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Kollektiv
Der dritte Tag brach an.
Alles war wie die Tage davor: Es war unerträglich heiß im Zelt, Hunger und Durst trieben ihn raus, der Bass dröhnte. Sie waren hier, um der Monotonie zu entkommen, um Abstand zu gewinnen – und trotzdem war jeden Tag alles gleich.
Er setzte sich auf einen der Campingstühle, betrachtete den Sonnenaufgang, aß Toastbrot und machte sich ein Bier auf. Um ihn herum erwachte alles zum Leben. Jeder hatte etwas zu erzählen und jeder erzählte es, er selbst lachte mit, aus Gewohnheit, aber erzählte nicht von seinen Erlebnissen. Sie verkörperten für ihn etwas anderes als nur Vergnügen.
Es war dunkel, doch hell genug, um zu tanzen. Es ging um mehr als das Hören von Klängen oder rhythmische Bewegungen. Für neunzig Minuten, für fünftausendvierhundert Sekunden waren diese Prototypen von Mensch ein Organismus, der die Fesseln des Denkens ablegte, sich den Endorphinen und dem Rausch der Musik hingab. Nichts war mehr von Bedeutung. Zeit, Realität, Gott – nur das Kollektiv und das Gebetskauderwelsch aus den Boxen.
Er nahm ihre Blicke wahr und sie seinen. Glücksgefühle wurden freigesetzt mit jeder Berührung, mit jedem Kuss.
Doch das Kollektiv zerbrach mit dem letzten Klang.
Jeder, der vorher Teil des Ganzen gewesen war, wurde zurückgeschleudert in die Realität, doch niemand war traurig darüber, alle gingen weiter, um wieder zum Kollektiv zu werden an einem neuen Ort mit neuen Klängen.
Sie und er blieben noch, waren ins Unbekannte des anderen verliebt. Schweigend gingen sie auf die Wiese, wo es hunderte von ihrer Sorte gab, alles Liebende, von Bewegung und Musik zusammengebracht. Sie deutete auf ein Tütchen in ihrer Handtasche, er auf die Hülle in seinem Portemonnaie.
Es war vollbracht, der Zustand der Bedeutungslosigkeit erreicht. Zeit wurde nicht mehr wahrgenommen, Realität verschoben, auf der Wiese wurden beide zu Gott, zu reiner Liebe für alles und füreinander.
Er grinste, als er darüber nachdachte. Der getrocknete Schweiß und der Staub der Tanzfläche machten ihn noch brauner, als er eigentlich war. Ja, eine Dusche war eine gute Idee.
Auf dem Weg dorthin schwiegen beide. Er genoss das Gefühl, etwas zu verlieren.
Unter der Dusche dachte er nach über all die verpassten Momente seines kurzen Lebens. Wege, die er gehen wollte und niemals gehen wird, die kleine Schneeflocke, die er sein wollte, aber nie sein würde. War das der Grund für das alles hier, sollte es seine Sinne taub machen und seine Zukunft ausblenden?
Den ganzen Tag versuchte er, eine Antwort zu finden. Im Delirium fand er nur seine verzogene Person, im Traum nur seine Wünsche, in der Realität nur die Routine. Was ihm blieb, waren seine Frage und die Hoffnung, das Kollektiv werde ihm eine Antwort geben. Ihm schien, als wiederholten sich die Ereignisse.
„Nein!“ schrie es in ihm auf. Der Drang, eine Antwort zu finden, war größer als der, Teil einer Masse zu sein. Er lief, lief immer weiter, bis er den Ort erreicht hatte, an dem er sie das letzte Mal getroffen hatte.
Dort saß sie, schaute zu ihm auf und fragte: „Warum hast du nichts gesagt?“
Er merkte, dass er keine Antwort brauchte, sondern eine Frage.
„Es war die Angst, etwas zu verändern in meinem Leben, denn so, wie es ist, mag ich es. Es geht mir eigentlich gut.“
Er lief wieder zurück, um ein Teil des Ganzen zu werden.