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Glück ist nicht kornblumenblau
Wo hat er wohl das Stückchen Kreide her? Vielleicht aus der Volksschule in der Himmlerstraße? Viel ist von der Schule und der Himmlerstraße nicht mehr übrig.
Blau ist die Kreide. Kornblumenblau. Das sieht auf den rußschwarzen Wänden sicher schön aus. Kornblumenblau macht die Angst in jedem Buchstaben, den er schreiben wird, nicht kleiner. Aber vielleicht macht es die Angst etwas freundlicher.
Auf Dreck lässt es sich schlecht schreiben. Mit fahriger Hand wischt er die Reste der Mauer sauber, so gut er kann. Den Ärmel seines abgenutzten Mantels nimmt er auch, um die Wand von Staub, Asche und Phosphorkrümeln zu befreien. Den Ärmel, in dem kein Arm mehr steckt. Der Arm, der an seiner Stelle in Russland geblieben ist. Seine Kameraden versuchten ihn aufzuheitern, als er mit vereitertem Verband in den Lazarettzug verladen wurde. Für ihn war der Krieg vorbei und er käme wenigstens lebendig nach Hause. Die Gedanken an seine Frau und seine Kinder ersetzten das knappe Morphium, dass der Feldarzt nur den „schlimmen“ Fällen geben konnte.
Menschenskinder, hast du ein Schwein, hatte der Sani gesagt.
Unschlüssig dreht er das Stückchen Kreide in der Hand. Kornblumenblau ist eine schöne Farbe.
In Kiew, am Dnepr, in Charkow hatte er mit Kreide an Wände geschrieben. Weiße Kreide. Die Häuser, die am wenigsten beschädigt waren, sollte er für die Offiziere markieren. Er hatte in Ställen geschlafen, um ihn herum der Geruch von verbrannten Häusern und verbrannten Fahrzeugen.
Für dich ist die ganze Scheiße doch jetzt vorbei und du kommst wieder heim, hatte der Gruppenführer gesagt.
Die Luft riecht auch jetzt nach Rauch. Aber nicht wie das verbrannte Holz auf dem Köhlerfest im Herbst. Oder das Osterfeuer im Frühling. Es riecht wie in Kiew, wie am Dnepr, wie in Charkow.
Unterschwellig kann er duftend geschmortes Fleisch riechen. Es erinnert ihn an Braten am Sonntag. Einmal im Monat. Teuer war es geworden, das Fleisch. Man musste immer schon ganz früh auf den Beinen sein und anstehen, wenn man überhaupt noch ein kleines Stück ergattern wollte.
Seine Kameraden und er waren jedes Mal vor Freude ganz wild gewesen, wenn sie eine altersschwache Kuh oder ein dürres, lahmendes Pferd fanden, dass ein Bauer auf der Flucht vor den Panzern nicht mitnehmen konnte. Das bedeutete am Abend ein oder zwei zähe, graue Fleischbrocken in ihrer dünnen Brühe.
Und trotzdem weiß er, dass er nie wieder Fleisch essen wird. Der Geruch wird ihm mit hämmernden Krämpfen die Galle aus dem Magen drücken.
Freu dich auf deine Familie und dein Zuhause, hatte der Kompaniechef gesagt.
Er hatte es nicht mehr in sein Zuhause geschafft, als der Luftalarm losging und die Bomber kamen. Im Soldatenheim war er gestern Abend gewesen. Auf ein Bier und eine Partie Doppelkopf mit den anderen, die wie er mit leeren Ärmeln, leeren Hosenbeinen und einem Stück Blech an der Brust nach Hause gekommen waren. Mit den anderen, die wie er Glück gehabt hatten.
Das Glück hat ihn nach Hause gebracht und dann nicht mehr für sein Zuhause gereicht.
Mit zitternder Hand fängt er an zu schreiben:
„Ich suche Frau Hedwig Paulsen (31), Elisabeth Paulsen (7) und Josef Paulsen (3) – wohnhaft in diesem Haus – zuletzt gesehen am Abend des 28.Juli – es sucht Fritz Paulsen, Notunterkunft im Reichsbahngebäude, Kavalleriestraße 9“.
Tränen laufen seine Wangen herunter und hinterlassen saubere Schlieren in einem schmutzigen Gesicht. Bestimmt nur der Staub, der in den Augen brennt.
Er hört neben sich eine Stimme. Eine Nachbarin, die ein paar Häuser weiter wohnt. Ob sie wohl auch das Stückchen Kreide haben könnte? Sie sucht Johanna Klaas, ihre Mutter, und den kleinen Dieter, ihren Sohn. Ob er sie vielleicht gesehen hat? Oder wenigsten einen von beiden? Stumm reicht er ihr die kornblumenblaue Kreide und sieht ihr nach, wie sie mit hängenden Schultern zu den Trümmern ihres Hauses geht.