundin wird sich freuen, wenn sie mir noch eine basteln kann“, sage ich. „Sie sagt, es lenkt sie ab.“
„Na dann … vielen Dank“, sagt Margarete. Sie legt die Kette um, sorgfältig, als wäre es ein Ritual. Dinge, die ablenken, sind wichtig. Wir alle brauchen irgendetwas, und wir alle respektieren, was für andere funktioniert.
„Weißt du, ob der Eismann heute da ist?“, frage ich.
Sie lacht. „Er hat gesagt, er will kommen. Aber man kann nie sicher sein. Wenn er an seinen Erfindungen herumschraubt, vergisst er manchmal, welcher Wochentag ist.“
Ich lächle, verabschiede mich und mache Platz – hinter mir ist inzwischen eine kleine Traube von Leuten, die Erdbeeren wollen.
Ich beschließe, auf den Eismann zu warten. Es ist nicht so leicht. Stille, einsame Momente, in denen ich nichts zu tun habe, machen mich nervös. Was, wenn es genau jetzt passieren würde, wo Nick nicht bei mir ist? Wo das letzte, was ich zu ihm gesagt habe, ein blöder Witz war? Aber ich kämpfe dagegen an. Ich setze mich auf eine Bank, fühle die Sonne auf meiner Haut, höre dem Plätschern des Springbrunnens und dem Gurren der Tauben zu. Ich entspanne mich so sehr, dass es mich anstrengt.
Und ich werde belohnt – von weitem ist die Melodie des Eiswagens zu hören. Der Eismann hat ihn selbst gebaut, und obwohl er viele andere Dinge baut, ist das jetzt sein Name und wird es bleiben, jedenfalls solange er niemandem verrät, wie er eigentlich heißt.
Das Schlimme am Eismann ist, dass er so viele Kinder anlockt. Aber daran denke ich jetzt nicht. Ich habe eine Mission.
„Was kann ich denn für dich tun?“, fragt der Eismann.
„Möglichst viel und möglichst viele verschiedene Sorten“, sage ich. „Mein Freund hat heute eine Mandel-OP.“
Gerade als ich die ganze Beute verstaut habe, klingelt mein Handy. Ich fahre zum Krankenhaus, wie ich es versprochen habe.
Nick humpelt ein bisschen auf dem Weg zum Auto, und ich versuche, mitleidig dreinzuschauen, aber es ist schwer, weil ich so erleichtert bin. Endlich müssen wir uns darüber keine Gedanken mehr machen. In letzter Zeit war es nicht mehr so einfach, Kondome zu bekommen.
„Ich hoffe, dir ist wirklich nach Eis“, sage ich. „Das ganze Gefrierfach ist voll.“
„Hmm“, sagt Nick.
„Tut es weh?“ frage ich.
„Nicht wirklich“, sagt er und schaut aus dem Fenster. Dann schweigt er, bis wir zuhause sind.
„Hey“, sage ich. „Denkst du an was Trauriges?“
Endlich sieht er mich wieder an. „Ja“, sagt er.
Ich überlege nicht lange. „Kommt ein Mann zum Arzt. ̍Herr Doktor, ich will mich kastrieren lassen. ̍ ̍Sind Sie da auch ganz sicher? ̍ fragt der Arzt. ̍Ja, meine Frau besteht darauf. ̍ Als der Mann heimkommt, fragt die Frau: ̍Und, wie war’s beim Impfen? ̍ Und der Mann schlägt sich an die Stirn und sagt: ̍Ach, Impfen …! ̍“
„Der ist so was von schlecht“, sagt Nick. Aber er lacht.
Humor, denke ich. Ob es eine Möglichkeit gibt, den ins Museum zu bringen?
Das Museum ist eigentlich ein Bunker. Es geht das Gerücht um, dass es als eine Art Rettungskapsel gedacht war, mit künstlicher Sauerstoffversorgung, hydroponischen Gärten, gigantischen Vorräten an Konservendosen, Wasser und Medikamenten. Für eine Handvoll Reicher und Mächtiger, die glaubten, so könnten sie sich retten. Aber als das herauskam, heißt es, haben die Arbeiter sich einfach geweigert, das Ding zu Ende zu bauen.
Ich weiß nicht, ob das stimmt. Die einzige Quelle für die Geschichte ist Olli, und er ist nicht gerade objektiv. Olli trinkt eine Menge selbstgebrannten Fusel, und er ist so eine Art Kommunist.
Er tut mir leid. Sein Leben lang hat er davon geträumt, dass so etwas passiert, dass die Menschen aufhören, nach der Pfeife der korrupten Eliten zu tanzen, dass jeder in Freiheit leben kann und alles geteilt wird. Und nun ist es soweit gekommen, aber nur, weil in ein paar Jahren die Welt untergeht.
Als wir das Museum entdeckten, war es bloß ein Treffpunkt. Leute, die gern reden und andere zum Reden suchten. Das andere hat sich nach und nach ergeben.
Nichts Lebendiges wird überleben. Vielleicht ein paar Bakterien in der Tiefsee. Aber was wäre, wenn eines Tages Außerirdische landen? Oder wenn sich aus den übriggebliebenen Bakterien wieder komplexe Lebensformen entwickeln, eine neue Zivilisation?
Wir wissen alle, dass es nicht besonders wahrscheinlich ist. Im Grunde ist das, was wir machen, so etwas wie Religion. Aber wir wollen ihnen etwas hinterlassen, den zukünftigen Besuchern des Museums. Ihnen sagen, dass es uns gegeben hat. Vielleicht sogar, wer wir waren. Angefangen hat es mit der einfachsten Höhlenmalerei – Hände mit Farbe bestrichen und an die Wände gedrückt. Fast alle, die irgendwann dazukommen, tun das – wie eine Signatur. Das mit den Ganzkörperabdrücken haben nur ein paar gemacht, und nur ein einziges Mal, auch wenn Nick immer noch Witze darüber reißt.
Inzwischen ist jedenfalls viel mehr daraus geworden. Ein riesiges verrücktes Projekt, oder viele kleine verrückte Projekte.
Nick arbeitet gerne mit den Leuten, die Artefakte für das Museum sammeln. So gut wie alles, was nicht nach ein paar Jahrhunderten zu Staub zerfällt, ist ein Artefakt, Sachen aus Metall, Stein, Glas oder Kunststoff, vielleicht sogar welche aus Holz. Die schwierige Frage ist, wie man den Besuchern klar machen könnte, wozu diese Dinge einmal gut waren. Nick beschäftigt sich nicht viel mit der Theorie. „Ich trage einfach gern Sachen durch die Gegend“ sagt er. Und es stimmt. Er war schon immer der einzige, der sich freiwillig gemeldet hat, wenn jemand Umzugshelfer brauchte. Er mag körperliche Anstrengung, aber nur, wenn sie einen Zweck hat. Sport ist ihm zu langweilig, sagt er.
Ich arbeite gerne mit Lien. Ihr Projekt gefällt mir am besten.
Es scheint einfach richtig, den Besuchern zu zeigen, dass es nicht nur uns gegeben hat.
Inzwischen hat unser Team viele Wände gefüllt, und ich muss erst mal eine Weile suchen, bevor ich Lien finde. Der neue Raum ist den Fischen gewidmet. Drei von vier Wänden sind schon mit Umrissen in allen Größen gefüllt.
„Schön, dass du kommst“, sagt Lien. „Ich mache hier erst mal Schluss. Der Mandarin-Kurs, du weißt schon.“
Ein paar Leute vom Artefakt-Team sind der Meinung, man müsste alles im Museum beschriften. Natürlich werden die Besucher keine von unseren Sprachen lesen können. Um ihnen etwas zu erklären, bräuchte es eine Art Rosetta-Stein, aber die Schwierigkeit ist eben, dass der Rosetta-Stein seinerzeit nur etwas genützt hat, weil man eine der Sprachen darauf schon kannte. Und jetzt ist jemand auf die Idee gekommen, dass es mit chinesischen Schriftzeichen vielleicht gehen könnte, weil man für jedes Wort nur ein einziges Zeichen braucht.
„Glaubst du, dass es funktionieren wird?“, frage ich.
„Nein“, sagt Lien und lächelt. „Aber das macht doch nichts. Die Leute wollen lernen. Es lenkt sie ab. Und ich mache es auch gern.“
„Na dann viel Spaß“, sage ich. „Lass mich ruhig mit den Haien alleine.“
Lien sieht mich prüfend an. „Ist bei dir alles okay?“, fragt sie.
„Mir geht’s prima“, sage ich.
„Na dann“, sagt Lien.
Ich nehme mir ein Buch und beginne, die Fische in den richtigen Farben auszumalen. Liens Umrisszeichnungen sind perfekt. Die fertigen Bilder sehen beinahe lebendig aus. Mir gefällt die Vorstellung, dass eines Tages irgendein kleines Alien durch das Museum watschelt und erkennt, dass an den Wänden Lebewesen dargestellt sind, die es einmal hier gegeben hat. Und beim Ausmalen kann ich alles vergessen.
Ich male und male, und erst als Lien zurück kommt, merke ich, dass mein Nacken steif ist und meine Finger weh tun.
„Die sind super geworden“, sagt sie. „Vor allem der Hammerhai.“
„Ja, oder? Ich finde, das ist unser bester Raum bisher. Es ist wie ein Denkmal für all die Tiere.“
„Die Besucher werden keine Ahnung haben, dass wir die meisten von ihnen ausgerottet hätten, wenn der Blitz nicht gekommen wäre“, sagt Lien.
Ich stutze. So ein Kommentar ist ungewöhnlich für sie.
„Ist bei dir alles gut?“, frage ich.
„Alles bestens. Ich weiß, die meisten Leute finden es komisch, aber ich bin jetzt glücklicher als vorher. Ich habe Biochemie studiert, weil meine Eltern das wollten, und mich nichts getraut. Weißt du, was ich meine?“
„Ich glaube schon“, sage ich.
„Nick wartet oben auf dich“, sagt Lien. „Ich glaube, er ist ziemlich k.o. Sie haben Musikinstrumente hergebracht, Klaviere und so.“
Ich merke, dass ich auch ziemlich k.o. bin. Aber glücklich.
Wir umarmen uns kurz, dann greift Lien wieder zum Pinsel. Sie gehört auch zu den Menschen, bei denen ich nicht sicher bin, ob sie jemals schlafen.
Auf dem Weg zu Nick versuche ich mir vorzustellen, ich wäre ein Besucher in einer fernen Zukunft, der das Museum zum ersten Mal sieht. Es ist ein buntes, absurdes Sammelsurium. Kunstwerke und Alltagsgegenstände, die kreuz und quer in den Räumen herumstehen. Tausende Bilder an den Wänden, Landschaften, Gegenstände, Porträts von Menschen, und in den Räumen von meinem Team: Säugetiere, Vögel, Reptilien, Käfer, Käfer, Käfer, Käfer. Keine Chance für die Besucher, irgendwas zu verstehen, chinesische Schriftzeichen oder nicht. Aber es ist wunderschön. Und es fühlt sich immer wieder gut an, hierherzukommen. Wir tun, was wir wollen. Wir arbeiten zusammen oder für uns allein, je nachdem, was besser funktioniert. Wir sind kreativ. Und wir lassen jedem seinen Raum, auch den Leuten, die unbedingt Ganzkörperabdrücke hinterlassen wollen.
Warum, denke ich, haben wir so was erst kurz vor Schluss hinbekommen? Wir haben auch vorher gewusst, dass wir irgendwann alle sterben werden.
Vielleicht sind meine Augen feucht, als ich beim Eingang ankomme. Nick liegt in einem Sessel, der wahrscheinlich nicht wegen seiner Artefaktqualitäten hier gelandet ist. Aber er springt sofort auf, als er mich sieht.
„Hey“, sagt er. „Denkst du an was Trauriges?“
„Ich weiß nicht“, sage ich.
„Komm“, sagt er. „Wir haben immer noch jede Menge Eis.“