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Hure
„Stoppt jede Uhr./ Lasst ab vom Telefon./ Lasst die Flieger kreisend/ Trauer sei geboten/ An den Himmel schreiben./Er ist tot“
Seine Frau hat sich gut gehalten, bis jetzt. Sie schluchzt laut auf, und in der großen, stillen Kirche, in der nicht mehr als eine Handvoll Trauergäste sitzen, wird ihr Weinen zu Geschrei, hallt es unerträglich von den kalten Wänden wider. Ich muss unterbrechen. Ihre faltigen Hände zittern, ein Mann mittleren Alters legt ihr fürsorglich den Arm um die Schultern und gibt ihr ein Taschentuch.
„Ich dachte/ Liebe währet ewig/ Falsch gedacht./ Sterne sind jetzt unerwünscht/ Will nichts sehn davon/
Verpackt den Mond/ Zertrümmert die Sonne.“
Die Zeilen haben ihre erwünschte Wirkung. Es ist ein fabelhaftes Gedicht, finde ich. Ich trage es bei mir, seit ich sechzehn bin. Ein kleiner, zerrupfter Zettel, den ich nie verloren habe. Obwohl ich sonst immer alles verliere. Als ich das mit der Liebe vortrage, blickt die Witwe mich durch ihre tränennassen Wimpern groß an. Sie wagt ein kleines Lächeln. Ich sehe gütig auf sie herab und lächle zurück, nicht zuviel natürlich. Räuspere mich kurz und fahre fort.
„Nie wird es sein/ So wie es war/ Nie wieder gut.“
Ich lasse meine Stimme ein wenig zittern, sehe auf den Boden, nehme meinen Zettel und gehe wieder zu den Kirchenbänken herunter. Der Pfarrer legt mir eine Hand auf den Arm, murmelt etwas, das ich nicht verstehe. Ich traue mich nicht, nachzufragen, nicke nur knapp und setze mich. Er wird den Gottesdienst fortsetzen. Die Witwe wirft mir nun ständig verliebte Blicke zu. Möglicherweise hatte ich da doch nicht das perfekte Gedicht, die Reaktion ist mir ein wenig zu viel. Am Ende muss ich jetzt immer Mittwochs bei ihr Kaffeetrinken. Oder so was.
Dennoch, ich genieße diese Beerdigung. Diesen Gang von der Kirche zum Grab. Ich behaupte, dass dabei noch nie jemand so gut ausgesehen hat wie ich mit meinem langen schwarzen Wollmantel und den seidigen dunklen Haaren, die ich ordentlich festgesteckt habe, mit dieser einen ungezähmten Strähne im sorgfältig, aber zart geschminkten Gesicht. Ich habe eine Rose in der Hand, tiefrot. Ich passe nicht zu den anderen Trauergästen und sie merken es. Sie gehen hinter mir, und ich höre das leise Stapfen ihrer Schuhe im Kies. Es ist kalt, aber der Schnee hat sich in viele kleine Matschpfützen aufgelöst. Der Wind befreit eine zweite Haarsträhne aus meiner Frisur. Es muss phantastisch aussehen. Wie ich es mir immer vorgestellt habe. Wir versammeln uns um das Grab, schweigend.
Die Witwe weint wieder. Sie muss ihn geliebt haben, sie kannte ihn nicht. Er hat ihr nichts als Lügen von uns erzählt. Hat sein spießiges kleines Leben hier geführt, außerhalb. Als neuer Mensch. Doch du kannst nicht einfach ein neuer Mensch werden. Bis zuletzt hatte ich noch Angst vor ihm, hat mein Magen sich zusammengekrampft, wenn ich ihn reden gehört habe. Seine Stimme werde ich nie vergessen, wie sie im Hausflur herumschreit. Hure. Und die zweite, weinend, leise, damit wir in unserem Schrank nichts davon hörten. Wir hörten es trotzdem. Immer. Als ich älter wurde und der Schrank nicht mehr sicher war, wurde es schwierig für mich. Manchmal schaffte ich es bis ins Bad. Einmal zitterten meine Finger so sehr, dass ich den Riegel nicht vorschieben konnte. Ich roch den Alkohol, stemmte mich gegen die Tür und konnte den Riegel einfach nicht vorschieben. Mach die Tür auf, mach die verdammte Tür auf, Hure. Ich habe oft in der Schule gefehlt. Ich bin eitel. Immer schon gewesen.
Eine Frau neben mir scharrt ungeduldig mit den Füßen. Ich friere und reibe meine klammen Finger, während der Pfarrer am Grab spricht.
Die Frau hört nicht auf, mit ihren Füßen zu scharren, ich hole scharf Luft und werfe ihr einen giftigen Blick zu. Nun ist es totenstill hier, nur der Wind raschelt in den Bäumen, und die Stimme des Pfarrers ist ruhig und klar. Jetzt ist alles gut.