- Beitritt
- 31.01.2016
- Beiträge
- 2.217
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 47
Im Nebel ist es auch ganz schön
Als ich das Kleid in der Boutique endlich anprobiere, mich vor dem Spiegel und den Augen der Verkäuferin betrachte, hin- und herschaukle wie ein schüchternes, kleines Mädchen, das im Sonntagskleid ein Gedicht aufsagen möchte, bin ich mir sicher, dass ich darin ausgehen werde.
Schon vor einigen Tagen ist es mir im Schaufenster aufgefallen, als es dekoriert wurde. Schwarz mit weißen Punkten. Diese Kombination macht Sinn in meinem Leben. Dunkler, trister Alltag mit kleinen highlights.
Es ist wie für mich gemacht, behauptet eine weitere Kundin mit Nachdruck, die ebenfalls ein Kleid gewählt hat, es würde die Zartheit meiner Silhouette unterstreichen, meine tollen Beine betonen, sogar meinen Charakter. Soviel erwarte ich dagegen gar nicht von dem Kleid. Die Verkäuferin, selbst etwas stabiler gebaut und älter als wir beide zusammen, fühlt sich verpflichtet auch etwas dazu zu sagen und spricht von Präsenz und Ausstrahlung. Und da ich beide Aussagen als Kompliment auffasse, kaufe ich es, obwohl ich das Geld dafür sicher nicht übrig habe.
Ich will in dem Kleid tanzen. Einfach zu irgendeiner Musik tanzen, mit geschlossenen Augen, ohne nachzudenken, solange, bis ich müde werde, verschwitzt und außer Atem im stroboskopischem Licht irgendeines überhitzten Clubs, in einer Menge von Menschen, die vielleicht ähnlich fühlen wie ich. Vielleicht gehe ich anschließend nicht nach Hause, sondern verbringe die Nacht in den Armen eines Mannes, dem ich nie zuvor begegnet bin. Zu dem mich die pure Lust führt.
Hier vor dem Spiegel im Wohnzimmer, den gesamten Rahmen habe ich mit Postkarten behängt und mein eigenes Spiegelbild eingerahmt, bin ich mir nicht mehr sicher, in diesem Kleid auszugehen. Die Karten zeigen Pina Bausch und Nureyew, die ich bewundere, dazwischen auch die mit der Skyline von New York und die Opèra Garnier in Paris, das Neue Nationaltheater in Tokyo, Städte, die ich unbedingt besuchen möchte, auch alte Tickets der Staatsoper hängen daran - wenn Mama mich besuchte, gingen wir regelmäßig in Ballettaufführungen - und zwischen all den Postkarten die Fotografien meiner Kindheit und Jugend, aufgenommen von meiner Mutter in der Ballettschule in Oldenburg. Ich lächle auf jedem der Fotos und präsentiere mich mit stolzgeschwellter Brust.
Den Umzug hierher nach Berlin finanzierte Mama voller Hoffnung auf die Karriere ihre einzigen Tochter. Sie war nach Deutschland emigriert und hat den Aufstieg zur Primaballerina beendet als ich unterwegs war. Das Übliche.
Ich habe lange nicht mit ihr telefoniert.
Ich ziehe meinen Körper vor dem Spiegelbild zusammen, mache mich klein und man könnte meinen, der feine Stoff berührt die Haut nicht überall dort, wo er ihn bedeckt, als wäre das Kleid zu kalt oder heiß und unangenehm zu tragen. Hier in meiner kleinen Wohnung sehe ich keine Präsenz und die Zartheit sieht eher nach Magerkeit aus. Das Kerzenlicht im Raum wirft seltsame Schatten in mein Gesicht; ich sehe zudem älter aus als ich bin.
Mit einer schnellen Bewegung wende ich mich in einer Pirouette vom Spiegel ab, greife zu den Kopfhörern, setze sie auf, schließe die Augen und beginne zu tanzen. Dabei definiere ich keine Figuren, es geht mir nicht darum, wie ich mich bewege, ich will nur tänzerisch ausdrücken, was mich bewegt. Hier und jetzt. Tief von innen heraus. Es geht auch nicht um Antworten, es geht nur um Gefühle. Es könnte das Gefühl von Freiheit sein. Vielleicht geht es auch um Sehnsucht nach einer Zukunft, die verborgen bleibt. Ich werde überflutet von Gefühlen wie der Leipziger Platz vom Sommerregen, nach diesen schwülen Tagen.
Es geht um mein Leben als Tänzerin, auf Reisen zu sein, umgeben von Musikern und Künstlern, genau das zu tun, was mich glücklich machen kann seit ich als Kind davon träumte. Ich lasse all die Fragen, die mir in Form von Worten in diesem Augenblick in den Kopf schießen, unbeantwortet weiter ziehen und tanze, tanze, tanze. Alle Möglichkeiten liegen im Nebel. Das Leben bleibt darin verborgen.
Aber in dieser Nacht will ich gar nicht denken, ich will tanzen, nicht funktionieren, den Kopf leer lassen.
Mein Körper schwingt und dreht sich rhythmisch zu den Tönen, die ich höre, wie von selbst. Meine Beine kennen die Bewegungen. Sie strecken sich von ganz allein, schnellen über den Kopf, die Arabeske funktioniert automatisch. Ich verschwende keine Zeit damit, zu überlegen, was schief gelaufen ist und ab wann, an welcher Stelle in meinem Leben sich alles neu sortierte und wie es dazu kommen konnte. Ich spüre hier und jetzt Glück. Es kriecht in jede Faser meiner Muskeln, wärmt und wühlt mich auf.
Doch mit einem Mal ist etwas anders und ich öffne abrupt die Augen, stehe still. Es reißt in einem Muskel der linken Wade. Ich massiere sie hastig.
Rudi steht im Türrahmen. Er sieht so klein aus in dem großen Pyjama seines Papas.
"Wieso tanzt du", fragt er müde mit rauer Stimme und reibt sich die Augen. Ich fühle mich nicht in der Lage, ihm das zu erklären.
"Wieso tanzt du nicht?"
Ich springe mit einem großen Satz auf ihn zu, wie die Enge des Zimmers und der Schmerz im Bein es eben zulassen, die Kopfhörer fallen zu Boden. Ich ignoriere beides, einige Fasern werden gerissen sein und umfasse Rudis Körper, wirbel' mit ihm durch das Zimmer. Dabei spielt es keine Rolle, dass die alte Uhr von Mama, die an der Wand hängt, kurz nach drei Uhr am Morgen anzeigt. Sie geht sowieso vor. Ich will der Zeit wenigstens heute Nacht nicht nachjagen.
Rudi lacht und ist ganz verschlafen und wunderbar warm, duftet sauber und ein bisschen nach Sand, hält mich fest umschlungen und sieht mich leicht verunsichert an, wodurch er seinem Papa sehr ähnelt. Seine Augen sind dunkel und scheu, und er blickt immer etwas unschlüssig, als hätte er ständig Entscheidungen zu treffen. Ich bemerke die Träne erst nicht, die mir über die Nase rinnt und an der Spitze hängenbleibt. Mein Atem geht schwer.
"Und warum bist du traurig, wenn du tanzt?" Der Kleine ist sichtlich verwirrt. Er nimmt die Träne mit seinem Zeigefinger auf. Etwas wie ein Lachen huscht aus meiner Kehle. Ich schüttle den Kopf und meine Haare streifen Rudis Gesicht und er schüttelt auch den Kopf, seine Haare sind dunkler, zusammen sehen sie aus wie Mamas berühmter Marmorkuchen und wir lachen, lassen unsere Haare ineinander wehen.
"Vita!", rufe ich, weil das deutsche Wort mir zu dramatisch klingt. Immer wieder sage ich es, immer lauter und höre nicht auf, mich mit schüttelndem Kopf und dem Kleinen auf dem Arm durch das Zimmer zu drehen, bis wir beide zu Boden sinken. Dort unten ist nur noch unser beider Atem hörbar, schnell und stoßweise und das Ticken der Uhr. Frau Schmidtke von nebenan klopft an die Wand. Wahrscheinlich ist es ihr zu heiß für einen tiefen Schlaf.
"Ich hab Hunger." Rudi ist klein für seine sieben Jahre und immer hungrig.
Ich stehe auf und öffne die Balkontür. Die warme Luft der Stadt, die ein bißchen nach Gummi und Lindenblüten riecht, streift meinen verschwitzen Körper und verursacht eine Gänsehaut.
"Weißt du was? Du weckst jetzt Pina und ich besorge uns was zu essen", flüstere ich geheimnisvoll, indem ich mich auf Augenhöhe hocke. Rudi nickt andächtig mit großen Augen, erhofft sich vermutlich ein großes Abenteuer und flitzt ins Kinderzimmer, das er mit seiner kleinen Schwester teilt.
Als er kurze Zeit später mit dem schlaftrunkenen Mädchen an der Hand zurückkommt, habe ich den Boden des Balkons in eine große Schlafstätte verwandelt. Überall liegen Kissen und Decken verteilt, die ich aus der Wohnung in Eile zusammengesucht habe. Meine Erregung, gepaart mit Müdigkeit und dem noch währenden Glücksgefühl lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Die Lichterkette brennt sowieso das ganze Jahr über am Geländer und das Windlicht an der Wand habe ich ebenfalls entzündet. Pina plumpst augenblicklich wortlos zu Boden, kuschelt sich ein und drückt ihr Stofftier, das sie mitgebracht hat, fest an sich. Vermutlich ist sie gar nicht richtig wach geworden und weiß morgen früh überhaupt nicht, wie sie auf den Balkon gekommen ist.
"Ihr beide seid jetzt mein Leben", flüstere ich und überreiche Rudi einen langen Löffel, als wäre es ein Orden. Der versteht nicht, entdeckt dann aber den großen Eisbecher zwischen uns und kann sein Glück gar nicht fassen. Das gesamte Gesicht scheint zu leuchten, als er sich gierig auf die Eiscreme stürzt.
"Ich werde nicht weglaufen." Ich spreche ganz leise, um Pina nicht zu wecken. Dabei lutsche ich das Eis vom Löffel und blicke in den Nachthimmel, der sich bereits blau-lila verfärbt. Der Morgen naht schon. Ich mag überhaupt kein Erdbeereis.
"Möglich, dass ich alles will und immer zu viel. Es ist nicht leicht", flüstere ich eher zu mir selbst.
Unsere Löffel klappern im Eiskarton aneinander und es entsteht ein "Löffelkampf", den Rudi auch nachts gewinnt.
"Aber wer will schon ein leichtes Leben. Das ist eh langweilig." Ich kann mich selbst kaum hören.
Rudi schaut dennoch erschrocken bei dem Wort 'langweilig' auf und wir sehen uns an und lächeln beide. Jetzt sieht er aus wie ich auf einem Foto am Spiegel. Glücklich und erschöpft. Ich zwinkere ihm zu. Dann taucht er augenblicklich wieder den Löffel in die süße, kalte Masse vor seinen Füßen.
"Als ich jünger war, habe ich wirklich geglaubt, die schönen Momente würden sich wie von selbst aneinanderreihen, zu einer endlosen Kette. Carolin im Glück." Da muss ich selbst lachen.
"Wie Omas Perlenkette?"
"Ja. Wie die. Und das hier", ich schaue mich in unserem kleinen Zuhause um, "ist alles was wir gerade haben. Es lebt ja keiner in der Vergangenheit oder in der Zukunft." Ich vergesse, dass Rudi mich hört.
Mein Blick schweift weit über die Dächer der Stadt, in der meine Träume wohl noch irgendwo umherschwirren, wie kleine Gespenster.
"Und hier gibt's Eis!" Rudi strahlt immer noch. Nächtliches Eis scheint um einiges besser zu sein als das tagsüber.
"Es wäre echt schön, wenn das Leben wie Tanz wäre. Im Tanz ist alles klar und logisch, hat Struktur." Ich streiche über das weiche Haar meines Sohnes.
Rudi hat sich bereits neben seine Schwester gelegt und ich decke beide zu, betrachte die kleinen, entspannten Gesichter der Kinder.
Ich will so viel. Jeden verdammten Tag. Und es endet immer damit, dass ich viel zu wenig mache.
Ich treffe kaum noch alte Freunde. Verbringe dagegen viel Zeit mit Müttern und Vätern. Ich schlafe beim Lesen ein und komme nicht ins Kino oder ins Museum. Angry Birds und die Dinosaurier-Ausstellung im Naturkundemuseum zählen nicht mit.
Früher dachte ich immer, das Leben geht irgendwann los, quasi von selbst. Doch die Zeit vergeht und nichts passiert.
Erst jetzt merke ich, dass ich mich beruhigt habe.
"Ich hab keine Ahnung, was aus mir werden soll."
Ich nehme einen großen Schluck aus der Wasserflasche, die noch vom heutigen Mittagessen auf dem Balkon stehengeblieben und somit ziemlich warm ist, beschließe gleich Morgen Carlo anzurufen und ihm einen ganzen Tag mit seinen Kindern schmackhaft zu machen. Vielleicht mit Übernachtung.
"Du bist doch schon was. Du bist doch Mama", nuschelt Rudi mit geschlossenen Augen in meine Gedanken hinein. Ich küsse seine Stirn. Die ist auch klebrig, an seinen Fingern hängen Fusseln von der Wolldecke und vor dem Haus, unten auf der Straße, fahren die ersten Nachbarn im Morgendunst zur Arbeit.