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- 22.10.2011
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Fucking special
I don't belong here
Creep, Radiohead
Die Rockkneipe, in die Rita mich bestellt hatte, sah aus wie eine der üblichen Independent-Klitschen, die am Rande der Stadt lagen, klein und schäbig. An den Wänden klebten Zeichnungen, deren ungelenke Muster man im diffusen Schein der Hängeleuchten nur ahnen konnte.
Doch etwas war anders: Der Laden war brechend voll. Ich drängte mich durch die eng stehenden Tische, vor denen sich die Bühne wie eine Kultstätte erhob. Das Holz der Wände speicherte die Hoffnung und die Enttäuschung unzähliger Heavy-Metal-Bands, die hier gnadenlos ausgebuht worden waren.
Das „Wolf River“ war legendär für sein anspruchsvolles, erbarmungsloses Publikum.
Rita wollte mir einen neuen Sänger zeigen. Ich war wenig erfreut, denn sie hatte mich gerade aus einer vielversprechenden Kartenrunde herbefohlen.
„Was ist los mit ihm, dass ich unbedingt sofort in diese Absteige kommen musste? Ich hatte gerade eine Glückssträhne.“
„Wart‘s nur ab, du wirst überrascht sein, er ist ein Juwel – und das Beste ist, er weiß es nicht.“
Als er dann erschien, waren es gar nicht die ersten, schnellen Akkordwechsel oder seine dunkle, sehnsüchtige Stimme, die mich aufhorchen ließen, es war das kreischende Johlen des Publikums.
Ich hatte ihn vorher nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen, als er zu seinem Platz gehinkt war, gesehen, dass er Hilfe brauchte. Jetzt blickte ich ihn an.
Er saß auf einem Klappstuhl, vor sich die Gitarre. Sein Gesicht war geneigt, das Profil halb verborgen durch eine hochgezogene, verwachsene Schulter, die seinen Kopf in eine gebeugte Haltung zwang, als wollte er sich seinen Zuhörern mit unaufhörlicher Hingabe widmen. Seine Hände sprangen nervös auf der Gitarre hin und her. Doch die Läufe waren so virtuos gespielt, dass sich die Töne wie die Glieder einer kostbaren Kette um die Melodie seiner Stimme wanden, sie betonten, dann verließen und nach einer Kaskade von Improvisationen erneut berührten. Er griff die Akkorde nicht nur mit der linken Hand, sondern tappte mit der rechten dazu, ließ seine Gitarre aufschreien, wenn er schwieg. Dann fand er zurück zu leiseren Akkorden, schloss die Augen und ließ seine Stimme anschwellen. Ihr Klang füllte den Raum mit rauer Zärtlichkeit, dann schwang sie sich hinauf in Höhen, die man bei einem Mann niemals vermutet hätte, wurde immer leiser, ließ für einen kurzen Moment eine gläserne Schärfe ahnen und brach dann gekonnt mit einem Hauch, der von der aufjaulenden Gitarre aufgenommen wurde. Ein neuer Jeff Buckley, nur noch besser.
Er sang von einer Frau, die außergewöhnlich war, sein Engel, einfach „fucking special“. Von der er nur träumen konnte, weil er hässlich war, ein sonderbarer Gnom. Er sang für sie, er schrie für sie nach Schönheit, danach, selbst etwas Besonderes zu werden. Dafür würde er alles tun. Sogar Schmerzen ertragen.
Manchmal teilten sich die dunklen Haarsträhnen, die sein Gesicht verbargen, und gaben den Blick frei auf ein Feuermal, das auf seiner blassen Haut wucherte. Ein dunkles Rot, aufgespießt von dem gleißenden Spot, den der Beleuchter mit unbarmherziger Lust darauf lenkte, sobald es zu sehen war.
Wenn das geschah und sich gar mit dem Refrain des Liedes traf, kreischte die Menge noch lauter auf, gierig; sie ereiferte sich, dass es ein echter, schäbiger Krüppel war, der ein Lied über einen abstoßenden Freak sang. Und über seinen Wunsch nach Schönheit.
Einmal, als er den Kopf ein wenig aus der unbarmherzigen Haltung befreien konnte, in die ihn seine Verkrüppelung zwang, traf mich ein Blick, und plötzlich wusste ich, dass er sich wegwünschte aus dieser düsteren Kneipe. Doch dann schrie und seufzte er wieder seinen Wunsch nach Schönheit in das Publikum. Er ließ die Menschen brennen, sich weiden an seinem Schmerz, an seiner Hilflosigkeit, seinen Wünschen und seiner Hässlichkeit.
Dann schloss er die Augen und versank in den Klängen seiner Gitarre, ertrug das Johlen der Menge, denn er verstand es, sie zu beruhigen und zu zähmen, wieder aufzustacheln und erneut zu zügeln. Er spielte mit ihnen, als wären auch sie mit Saiten bespannt.
Als er nach wenigen Liedern davonhinkte, bekam er stehenden Applaus.
Während wir an unserem Tisch saßen und auf ihn warteten, erzählte Rita von ihm, doch ich war abgelenkt von ihren Lippen, die sich im Rhythmus ihrer Worte bewegten. Ab und zu blitzte ihr schiefer Vorderzahn auf. Ein liebenswerter Makel, der die Sanftheit ihres Mundes betonte. Doch dann wurden mir ihre Worte bewusst: „Wir brauchen eine neue, authentische Musik. Etwas noch nie Dagewesenes, Bizarres, Qualvolles. Ich weiß, dass es diesen Markt gibt, man muss nur mutig genug sein, hineinzustoßen.“ Sie betonte jede einzelne Silbe. Hart klang ihre Stimme, geschäftsmäßig, ein eigenartiger Kontrast zu dem weichen Mund.
Ich stockte: „Rita, weißt du eigentlich, wie du dich anhörst?“
„Ich weiß, aber es ist eine Wahnsinnsidee. Es wäre ein Durchbruch für uns, vielleicht mehr als das, und“, sie zögerte, „ es wäre meine Idee.“ Sie lächelte versonnen. Dann fuhr sie fort: „Wir brauchen nur einen Typen, dem man das Leid, von dem er singt, ansieht, einen, der Schmerz und Hässlichkeit kennt. Es reicht nicht mehr, einfach nur aus der Gosse zu stammen, um das Publikum zu bewegen. Mit Sozialgesülze schafft man´s nicht mehr in die Charts. Wir brauchen jemanden, der hässlich genug ist, die Lücke zu füllen. Und der uns braucht. Wenn er kommt, lass mich machen, ich glaube, ich weiß, wie ich ihn kriegen kann.“
Dann trat er an unseren Tisch. Die Nähe entzauberte den mystischen Freak der Bühne und ließ einen kleinen, von Krankheiten entstellten Mann zurück. Sein Gesicht wirkte so verschoben, dass ich ihn nicht direkt ansehen konnte. Ich hatte Angst, er würde mir meine Verlegenheit und das Entsetzen ansehen.
Rita führte ohnehin das Gespräch.
„Toni, Sie haben etwas Neues, etwas, was noch nie da war. Ihr Auftritt war gut, sehr gut sogar. Ihre Stimme, Ihr Aussehen, das ist ein unglaubliches Kapital. Mein Kollege, Nils Brönner. Er klärt die juristischen Fragen.“
Rita sprach schnell, ihre Stimme hastete durch die Sätze, überschlug sich fast, als hätte sie nicht genug Zeit, alle Informationen unterzubringen. Dann fasste sie sich, lachte und erklärte ihm die Vorzüge unseres Labels. Als sie endlich schwieg, berührte sie wie unabsichtlich seine Hand.
Toni blickte sie an, dann mich, dann zog er die Hand weg. Über sein Gesicht lief ein Zittern. In Ritas Augen zuckte es kurz. Auf ihrer Stirn perlte Schweiß. Doch dann lächelte sie entschlossen und berührte ihn an der Schulter. „Tut mir Leid, Toni, ich wollte Sie nicht bedrängen. Wenn mir jemand gefällt, muss ich ihn anfassen. Ich meine es ernst, ich bewundere Sie. Ihre Stimme, Ihre Ausstrahlung, Ihre innere Kraft, das ist ein Phänomen.“
Toni schwieg. Er sah sie an, blickte kurz zu mir und strich sich mit seinen großen, unförmigen Händen über die Haare.
„Was wollen Sie mit einem Typen wie mir? Ich bin krank und so hässlich, dass sich die Leute nicht trauen, mich anzuschauen. Ist das nicht so, Herr Brönner?“, aggressiv drehte er sich zu mir um.
„Achten Sie nicht auf Nils, Toni, er glaubt selbst dann nicht an Engel, wenn ihm einer den Arsch küsst. Ich finde Sie faszinierend“, wieder griff sie nach seiner Hand. „ Sie brennen danach, die Menschen zu erreichen mit ihren Songs, ihrer Stimme, ihrer Qual. Ich spüre das und ich spüre auch, dass sie das schaffen können. Sie brauchen nur jemanden, der das Marketing macht. Sie und wir, das wäre ein einzigartiges Projekt. Stellen Sie sich vor, große Bühnen, Jubel, Leute, die Ihre Musik hören wollen. Natürlich müssten wir uns über einige Bedingungen klar werden“, sie lachte erneut ihr perlendes Lachen. „Wir könnten ins Geschäft kommen. Wir sind eine Chance für Sie. Eine Riesenchance.“
Toni schwieg, er schaute Rita an und folgte ihren Lippen, während sie redete und redete und ihm den Vertrag und das Blaue des Himmels versprach.
Als Toni ein paar Tage später bei mir im Büro saß, kam er gerade von Rita. Ich bestellte ihm Kaffee. Während er trank, erzählte er mir von dem Unfall, der ihm ein Bein genommen, und von der Krankheit, die ihn in einen verwachsenen Gnom verwandelt hatte. Er war hässlich, hatte aber jede Menge Galgenhumor. Er lachte über sein Stolpern, als er aufstand, um sich die Plakate in meinem Büro anzuschauen, und über das Zittern seines Beines, als er sich wieder auf seinen Stuhl zurückhievte. Sein warmes Lachen ließ seine Augen leuchten.
Ich hatte einen der üblichen Künstlerverträge vorbereitet, der durch Ritas Zusatzkonditionen noch härter wurde. Tonis Witz und sein Schicksal nahmen mich für ihn ein, dieser Vertrag würde ihn auf Gedeih und Verderb dem Label ausliefern.
„Toni, meinen Sie nicht, dass Sie einen eigenen Anwalt aufsuchen sollten, bevor Sie unterschreiben? Zumal die Sonderkonditionen doch sehr ungewöhnlich sind.“
„Wissen Sie, was ich vorher gemacht habe? Wissen Sie, wie es einem wie mir geht? Wir kriegen keinen Job, die Leute wollen uns nicht sehen außer in schmierigen Filmen. Ich will Ihnen die Szenen, in denen ich spielen musste, nicht beschreiben. Sie sind dreckig. Abstoßender, perverser Müll“.
„Aber Tattoos, Piercings, Brandings, und dann auf geschädigter Haut? Meinen Sie, Sie vertragen das? Sie haben jetzt schon Schmerzen. Und es ist nicht so leicht rückgängig zu machen. Was ist, wenn Sie wieder aussehen wollen wie jetzt?“
„Jetzt? Meinen Sie, damit bin ich glücklich? Ich bin krank, mein Rücken schmerzt seit Jahren. Meine Organe sind von Tabletten zerfressen. Für einen wie mich brennt das verdammte, beschissene Jetzt. Ich will, dass es zu Ende geht.“ Er schnaubte verächtlich. „Glauben Sie, einer wie ich, der mit dem hier lebt“, er zerrte brutal an der roten Haut, die über sein Gesicht flammte, „hat Angst vor ein paar Tattoos? Die letzte Frau, die ich küssen wollte, hat mich angespuckt. Ihre Kollegin Rita, sie hat mir wieder Hoffnung gegeben. Stellen Sie sich vor, einem Typen wie mir. Sie hat gesagt: ´Toni, dein Aussehen, das war bisher dein Fluch, mach es zu deinem Kapital´. Stellen Sie sich vor, ein Typ wie ich auf einer großen Bühne. Der Unfall, die Krankheit, das alles war wie ein Alptraum, vielleicht ist das alles nur Bullshit, aber Rita sagt, dass ich vielleicht doch noch mal was anderes machen kann als dreckige Pornos in einem Hinterzimmer für Leute, die sich an meinem Buckel aufgeilen. Ja, ein paar Jahre Musik machen, ich auf einer großen Bühne. Dafür würde ich viel geben.“ Als ich den Klang hörte, mit dem er das sagte, wusste ich, dass er verloren war.
Am nächsten Tag passte ich Rita in ihrem Büro ab.
„Hör zu, dieser Vertrag geht nicht, weder moralisch noch juristisch. Der Mann ist krank.“
„Mein Gott, Süßer, ein paar Tattoos, was soll schlimm daran sein, andere machen das freiwillig, und er wird Erfolg haben, es ist also gut für ihn. Und deine ewige Kritik an unseren Verträgen, ich kann es nicht mehr hören. Das Label muss endlich Fuß fassen auf dem Markt, sonst ist es für uns alle vorbei. Fass den Vertrag ab wie besprochen. Toni ist erwachsen, er muss wissen, was er tut.“
„Dieser Mann hat nur seine Musik. Wenn er unterschreibt, gehen alle Rechte an seinen Songs auf uns über. Dann hat er nichts mehr.“
„Du wirst schon sehen, wenn er erst Erfolg hat, wird er mir ewig dankbar sein. Außerdem, du hast ihn doch gehört. Wenn er singt, spüre ich etwas, ich weiß nicht, was es ist, aber wenn mir das so geht, geht es auch anderen so. Er hat das Zeug zu einem Denkmal. Ich bin sicher. Er wird Musikgeschichte schreiben.“
„Und wenn er keinen Erfolg mehr hat? Du weißt, wie schnelllebig die Szene ist. Oder wenn er das Label wechseln will? Was bleibt dem Denkmal dann?“
„Das wird schon nicht so schlimm sein.“ Ihre Stimme klang brüchig.
„Rita komm, lass uns wenigstens die Sonderkonditionen rausnehmen, so bist du doch gar nicht. Dir ging es doch immer um die Musik und den Menschen, Künstlern eine Chance geben, das war dein Traum.“
Rita blickte nach unten, sie sah müde aus. „Was weißt du schon von mir“, sagte sie, drehte sich um und sah auf das Plakat an der Wand, ein Bild von einer Grammy-Verleihung. „Siehst du“, sagte sie, das ist es, was wir brauchen, um zu überleben, wir wollen Musik machen, ja, neue Wege gehen, du kennst aber auch unsere Lage. Manchmal muss man etwas opfern, wenn man sich halten will. Und wenn hier einer schon lange seinen Traum verloren hat, dann doch wohl du. Deine Musik heißt Blackjack. Also mach du mir keine moralischen Vorhaltungen.“
Sie blickte noch einmal auf das Plakat an der Wand und straffte die Schultern, ihre Stimme wurde lauter: „Sei froh, dass du in diesem Laden arbeiten darfst, du Kartenjunkie, lass mich mit deiner verlogenen Moral zufrieden.“ Sie drehte sich um und ging. Ich schaute ihr nach, sah ihre weichen Hüften, ihren schwingenden Gang. Dann schaute ich auf das Plakat, griff nach irgendeinem Schnaps, schüttete ihn runter, und mit jedem neuen Schnaps fand ich es ein klein wenig leichter, mit mir selbst in einem Zimmer zu sein.
Ein Piercing- und Tattoo-Parcour durch schmuddelige Läden folgte. Rita begleitete Toni. Pressekonferenzen, Fototermine lösten einander ab. Das Denkmal musste vermarktet werden. Während Rita ihre Vision erklärte und Reporter die beiden umschwirrten, übertrafen sich die Fotografen mit Ideen, Rita und Toni in Szene zu setzen. Irgendwann sah ich einen der Reporter auf seine Unterlagen kritzeln, eine Zeichnung, die ihm großes Vergnügen bereitete. Immer, wenn er einen neuen Strich anbrachte, verzogen sich seine Lippen zu einem höhnischen Lächeln. Als ich mich ein wenig näher schob, sah ich eine hässliche Karikatur von Toni. Sein Buckel war ein verzerrter Höcker, auf dem fette Bleistifthaare wucherten. Der Mann summte, während er weiterstrichelte. Ich wandte mich verlegen ab und schaute verstohlen zur Seite, in Tonis Richtung. Als mich sein Blick traf, wusste ich, dass er die Zeichnung gesehen hatte.
Als ich ihm das nächste Mal begegnete, spielte er mit einer großen Band.
Die Musiker kamen auf die Bühne und stellten sich in Positur, dann wurde es dunkel. Plötzlich sprang aus dem schwarzen Nichts ein Lichtkegel, der Tonis kleine, verwachsene Gestalt in grelles Weiß tauchte. Er saß auf einem metallfarbenen Rollstuhl. Er trug keine Prothese. Der Stumpf des amputierten Beines war von roten, glänzenden Narben und schwarzen Mustern bedeckt. Er trug nur ein Trikot, das seine Oberarme betonte. Der Rückenausschnitt lenkte den Blick auf den Buckel, der noch größer und gröber wirkte. Schwarze Linien bedeckten den Körper. Das Feuermal war am Rand von eng aneinander sitzenden Ringen eingefasst. Zur Nase hin lösten Ornamente das Metall ab. Eine eintätowierte Zahnreihe verbreiterte den Mund und verwandelte sein Gesicht in eine Fratze. Rita hatte es tatsächlich geschafft. Aus dem hässlichen, kranken Mann war eine Ikone des Grauens geworden, bei deren Anblick die Fans vor Entzücken aufschrien.
Die ersten Akkorde ertönten, das Publikum heulte noch lauter auf und bettelte nach seinem Gesang. Endlich, ganz hoch, löste sich seine Stimme aus dem Jaulen und Schreien, ließ es verstummen und fand zur Melodie. Ein dunkles, schwermütiges Lied, die Zuhörer kannten jede Zeile. Dann trieb er die Menge zum Refrain und ließ sie teilnehmen an seinem Leid, während der Spot die zerstörte Landschaft seines Gesichtes in gleißendes Licht tauchte, seinen Buckel in obszönem Glimmer badete und liebkosend an den Gliedern entlangfuhr bis zu seinem Stumpf.
Nach wenigen Liedern konnte er nicht mehr, doch das Publikum tobte und verlangte nach seinem Lieblingssong. Wieder sang er von der Frau, die aussah wie ein Engel, und von seinem Wunsch nach Schönheit, damit sie ihn liebte. Er begann tief, heiser, dann schrie er auf, übersprang zwei Oktaven und vibrierte in der Höhe mit einem hellen, fast unmenschlichen Klang, der einen zerriss, weil er von Schmerz sprach und Hoffnung und Angst. Kurz bevor seine Stimme brach, erzitterte sie ein letztes Mal. Als der Spot sich wieder auf ihn richtete, sah ich einen Blutstropfen, der wie ein dunkles Blütenblatt unter seiner Nase hing. Ich lauschte auf den letzten, ersterbenden Ton, der im Raum verklang, und fröstelte. Seine Stimme war noch besser geworden.
Vergeblich schrie das Publikum nach weiteren Zugaben. Als Toni die Bühne verlassen wollte, überrannte ein Pulk aus der Menge die Bühne. Sein Rollstuhl verschwand unter den heranbrandenden Leibern der Fans. Das Letzte, was ich von Toni sah, als er unter den Körpern verschwand, war die Hand eines Fans, die sich besitzergreifend in seinen Buckel krallte. Dann nur noch die schwarzgekleideten Rücken der Security, die sich durch die Fans zu Toni hindurchdrosch.
Ich saß mit ein paar Freunden, die Toni von seinen ersten Konzerten kannten, am Tisch. Keiner sprach, das Entsetzen über sein Aussehen und das Geschehen auf der Bühne lag wie eine schwere Bürde zwischen uns. Ich spürte Feuchtigkeit im Gesicht und wischte mit dem Ärmel meines Hemdes über Augen und Nase.
Als Toni dann endlich kam, war er in Ritas Begleitung. Quasimodo und Esmeralda, wie die Reporter witzelten. Nur dass diese Zigeunerin hier ein enges, schwarzes Designerkleid trug und sich die Zähne hatte richten lassen. Die Reporter umschwärmten die beiden wie ein Haufen bunter Krähen.
„Gutes Konzert, Toni, aber …“, sagte ich.
„Du meinst mein Gesicht? Ich weiß. Ein hoher Preis, aber nicht zu hoch. Ich war nie glücklicher als gerade jetzt.“ Er schaute Rita an mit einem Blick, der mir wehtat. Verlegen schaute ich auf meine Hände. Die Ärmel des T-Shirts waren rot verschmiert.
„Ich kann endlich tun, was ich immer wollte. Und die Leute lieben mich, es ist fremd, wie ein Traum. Es ist als ob ich ein anderer wäre.“ Er blickte wieder zu Rita.
Die sah seinen Blick, warf kokett den Kopf in den Nacken und küsste ihn dann liebevoll, nicht ohne vorher zu prüfen, ob das Blitzlichtgewitter, das dieser Liebkosung folgte, auch ihre beste Seite einfing. Als das Interview begann, setzte sie sich auf die Lehne seines Rollstuhls und erzählte den Reportern von dem musikalischen Denkmal, dem Kunstwerk aus Musik und Fleisch, das sie in Toni erschaffen hatte. Einmal, als Toni hustete, reichte sie ihm ein Taschentuch, eine eigenartig fürsorgliche Bewegung, fast, als machte sie sich Sorgen um ihn. Doch dann zog sie schnell die Hand zurück und präsentierte ihr Profil und ihr neues, makelloses Lachen.
Dann ließen die Fotografen Rita und Toni posieren, sie knipsten, wie sie ihn küsste, baten sie, ihn zu streicheln, sich an ihn zu pressen und ihren Arsch an seinem Buckel zu reiben.
Wir anderen taten so, als würde uns das nichts angehen und tranken, damit wir nichts sehen mussten. Als sie gegangen waren, saß Rita noch am Tisch. Sie redete und redete, doch auf ihrer Stirn stand Schweiß und als ich mich neben sie setzte, roch ich ihren scharfen, kranken Atem.
Toni gab ein Konzert nach dem anderen. Das Publikum verzehrte sich nach ihm, seiner Hässlichkeit und seinen Liedern. Wenn sie ihn im Scheinwerferlicht sahen, stürmten sie die Bühne. Am liebsten hätten sie ihn in Stücke gerissen, um einen Teil von ihm als Trophäe heimzutragen. Rita begleitete ihn, wachte über die Deals, die er abschloss, und gönnte ihm keine Pause. Toni heimste einen Preis nach dem anderen ein. Das Label verdiente mehr als jemals zuvor. Ich schwamm im Geld, spielte und trank. Schließlich ging Rita mit Toni für ein Jahr auf Tournee.
Den Verlauf verfolgte ich nur am Rande, ich schlug mich mit den juristischen Folgen von Tonis Konzerten herum. Denn er konnte nur noch kurz auftreten, und die Faszination der Fans paarte sich mit Wut über die kurzen Konzerte, die Zerstörungen nahmen zu.
Ich sah ihn erst am Ende seiner Tournee wieder. Ich erkannte ihn kaum, so schwach und hilflos wirkte er vor dem hellen Licht der Bühne. Die schwarzen Muster stachen scharf von seiner Haut ab. Doch seine Stimme war immer noch voller Kraft.
Immer wieder blutete er aus der Nase, doch das Publikum fand das geil. Der magische Freak mit der metallischen Stimme, der so sehr die Schönheit liebte, dass er verblutete. Die Fans hingen an seinen Lippen, tranken seinen Gesang. Am Ende, als klar war, dass keine Zugabe folgen würde, stürmten sie wieder die Bühne. Wenigstens berühren wollten sie ihr krankes Idol. Alles, was ihnen dabei im Wege war, wurde niedergerannt, Instrumente zertrümmert, Leitungen rausgerissen, die Fans verletzten sich gegenseitig. Wenn man die stürmende Masse sah, fürchtete man um Toni, doch zu seinem Schutz hätte es keine Security gebraucht. Auch wenn Hunderte von Händen ihn berührten, die Menge tat ihm nichts. Sie trugen ihn, streichelten ihn, reichten ihn weiter, vorsichtig wie eine Kostbarkeit. Und er genoss es. Als ich Toni so sah, aufgebahrt wie ein altertümlicher Herrscher auf den erhobenen Armen der Fans, als ich sein Gesicht sah, seinen Blick, wusste ich, dass er seinen Engel gefunden hatte. Er lachte, er blutete, von der Anstrengung, den Medikamenten, ich weiß es nicht, aber er lachte.
Nach dem Konzert kam er zu mir.
„Toni, du bist krank.“
„Es ist nichts, nur ein paar Konzerte zu viel. Lass mich ein, zwei Nächte ruhig schlafen. Dann geht es wieder.
„Toni, vielleicht wäre eine kleine Pause gut, die Kosten steigen, wir machen Verluste, allein die Sachbeschädigungen.“
Toni unterbrach mich: „Du siehst doch, dass die Leute mich brauchen. Wenn ich nicht singe, bleibt hier kein Stein auf dem anderen und das Label kann einpacken. Ich bin es, den sie wollen.“
Als er den Mund schloss, verschob sich die auftätowierte Zahnreihe und verwandelte sein Gesicht in eine faltige Maske.
Später, als ich zum Ausgang lief, sah ich Rita. Sie hatte auf mich gewartet.
„Nils, wir müssen reden, es geht um die Konzerte, um Toni. Das Ganze ufert aus, es wird zu teuer, außerdem ist er krank, er kann nichts mehr leisten, er liefert immer noch gut ab, aber wie lange noch? Du musst ihm sagen, dass er keine Auftritte mehr kriegt. Die Fans hauen alles kurz und klein. Das verschlingt Unsummen. Wir müssen jetzt schon Strafen zahlen. Wir können uns das nicht mehr leisten.“ Hinter mir hörte ich ein leises Knacken.
„Was soll das, Rita, das müssen wir in Ruhe mit ihm besprechen. Hier geht das nicht.“
„Dann mach es. Bald. Morgen.“
„Wieso denn die Eile?“
„Ich habe neue Pläne. Diese Welle kann man noch eine Zeit lang reiten, dann ist sie vorbei. Außerdem ist er fertig. Es tut mir Leid. Aber so ist es.“
Ich verzog das Gesicht.
„Komm Nils! Du hast einen guten Draht zu ihm. Ich … ich kann das nicht.“
„Gut, aber nur, wenn er wenigstens die Rechte an ein paar seiner Songs behalten darf.“
„Was soll das, du weißt genau, was im Vertrag steht. Die Songs sind bares Geld. Wir brauchen sie. Und vor allem, er ist mein Geschöpf, hast du gehört, meines.“
„Dann sag du es ihm doch, dass das Label ihn nicht mehr braucht. Und alle sein Songs einkassiert.“
„Wusste ich´s doch, die Kohle streichst du ein, aber die Drecksarbeit lässt du mich machen. Du solltest unser süßes Monster im eigenen Interesse loswerden, und zwar schnell, er wird ganz schön teuer. Wenn du Skrupel hast, bist du hier falsch. Ich werde ihm morgen sagen, dass er aufhören muss.“ Dann verließ sie den Raum, ihre Hüften schwangen hin und her, wie immer, doch es war eine harte Bewegung, als wäre eine Wand in ihr entstanden.
Als ich mich umdrehte, sah ich, dass hinter mir eine Tür geöffnet war, der Raum war leer, auf einem Stuhl lag Tonis Jacke.
Das Abschlusskonzert der Tournee fand in einem leer stehenden Fabrikgebäude statt. Es sollte der Höhepunkt der Tournee werden, ein gigantischer Medienevent, der ein paar der Verluste wettmachen und eine Stufe zum nächsten Erfolg bieten sollte. Alles war da, was Rang und Namen hatte. Die Mitarbeiter des Labels, Reporter und Musikjournalisten, die Toni auf seinem Weg begleitet hatten, alle saßen sie bereit, in einem bestuhlten, durch eine Absperrung getrennten Bereich.
Ich trat als letzter durch einen Nebeneingang in den Saal. Ich lehnte mich ganz hinten an die Wand und suchte nach einer bequemen Stellung. Mir war kalt. Dann endlich kam Toni, er trug seine Prothese, eine Hose darüber, als wollte er sich bewusst von seinen sonstigen Auftritten abheben. Der erste Spot sprang ihn an, das Publikum zischte, als es erkannte, wer der schwarz gekleidete Mann auf der Bühne war. Doch als er sich auf dem silbernen Stuhl niederließ und die Gitarre in die Hand nahm, flachte das Zischen ab und wurde zu einem zufriedenen Grollen. Die Gitarre kreischte, Rückkopplungen schmerzten. Die Menge schrie. Toni erhob sich, riss die schwarzen Kleider von seinem Körper, das weiße Licht ließ die blasse Haut, die schwarzen Blüten und Ornamente hervorspringen, dann spielte er weiter. Das Schreien wurde lauter, qualvoll. Es endete erst, als Toni die Lautstärke der Gitarre regulierte. „Nein“, sagte er und blickte zu dem abgesperrten Bereich, „das möchte ich meinen Freunden nicht zumuten, dass sie Schmerz empfinden müssen. Und vor allem dir nicht, Rita, meine schöne Blume. Nicht auf meinem letzten Konzert. Nein, so sollt ihr es nicht in Erinnerung behalten, übersteuert und mit schlechtem Klang. Ich gebe noch einmal mein Bestes. Ein letztes Mal. Wisst ihr“, wandte er sich nun an die Menge, „dass meine Freunde hier wollen, dass ich aufhöre? Wisst ihr, dass sie so um meine Gesundheit besorgt sind, dass sie mich zu einem einzigartigen Kunstwerk gemacht haben? So besorgt, dass ich nun nicht mehr auftreten, meine eigenen Lieder nicht mehr singen darf?“ Ein Brausen, das immer mehr anschwoll, durchlief den Raum.
Dann begann er. Das Lied, das ihn bekannt gemacht hatte, doch um eine Oktave nach oben versetzt. Er sang, und je höher er sang, desto lauter wurde seine Stimme, ein weißgreller Kontrapunkt zu den Gitarrenverzerrungen, mit denen er sich begleitete.
Dann schwieg er abrupt und nahm das Mikro weg. Er wartete einen Moment. Dann sprach er zu uns, ohne Mikro, und seine Stimme füllte den Raum: „Ja, ich werde diesen Song nie wieder singen. Daher habt ihr es verdient, zuletzt mein ganzes Können zu erleben“, er lachte erneut, ein leises, glucksendes Lachen. „Ich habe es euch noch nie gezeigt, wie gut ich tatsächlich bin. Freut euch mit mir auf das letzte Lied eines abstoßenden Kunstwerks, das nie mehr auftreten wird, weil es zu krank ist und weil man ihm alles genommen hat. Diese Leute“, wies er auf die Stuhlreihen, „haben mir alles genommen.“
Dann sang er und seine Stimme schwoll an, schnitt tief in den Körper hinein, schuf Hohlräume und füllte diese mit flüssigem Metall, bis die Wände der Hohlräume platzten. Blut floss aus meiner Nase, Stiche zuckten hinter meiner Stirn und doch musste ich weinen über das letzte Konzert eines Freaks. Das Licht erlosch, Splitter regneten herab, bohrten sich in meine Haut. Vor mir sah ich durch einen dunkelroten Schleier sich krümmende Gestalten, die Hände an die Ohren gepresst, dunkle Rinnsale liefen ihnen über Gesicht und Brust, sie torkelten mir entgegen. Hinter ihnen sah ich sie heranrücken, eine schwarze Mauer von Menschen. Sie wanden sich vor Schmerzen, und kesselten dennoch diejenigen ein, die ihnen ihr Idol nahmen. Wie eine Welle schlugen sie über den zuckenden Körpern zusammen. Schreie vereinten sich zu einer Kakophonie, über der weit oben Tonis Stimme schwebte wie ein grausamer, brennender Mond. Ich wandte mich um, der Schmerz zuckte in meinem Kopf, nur raus, zur Tür. Ich riss, sie ließ sich nur schwer öffnen. Mit letzter Kraft zwängte ich mich hindurch, zu eng war es, der Gesang so schneidend. Dann war ich draußen, taumelte, mein Körper fiel gegen die Tür, machte sie noch schwerer. Ich war dem Gesang und der Wut der Menge entkommen. Einen kurzen Moment dachte ich an die anderen, die noch im Raum waren, an Ritas weichen Mund und ihren wiegenden Gang. Dann drehte ich mich um, drückte mit aller Kraft gegen die Tür und die Leiber, die nach draußen wollten, vor Angst, dass man auch mich einholen könnte. Ich hörte noch das Kratzen und Schaben ihrer Finger, bis es verschluckt wurde von Tonis Gesang, hörte die letzten Worte seines Liedes „I don´t belong here“, die hell und triumphierend laut erklangen, bis sie abrupt mit einem brüchigen Falsett endeten.