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Kümmer dich um Mutti
Kümmer dich um Mutti
"Kümmer dich um Mutti!" Er nahm seine Reisetasche und die Tür fiel ins Schloss. Da stand sie mit ihren unfertigen sechzehn Jahren und das Herz pochte bis zum Hals. In ihr mixte sich ein fataler Cocktail aus Gefühlen zusammen. Wie ferngesteuert bewegten sich ihre Füße zur Mutter in die Küche. Die saß auf einem Hocker, mit zusammengesunkenem Körper, den Kopf mühsam emporhebend.
Sie sah aus, als habe sie Tage geweint, so verquollen waren ihre Wangen und Augen, als sie den Kopf hob.
"Ach, Kati, Männer sind alle Schweine", brach es aus ihr heraus und die unentwegt laufenden Tränen mischten sich mit Rotz.
"Hat er gesagt, wohin er geht?"
"Nein, du weißt doch, das sagt er nie. Ich kann es mir aber denken. Er hat wieder so eine gefunden, dieses Mal vermutlich in Frankfurt, die wird es sein." Ihr gerötetes Gesicht zeigte Abscheu.
"Weißt du wann er wiederkommt? Hat er was gesagt?" Kati lehnte sich gegen den Türrahmen und wartete, bis sich ihre Mutter zu Ende geschneuzt hatte.
"Nein," schüttelte sie den Kopf.
"Also wird er am Sonntagabend wiederkommen , weil er ja Montag arbeiten muß oder?" überlegte Kati.
"Ich weiß es nicht. Er sagt nichts. Man weiß nie, weshalb er unterwegs ist. Wie häufig er in der letzten Zeit behauptet hat, eine Dienstreise machen zu müssen" , sie schneuzte kräftig in ihr Taschentuch. Es war durchgeweicht und sah erbärmlich zerfetzt aus. Kati öffnete die Küchenschranktür, dort wo die Taschentuchvorräte aufbewahrt wurden, angelte eine neue Packung hervor und reichte sie ihr. Dann zog sie sich den zweiten Küchenhocker hervor und es entspann sich zwischen ihr und ihrer Mutter das seit Jahren immer gleiche Gespräch über das, was nun zu geschehen habe.
Was der Vater für ein Mensch ist, wieso er so etwas macht, wieso sie, die Mutter nichts dagegen unternimmt, wieso sie ihn nicht verläßt, immer dasselbe.
Kati tröstete, hörte zu, fühlte mit, Mutter redete, weinte, verzweifelte und je tiefer Kati in die gemeinsame Abneigung gegen diesen Mann mitgezogen wurde, desto größer wurde ihr schlechtes Gewissen ihm gegenüber.
Der Trost, den sie der Mutter spendete, hatte den Verrat am Vater zum Preis.
Nur diesesmal, da hatte er gesagt, dass sie sich um Mutti kümmern solle. Diesesmal hatte er ihr diese Aufgabe zugeteilt, sie somit bewilligt und ihr damit ihr schlechtes Gewissen genommen.
Er hatte dafür etwas anderes zurückgelassen. Das schale Gefühl für das Wohl dieser Frau verantwortlich zu sein, ohne ihn zur Verantwortung ziehen zu können. Mit seinen vier Worten hatte er das Band zwischen Vater und Tochter zerschnitten, die Zeit ihrer kindlichen Unbefangenheit beendet und sie zu seiner erwachsenen Helferin gemacht.
Kati war eingefangen in die wütende Trauerwelt der Mutter. Die Diskussionen mit der Mutter drehten sich wie immer im Kreise.
Am Ende hatte es Kati meistens geschafft, wenigstens für Ablenkung zu sorgen. Man ging am Abend gemeinsam in ein griechisches Restaurant. Man spielte Mutter und Tochter, zwei Freundinnen, die sich befreit und gelöst benahmen, flirteten und sich beschwipsten und übermütig mit dem "Nun sind wir stark"-Gefühl in die Wohnung zurückkamen.
Und Kati schöpfte Hoffnung. Dass endlich alles anders ausgehen würde. Wie so oft hatte Kati ihrer Mutter beteuert, sie würde mit ihr ausziehen aus der Wohnung. Woanders etwas Neues suchen, nichts Teures, nur frei sein, sich nie wieder ärgern müssen über ihn.
"Und wenn das mit dem Geld nicht reicht, das du verdienst, dann geh ich nebenher jobben," hatte Kati beteuert, um das ewige Argument "wovon sollen wir denn leben, das reicht doch nicht" gleich zu beseitigen. Die Mutter hatte dazu geschwiegen, aber Kati konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass sie darüber nachdachte.
Und diese Nacht ging Kati mit dem wohligen Gefühl ins Bett, dass sich etwas ändern könnte.
Der nächste Morgen war ein Samstag und beide schmiedeten sie Pläne für den Tag, wie wenn sie Urlaub hätten. Sie zogen gemeinsam durch die Geschäfte, hatten sich wie zwei Freundinnen, die sich lange nicht mehr gesehen hatten, ununterbrochen zu erzählen, gingen abends aus und amüsierten sich die Nacht lang voller Unbeschwertheit.
Und Kati malte sich kurz vor dem Einschlafen ihre zukünftige gemeinsame Wohnung aus. Vielleicht konnte sie ein größeres als dieses winzige Kinderzimmer beziehen?
Der Sonntag begann spät, sie schliefen wegen der langen Nacht bis in den weiten Vormittag und schwatzten während sie bei Kaffee, Brot und Käse in der Küche saßen. Den Abend wollten sie nochmals zu dem griechischen Lokal gehen, wo sie sich schon vor zwei Tagen so wohl gefühlt hatten.
So saßen sie um vier Uhr nachmittags noch in der Küche, als er wiederkam. Ihre Unterhaltung erstarb in Beklemmung. Weder Mutter noch Vater sagten etwas und Kati schaute unsicher von einem zum anderen.
"Wir haben dich noch nicht erwartet", Mutter blickte schnippisch. Er schnappte nach Luft, so als wollte er etwas erwidern, aber er sagte dann nichts.
"Wieso kommst du jetzt, wieso läßt du dich überhaupt hier noch blicken?", provozierte Mutter weiter.
"Ich wohne hier", ohne Regung stand er da. "Kati, geh in dein Zimmer", fügte er hinzu und Kati schaute trotzig fragend ihre Mutter an.
"Ja, geh", nickte Mutter, ohne sie anzublicken und von einem Moment auf den anderen wurde es Kati siedend heiß, als brenne der Boden unter ihren Füßen, als habe man sie ins Fegefeuer geworfen. Wie eine Verstoßene ging sie in ihr Zimmer, riesige Seifenblasen der Hoffnung zerplatzten. Unruhig versuchte sie, sich mit irgendetwas zu beschäftigen, es gelang ihr nicht. Immer wieder lauschte sie an ihrer Zimmertür, ob sich etwas von der Unterhaltung erhaschen ließ. Aber sie konnte nichts hören. Zurück in die Küche getraute sie sich nicht mehr.
Eine folterlange Stunde später hörte Kati wie beide Eltern ins Schlafzimmer gingen. Nach einer weiteren Zeit suchten sie das Bad auf, ihre sexuellen Gepflogenheiten kannte Kati nur zu gut.
An diesem Tage beschloss sie ihren Auszug.