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Gefrierfleischorden

Challenge 3. Platz
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28.12.2009
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Gefrierfleischorden

Mein Großvater steht vor dem Herd und rührt in einem großen Topf, feuchter Dunst zieht durch das angekippte Fenster. Er schöpft mit einer Kelle Schaum ab, und erst jetzt sehe ich den Kopf, der auf dem kochenden Wasser schwimmt. Hier, sagt er und schneidet mit einem seiner Ausbeinmesser ein Stück aus der Backe. Da ist der Rauch von Zigaretten und der Geruch des Fleisches in der kleinen Küche. Ich bin zehn oder elf Jahre alt.
Beste Stück vom Schwein, sagt mein Großvater, mein Opa, es liegt dampfend auf der Messerschneide. Ich entstamme einer Familie von Mehlbauern und Metzgern, der Geschmack von Fleisch ist etwas sehr vertrautes für mich.

Meine Onkel und mein Vater spielen im Wohnzimmer Skat, ich kann hören, wie sie ihre Ansage brüllen, das Klirren von Bierflaschen. Die Frauen saßen auf dem Balkon und tranken Kaffee.
Muss noch Schnauze und Schwarte würfeln, sagt mein Großvater. Kannst mir nachher helfen.
Ich beiße in das Stück Fleisch, es ist weich und voller Saft. Backe ist das beste Stück vom Schwein. Und so oft wird der Opa ja keine Sülze mehr machen, sagt mein Vater, aber das sagt er nur bei uns zuhause, nicht hier, nicht im Haus seiner Eltern. Die Fliesen auf dem Balkon kühl unter meinen Füßen, ich bin barfuß, es sind die letzten Tage der großen Ferien. Danach geht es auf eine andere Schule unten in der Stadt, und ich weiß noch nicht, wie ich das finden soll. Doch jetzt bin ich hier, in diesem großen Haus, ich gehe die Treppe hinunter und stehe im Garten, ein schmales, langes Stück Land, die Beete akkurat voneinander getrennt, der Weg aus Kopfsteinpflastern gelegt. Ich erinnere mich an den strengen Geruch der Erde; mein Großvater bekam seinen Dünger von den umliegenden Höfen geliefert. Da sind die Pflaumenbäume zu meiner Rechten, ihre Äste dünn und knorrig. Niemand weiß genau, wer sie gepflanzt hat oder wie lange sie schon dort stehen, doch sie tragen jeden Sommer Früchte, auch diesen. Aus einem Teil buk meine Großmutter Kuchen, den anderen Teil gaben sie an einen Nachbarn, der in seiner Laube im Westerwald daraus Schnaps brannte. Eine Sache faszinierte mich besonders: ganz am Ende des Gartens, im Schatten einer halbhohen Backsteinmauer, stand der Komposter. Ein aus Dachlatten zusammengenageltes Behältnis, verschlossen mit einer passenden Lage scharfkantigem Hühnerdraht, so dass die Katzen nicht reinscheißen konnten. Wenn man die Hand ausstreckt und ganz nah über Kompost hält, spürt man eine organische Hitze, so dicht und gleichmäßig wie die späte Glut eines Holzfeuers. Ich bin bei jedem Besuch zu diesem Komposter gegangen und habe meine Kinderhände durch das Holzgitter gesteckt, selbst im Winter, als die Erde schon hart gefroren war.

Als ich später ins Haus zurückkehre, beginnt es schon zu dämmern. Ich höre meinen Vater lachen, sie spielen immer noch Skat, es wird Schnaps getrunken. Mein Großvater war draußen auf dem Balkon, ich habe ihn kurz bei den Frauen gesehen, doch jetzt ist wieder im Haus, in dem abgedunkelten Zimmer neben der Küche, in dem ein kleiner Fernseher und sein Schachbrett steht. Er sitzt in seinem großen Massagesessel, den Kopf auf der Rückenlehne, die Augen geschlossen. Er ruht sich aus, denke ich, er hat Schuhe und Socken ausgezogen, warum hat er sich auch die Socken ausgezogen?, ich weiß es nicht. Seine nackten Füße liegen auf einem Schemel, in der Hand hält er ein bauchiges Glas, Hennessy ist seine Marke. Ich bleibe vor der Tür stehen, das letzte Sonnenlicht fällt durch die halb geschlossenen Lamellen der Rollade und erhellt den kargen Raum. Und da, als ich vor ihm stehe, fällt mir etwas an seinen Füßen auf, sie sind unförmig, wie verdreht; ich hatte sie noch nie gesehen und konnte nicht aufhören, sie anzustarren.
Krieg, sagt mein Großvater. Abgefroren.
Ich schäme mich, weil ich so ungeniert seine deformierten Füße angestarrt habe, doch ihm scheint das nichts auszumachen.
Wenn du das überlebt hast, habense dir n Orden umgehangen, Gefrierfleischorden, sagt mein Großvater und nickt. Weißt du, was wir im Krieg gemacht haben? Er nimmt einen Schluck und stellt das Glas auf einen Beistelltisch, dann sagt er: Zuerst haben wir ihnen die Zöpfe abgeschnitten, dann haben wir sie geschlachtet wie Schweine.
Ich stehe immer noch schweigend vor der Tür. Mein Großvater erhebt sich aus dem Sessel und sammelt seine Socken ein, es sind lange, graue Wollsocken. Seine Bewegungen schwerfällig, er stöhnt, ächzt, und als er sich den ersten Socken überstreift, bemerke ich seine zitternden Finger.
Komm, sagt er, seine Stimme leise und brüchig, geh schon mal vor, geh schon mal in die Küche. Er reibt sich mit einer Hand über den Nacken, wischt sie am Unterhemd ab, sein Atem geht flach. Er will nicht, dass ich ihn so sehe, denke ich und gehe in die Küche. Vor dem Herd bleibe ich stehen, spüre die dichte Hitze, ein feuchtwarmer Schwall im Gesicht. Da ist immer noch der Topf, ich höre es darin köcheln. Der Dunst riecht nach Fett, nach Knochenmark, nach gegartem Fleisch und Schweinestall. Da passt etwas nicht zusammen; die Schweine, das Schlachten, das begreife ich, das ergibt sich, eins aus dem anderen, nur das mit den Zöpfen … wir haben ihnen die Zöpfe abgeschnitten. Ich überlege, denke nach, versuche es, aber ich werde es noch ein paar Jahre lang nicht begreifen. Auf einmal steht er neben mir, ich habe ihn nicht kommen gehört. Er hat sich im Badezimmer frisch gemacht, Wassertropfen fallen von seinem Kinn auf den Herd, es zischt, und er sieht mich an und lächelt.
Dann holen wir’n mal raus, sagt er und greift nach der Kelle. Dampf setzt sich von der fest gespannten, braunen Kruste ab, er stellt den Kopf auf ein Schneidebrett neben der Spüle, das glatte Holz wird dunkel von der ablaufenden Brühe.
Wenn's gar ist, geht's ganz einfach, sagt er und macht mit der Klinge einen Schnitt an der Stirn. Die Maske löst sich von selbst, fällt geradezu vom Knochen, darunter schimmert gräuliches Fleisch und weiß glänzendes Fett.

Als wir wieder zuhause sind, erzähle ich meinem Vater davon. Ich warte, bis meine Mutter unten in der Waschküche ist, bis er alleine vor dem Fernseher sitzt und die Sportschau guckt. Zuerst frage ich ihn, ob er weiß, was der Opa im Krieg gemacht hat? Mein Vater antwortet nicht sofort, er hebt kurz das Kinn und schaut auf den Bildschirm; es gibt Eckball.
Ich mein, der war an der Flak, sagt er, deswegen hört der doch so schwer.
Dann erzähle ich es ihm, ich erzähle es Wort für Wort.
Ach was, dein Opa, sagt mein Vater. Also nein, das nennt man Demenz, ja? Das ist dann so, das ist gar nicht richtig wahr. Der weiß manchmal nicht mehr, was er da eigentlich von sich gibt. Ein paar Monate später habe ich es noch einmal versucht. Wir saßen im Wohnzimmer, meine Mutter bereitete in der Küche gerade das Abendessen vor, aber mein Vater schüttelte wieder nur den Kopf und tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn: Ach was! Dann nahm er einen Schluck Bier aus seiner Flasche und fragte mich, was ich eigentlich vom neuen FC-Trainer halte. Ich blickte auf den Grund meines leeren Glases und sagte: Der FC steigt schon nicht ab.

Mein Großvater starb kurz darauf. Er starb weg, wie man hier sagt. Er ging an einem heißen Sommernachmittag aus dem Garten zurück ins Haus, setzte sich zum Ausruhen auf den Sessel und wachte einfach nicht mehr auf. Die Ärzte sagten, es war ein Herzinfarkt. Bei der Trauerrede hieß es: liebevoller Vater von sechs Kindern. Treuer Ehemann. Gläubiger Christ. Dreißig Jahre lang bei Mannstedt in der Fertigung. Immer verlässlich und verantwortungsbewusst. Grüner Daumen. Die besten Erdbeeren der Siedlung. Ein Mann, der seinen Humor nie verloren hat. Ich erinnere mich, dass meine Großmutter bei der Beerdigung keine einzige Träne vergossen hat. Es war ein seltsamer Anblick, über den ich heute noch nachdenke, wie sie da ganz steif neben meinem Vater sitzt, am Ende der ersten Reihe zum Gang hin, und immer wieder auf die Hände in ihrem Schoß blickt.

Der Geschmack von Fleisch ist mir vertraut geblieben. Ich mache die Sülze nicht selbst, ich kaufe sie bei einem Metzger in der Stadt. Sie schmeckt nicht so wie die von meinem Großvater, aber das muss sie auch nicht. Ich schneide sie in dünne Scheiben, beträufele sie mit ein wenig Essig und fein gehackten Zwiebeln. Ich esse sie nicht mehr oft, und wenn, dann lasse ich mir Zeit, kaue langsam und gründlich, trinke dazu ein kühles Bier. Manchmal schließe ich dabei die Augen und versuche so zu tun, als hätte ich noch nie Sülze gegessen, als sei jeder Bissen mein erster.

 

Wer ist der Erzähler? Das kenne ich auch selbst von meinen Geschichten, es ist nicht der 10-Jährige, es ist nicht der Erwachsene in einer Rückschau, es ist eine gemischte Identität von Kind und Heranwachsendem und Erwachsenem, immer im Fluss hin und her, je nachdem, worum es geht und wie weit es verarbeitet ist.

Moin, und sorry, dass es so lange gedauert hat, mein Jahr beginnt wie das alte aufgehört hat, mit derber Lohnarbeit.

Ja, zum Erzähler: das Changierende zwischen den Zeiten ist ja hier ein handwerkliches Element, ich mag das gerne anwenden, weil es eben auch eine gewisse Intensität beschreibt, man wechselt zwischen dem Gestern und Heute, da steckt auch das Wiedererinnern drin, was ja eher etwas Aktives ist, das läuft wie ein Film ab vor dem inneren Auge und wird einem wieder präsent, deswegen sicherlich auch der unwillkürliche zeitliche Unterschied.

Die Verdrängung wird vorgelebt, sie wird erzwungen, alles Verdrängte poppt wieder hoch, bei den Kindern, den Enkelkindern - man kennt das aus Familienaufstellungen, dass da immer wieder die Traumata der Großeltern hervorscheinen, als prägend erkannt und aufgelöst werden, wenn es gut geht.
Ich muss sagen, ich bin kein Freund von dieser späten Scham und diesem ganzen Getue und Gewese: denn ich bin nicht schuldig und trage keine Verantwortung. Das ist für mich irgendwie abgekoppelt, auch diese Diskussion, ob heutige Einwohner der USA die Nachkommen weißer Siedler oder "Kolonisten" sind, meine Güte - klar sind sie das, und es wurden grausame Verbrechen begangen, aber keiner, der in den letzten hundert Jahren geboren wurde, ist dafür verantwortlich. Man ist dafür verantwortlich, was in seiner eigenen Macht steht, was heute passiert, im eigenen Umfeld. Für mich sind das also Altlasten, die mich persönlich nicht betreffen; ich gehöre allerdings auch nicht zu den anmaßenden Menschen, die vollkommen überzeugt davon sind, dass sie während der NS-Zeit auf jeden Fall Widerstand geleistet hätten oder sonstwas. Jeder Mensch ist prinzipiell anfällig für solche Strömungen in den richtigen/falschen Moment, das macht es ja so gefährlich.
Ein schöner Beitrag zu dieser Arbeit, die uns alle angeht, und wenn wir genug aus der Aufarbeitung der Vergangenheit gelernt haben, können wir uns auch der Gegenwart zuwenden, in der auch täglich traumatisiert und verdrängt wird.
Danke dir sehr für Zeit und Kommentar!

wird alsbald fortgesetzt!

Gruss, Jimmy

 

Hallo @jimmysalaryman,

kennst ja mittlerweile meine Meinung über Deine Geschichten - dicht wie immer, jedes Wort direkt am Puls, das Zoomen vom Erfassen der gesamten Situation bis zur Wollsocke oder dem Tropfen am Kinn - was soll ich noch schreiben - ich liebe Deinen Stil, Deine Schreibe.
Beste Grüße - Detlev

 

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