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Hahn im Korb
„Schickes Hemd, Herr Thomsen! Was seh'n Sie fesch aus, heute! Ihr Schnäpschen stell' ich Ihnen schon mal hin!“ Die Pflegerin zwinkert ihm zu, stellt den kleinen Plastikbecher ab und läuft zum Nachbartisch. Er parkt seinen Rollator hinter dem Stuhl, stellt die Bremsen fest und hangelt sich an der Lehne zu seinem Platz, der heute blau-weiss dekoriert ist. Das Heim feiert bayrische Woche. Seinen rechten Arm legt er so weit auf den Tisch, dass er nicht herunterrutschen kann. Im Auge behalten will er ihn trotzdem. Zuerst kippt er sein Medikament hinunter. Dann pickt er die vorgeschnittenen Weißwurststücke mit der Gabel auf, tunkt sie in den süßen Senf und schiebt sie sich vorsichtig in den Mund. Er konzentriert sich, um genau zu treffen, doch schon nach dem zweiten Stück hat er das Gefühl, dass ihm der Saft am Kinn herunterrinnt. Hastig greift er nach der Serviette und schüttelt sie auseinander. Ein Zettel flattert heraus, dreht sich in der Luft und bleibt zwischen Tasse und Teller liegen. Die Buchstaben sind zittrig, aber sogar für ihn zu erkennen: „Ich liebe Sie.“ Daneben ein verunglücktes Herz. Er stößt die Tasse um, als er nach dem Zettel greift, der Tee fließt über den Tisch, läuft am Tischbein hinunter. Gerade noch gelingt es ihm, den Zettel in seiner Hand zu verbergen, als die Schwester mit einem Lappen naht.
„Na, na, na, nicht so stürmisch, Herr Thomsen!“ Ihre Stimme klingt schrill in seinen Ohren. Er sieht, dass sie immer noch zwinkert, gar nicht aufhört mit dem Gezwinkere, und macht eine entschuldigende Geste. „Da, da.“
"Schon gut." Sie taucht hinter dem Tisch ab. Als sie wieder weg ist, schiebt er den Zettel in seine Hosentasche. Die Trinkerin, darauf könnte er wetten. Er vermeidet den Blick in die Richtung, wo sie sitzt, drei Tische weiter, hochrot im Gesicht vermutlich und leicht angeschickert. Ständig bietet sie ihm Hustenbonbons an und jetzt das. Die Wurst schmeckt auf einmal fade.
Als er den Speisesaal verlässt, steht sie aufgeregt lächelnd im Ausgang, ihre grauen Haare trägt sie heute offen bis zur Schulter. Das sieht er noch, bevor er den Blick abwendet und beginnt seinen Kopf zu schütteln. So schnell er kann, schiebt er seinen Rollator an ihr vorbei. Ja, sie riecht nach Alkohol.
„Haben Sie's gelesen?“ fragt sie in seinem Rücken leise. Er schüttelt den Kopf, läuft noch schneller, so dass er beinahe über seinen kranken Fuß stolpert.
Nachmittags kommt sein Sohn Martin zu Besuch, worüber er sich so freut, dass er die Frau vergisst. Martin ist der Klügste von seinen Jungs, das ist ihm früher nie aufgefallen. Er kann ihm ein Zeichen machen, dass er pinkeln muss, und Martin versteht. Paul hingegen klingelt immer sofort nach der Schwester. „Mein Vater will irgendwas. Meinen Sie, er hat Schmerzen?“
Er lächelt Martin an, und Martin sagt: „Gut siehst du aus, Papa.“ Du auch, will er sagen, aber wieder kommt nur, „Da, da.“
„Danke!“ Martin lacht, und er lacht noch lauter, nickt beifällig. Da klopft es, und die Schwester kommt herein.
„Na, Sie haben ja Spaß hier. Ich hätte hier noch ein Schnäpschen für den Papa.“ Sie zwinkert Martin zu.
„Na, wenn's wenigstens ein Schnäpschen wäre, nicht Papa?“ sagt Martin.
Nachts fährt er hoch. Licht fällt durch die Tür ins Zimmer. Da steht jemand, ganz nah bei seinem Fußende. Die Schwester? Nein. Die Person bewegt sich nicht. Steht einfach nur da. Sein Herz klopft wie verrückt. Dann erkennt er, dass es eine alte Frau ist. Und dass sie nackt ist. Durch ihre fedrigen Haare scheint von hinten das Licht bis auf die Kopfhaut. Ihr Gesicht liegt im Dunkeln, aber er ist sich sicher, dass sie ihn anstarrt. Er hört auf zu atmen, als sie nach der Bettdecke greift und sie lautlos über seinen Füßen hochzieht. Ein Luftzug streicht bis zu seinen Knien, er ballt die linke Faust, bewegt die Lippen.
"Füße", sagt sie plötzlich laut. Und dann noch einmal, nachdenklich, "Füße."
Nach endlosen Sekunden lässt sie unvermittelt die Decke fallen, dreht sich um und geht. Ein beißender Geruch steigt ihm in die Nase. Er hat ins Bett gemacht.
Am nächsten Tag knickt ihm beim Aufstehen das rechte Bein weg, worauf sie ihn im Rollstuhl zum Frühstück fahren. Zweimal verschluckt er sich. Als er beim zweiten Mal nach der Serviette greift, rutscht wieder ein Zettel heraus. Ohne ihn anzusehen, steckt er ihn in seine Hosentasche. Danach möchte er am Liebsten wieder ins Bett, aber die Schwester mit dem harten, osteuropäischen Akzent spricht ihn an.
„Im Marienzimmer sind sie am Basteln. Haben Sie Lust?“ Er schüttelt den Kopf, worauf sie seine Bremsen löst und ihn vom Tisch wegzieht.
„Das kann viel Spass machen, werden Sie schon sehen. Sie können was Schönes für mich basteln. Ich freu mich.“ Sie beugt sich um ihn herum, um ihm ins Gesicht zu sehen. „Na?“
Er mag die Schwester, vielleicht, weil sie die Einzige ist, die schon da war, als er hier vor zwei Jahren einzog. Also zuckt er mit den Schultern.
„Sehr gut. Ich bring Sie hin.“
Er erkennt die rauhe Stimme nicht gleich.
„Ich kann den Herrn Thomsen mitnehmen. Ich will auch ins Marienzimmer.“
„Oh, prima“, sagt die Schwester in seinem Rücken. „Herr Thomsen, die Frau Ruge übernimmt Sie mal. Und machen Sie was ganz Schönes für mich, ja?“
Weg ist sie, und er ist allein mit der Trinkerin. Frau Ruge heißt sie, mag sein, er kann sich keine Namen mehr merken, und ihren will er gar nicht wissen. Und er will auch nicht von ihr gefahren werden. Sein Rollstuhl setzt sich wieder in Bewegung, langsamer als vorher. Er schweigt.
„Geht's Ihnen gut?“, fragt sie schließlich. Er nickt. An der Schräge hört er an ihrem Atem, wie sehr sie sich anstrengen muss. Sie ist dünn, die Ruge, und alt. Womöglich wird sie ihn loslassen, so dass er rückwärts die Schräge hinunterrollt. Er wird sie überrrollen, umkippen und mit dem Kopf gegen den Türrahmen knallen. Sein Bein streckt sich plötzlich und rutscht von der Fußstütze auf den Boden, blockiert noch zusätzlich.
„Oh“, schnauft sie „oh nein, Ihr Bein.“ Irgendwie schafft sie trotz schleifendem Fuß die letzten Meter.
„Ui, das war knapp.“ Sie stellt sich vor ihn, lacht und hört gar nicht mehr auf. Bestimmt will sie, dass er auch lacht, dass sie zusammen lachen, und er beißt die Zähne zusammen. Er will jetzt in das verdammte Marienzimmer.
Doch zunächst zerrt sie an seinem Bein und versucht, es wieder auf die Fußstütze zu stellen. Warum ruft sie keine Schwester? Die Haare fallen ihr immer wieder ins Gesicht, und er fragt sich mit Schaudern, warum sie sie heute schon wieder offen trägt. Schließlich hat sie das Bein wieder oben, wenn auch gestreckt, mit der Wade auf der Kante. Es tut weh.
„Geht das so?“ Er nickt.
„Haben Sie meinen Brief gefunden? In der Serviette?“ Ein knurrender Laut rutscht aus seiner Kehle und er deutet herrisch den Flur entlang, Richtung Marienzimmer. Ihr Gesicht, eben noch bereit, mit ihm zu lachen, scheint in lauter kleine Stücke zu zerfallen. Den Kopf zur Seite geneigt, eine Schulter hochgezogen, schaut sie an ihm vorbei. Er macht eine entschuldigende Bewegung mit seiner Hand und lässt sie in seinen Schoss sinken. Ein Fehler, denn sofort strahlt sie. Wieder weist er Richtung Marienzimmer, und sie nickt heftig, tritt hinter den Rollstuhl und schiebt los, zügiger als vorher. Er atmet auf. Es gelingt ihm sogar, unter sein Bein zu greifen und es hochzuziehen. Sie gibt einen kleinen beifälligen Laut von sich und beschleunigt. Er freut sich.
Bis sie mit ihm am Marienzimmer vorbeirauscht. Er ruft “Da, da“, versucht sich zu drehen und fuchtelt mit dem Finger.
„Pscht, ich will Ihnen noch was zeigen“, flüstert sie,“Nur noch zweimal um die Ecke. Da vorne ist es doch schon.“
Seine Versuche aufzustehen gibt er bald auf, denn sie ist zu schnell. Wieder hört er sie schnaufen. Bald kennt er sich nicht mehr aus, hier war er noch nie. Nirgendwo ist eine Schwester zu sehen. Er ruft sein "da,da" in den leeren Flur und endlich bleibt sie abrupt mit ihm vor einem Fenster stehen. Ihre Worte überschlagen sich.
„Ist doch gut, hier ist es doch schon! Ich wollte Ihnen doch nur mal zeigen, wo ich gewohnt habe. Da schauen Sie, dahinten neben dem Wasserturm, die Reihenhäuser, die schwarzweißen. Da haben wir gewohnt.“
Er sackt auf seinem Sitz zusammen. Schüttelt den Kopf.
„Ich mein', das interessiert Sie doch vielleicht. Es ist das erste Haus von links. Man kann alles sehen. Den Garten. Sogar die Apfelbäume. Früher hatten wir da für die Kinder eine Schaukel hängen. Jetzt ist es verkauft. Gucken Sie mal.“
Er schüttelt wieder den Kopf, zeigt nach hinten.
„Ich komme jeden Tag hierher. Manchmal sieht man Leute im Garten.“
Immer noch steht sie am Fenster und deutet. Dann lässt sie den Arm sinken.
„Sind Sie mir böse?“
Aufstöhnend stößt er sich rückwärts mit dem Fuß ab. Mühsam gelingt es ihm, sich in den Flur zurückzuschieben. Sie stürzt hinter den Stuhl.
„Warten Sie doch. Sie sollen doch nicht alleine.“
Diesmal hält sie am Marienzimmer an.
„Ich komm nicht mit rein.“
Er nickt.
„Oder vielleicht nur kurz.“
Er nickt wieder. Sie soll endlich die Tür aufmachen.
„Sind Sie mir böse?“
Er schüttelt den Kopf.
Sie soll jetzt die Tür aufmachen.
„Wollen Sie vielleicht ein Hustenbonbon?“
In dem Moment wird die Tür von innen geöffnet. Ein Mädchen mit Rastahaaren.
„Ha, das habe ich doch gehört, dass da jemand ist. Kommen Sie rein. Wir brauchen Verstärkung beim Ausmalen. Ich bin die Maja. Ich mach hier Praktikum.“
„Ich mach nicht mit“, sagt die Ruge schroff. “Das ist mir zu blöd.“
Das Mädchen lächelt weiter.
„Dann setzen Sie sich doch zu den anderen am Nebentisch. Und Sie?“
Er nickt heftig.
„Oh, toll“, juchzt das Mädchen, "dann kommen Sie zu uns.“
Sie drückt ihm einen blauen Stift in die Hand. Karos ausmalen für die Girlande. Er sieht jede Linie doppelt, malt vier einzelne Striche, lehnt sich erschöpft zurück und zuckt zusammen. Sein Rücken ist schweissnass. Drüben versucht die Pflegerin einer widerstrebenden Frau Wasser aus einem Plastikbecher einzuflößen.
„Bitte, Frau Hemnes, nur zwei Schlückchen, dann lasse ich Sie auch in Ruhe!“ Mit einem Mal erinnert er sich, was nachts passiert ist. Ist das die Frau? Die Haare … Sie sieht zu ihm rüber. Ihre zusammengepressten Lippen verziehen sich zu einem Lächeln.
„Ausmalen, einfach ausmalen, Herr Thomsen. Probieren Sie es ruhig nochmal“, ruft das Mädchen über den Tisch, und endlich kann er seinen Blick von der Frau lösen. Er malt noch mehr Linien, gibt sich Mühe, sie parallel zu setzen, als jemand in seinen Stift greift, seine Hand energisch führt, das Karo schnell mit hin und her schwingenden Strichen ausfüllt. Er kennt die Frau nicht, die sich seiner Hand bemächtigt hat, während sie sich mit einer Faust schwer auf dem Tisch aufstützt. Aber sie riecht schlecht aus dem Mund.
„Helfen Sie dem Herrn Thomsen ein bisschen, Frau Münting? Da freut der sich aber! Nicht, Herr Thomsen?“ Das Mädchen kichert zur Pflegerin rüber. „Süüüß!“
An seinem Ohr spürt er den fauligen, warmen Atem, er dreht den Kopf weg, sieht drüben die Ruge sitzen. Sie schaut ihn an. Ihre Augen sind gerötet. Vorsichtig versucht er, seine Hand zu befreien, schüttelt den Kopf. „Da, da.“ Doch die dicke Frau umklammert seine Hand noch fester.
„Na, na, da, da, wir sind noch nicht fertig, mein Lieber.“ Aus ihrem Mund ein Schwall Atem. Ihm wird übel. Er reißt den Arm hoch, knallt ihn vor ihre Brust, drückt sich am Tisch zurück, sodass er der Frau gegenüber den Tisch in die Rippen stößt. Die Frau schreit, die Dicke schreit, alle schreien, das Mädchen ist sofort bei ihm, ihr Gesicht verzerrt.
„So geht das nicht, Herr Thomsen!“
„Da, da!“ Er regt sich auf. Sieht, dass die Frau hingefallen ist, die Pflegerin kümmert sich um sie. Durch das Geschrei der Leute hindurch wird er in sein Zimmer geschoben.
Er ist tatsächlich eingeschlafen, nachdem sie ihn ins Bett gepackt haben. Als er aufwacht, hört er Martins Stimme draußen auf dem Gang.
„Das kann doch nicht ... mein Vater ist doch nicht aggressiv! Mein Vater ist ein ganz sanfter Typ, der war immer so gutmütig, der ist doch nicht aggressiv!“
Die Stimme der Zwinkerschwester, leise, gehetzt.
„Das ist für Angehörige oft schwer zu verstehen. Da kann ihr Vater gar nichts dafür. Das ist auch hirnorganisch bedingt, so eine Wesensveränderung. Er baut ab, wir sehen das ja hier. Wirft Tassen um, ist nachts neuerdings inkontinent, er läuft ganz schlecht, und jetzt noch das. Die Frau Münting hat Gottseidank nur Prellungen. Wenn das ein Oberschenkelhalsbruch gewesen wäre! “
Ihm wird heiß vor Scham.
„Mein Vater war Bürgermeister bei uns im Dorf. Alle sind sie zu ihm gekommen mit ihrem Kram, alle! “
„Ja. Wir müssen jetzt einfach mal mit der Ärztin sprechen, was man da geben kann. Das geht so nicht weiter. Wir müssen hier auch die Frauen schützen, die haben alle Angst vor ihm.“
„Aber … “
„Herr Thomsen, es tut mir leid, ich muss weiter, da wird geklingelt. Wir sprechen mit der Ärztin, und dann telefonieren wir nochmal, okay?“
Schritte, die sich schnell entfernen. Es dauert eine ganze Weile, bis Martin ins Zimmer kommt. Er zieht sich einen Stuhl ran.
„Na, Papa?“
Er versucht gar nicht zu sprechen, schüttelt nur den Kopf.
„Ist irgendwie dumm gelaufen, oder?“
Er kann gar nicht mehr aufhören zu schütteln, bis er sieht, wie blass sein Sohn ist. Er hebt seine gesunde Hand, um ihm über den Kopf zu streichen, aber Martin sitzt zu weit weg. So winkt er ihm.
Seit zwei Tagen ist er so müde. Die Schwester fährt ihn zu seinem Tisch, lagert seinen Arm, legt ihm den Kleiderschutz um und stellt ihm den Teller mit der Brezel hin. Er trinkt sein Schnäpschen und isst. Am Ende schüttelt er seine Serviette auseinander. Kein Zettel. Gut.