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Fleißige Hände
Ich hätte gleich wissen müssen, dass etwas nicht stimmt, als Caro, die Frau vom Pflegedienst, mir das Babyphon gab. „Für dich“, sagte sie, „man kann es auch für Mütter verwenden. Es ist ein Stück Freiheit von ihr.“
*
Sonnenstrahlen werfen lange Streifen auf ihr Bett. Ich will Mutter aufrichten, damit sie hinausschauen kann, doch sie redet lieber mit Caro. Mutter ist gut gelaunt, die Haare sind gewaschen und in Löckchen gelegt. Mit blanken Augen sitzt sie in ihrem Bett, in den Händen knetet sie Apfelschnitze. Eine niedliche Reklame-Oma, die Erinnerungen an lange Kuchentafeln unter blühenden Kastanienbäumen weckt. Ich denke an den Duft von Flieder und Jasmin und an ein Blech Zuckerkuchen.
Ihre Stimme dirigiert mich aus meinem Tagtraum. „Ich möchte Rouge auflegen und Lippenstift, Kind, du weißt schon, welchen. Ich muss schön aussehen, wenn deine Schwester kommt.“
Ich seufze und zucke mit den Schultern. Schon wieder denkt sie das. Wie soll ich sie nur ablenken?
Nie sagt sie „Teresa“, immer nur „deine Schwester“, als wäre das ein Beruf.
Wenn Mutter mit Caro spricht, klingt sie anders. Nicht so fordernd, sondern stolz und fast ein wenig ängstlich. „Meine Tochter hat ja eine Pause eingelegt, ihre Karriere aufgeschoben, um mich zu pflegen. Ich finde, das ist doch auch richtig. Oder?“ Caro legt die Hand auf die zarten Finger meiner Mutter. „Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Wagner, Ihre Tochter weiß schon, was sie tut.“
Ich bin so froh, dass Caro regelmäßig kommt. Die Pflege einer dementen, alten Frau ist nicht leicht. Vor allem, wenn man allein ist. Manchmal möchte ich mich hinter Caro, dieser fröhlichen, immer nach Zitronenseife duftenden Frau verstecken.
Noch ein paar Minuten Ruhe, bevor sie geht, denke ich und blicke aus dem Fenster. Auf der Straße gegenüber läuft eine Frau mit einem kleinen Hund. Sie zieht an der Leine, doch das Tier will nicht weiter. Das Mäntelchen, das es gegen die Kälte tragen muss, ist ihm über den Hals gerutscht. Nun steckt der Kopf unter einem Stofftrichter aus Schottenkaro. Noch hat die Frau nichts bemerkt. Die Leine wird lang und länger, an ihrem Ende baumelt der Stofftrichter, dahinter folgt der kopflose Hundeleib, unter dem sich vier schiefe Pelzstengel in den Boden stemmen. Endlich entdeckt die Frau das Malheur und zieht den Umhang zurecht. Wie auf Kommando trippelt das Tier los. Ich muss lachen.
„Was kicherst du, Kind?“
Ich zeige auf die zottelige Hunderaupe im Schottenmantel.
„Weißt du, dass ich als Kind einen Rock aus Schottenkaro hatte? Selbst genäht natürlich. Ich war eine begeisterte Näherin. Und so begabt. Deine Schwester hat das von mir. Ich verstehe nicht, warum du nicht nähen kannst.“
Ich wende mich vom Fenster ab, der kleine Hund ist längst um die Ecke gebogen.
„Kind, ein bisschen nähen sollte jeder können. Wenigstens kriegst du Sauerbraten hin. Mit irgendwas muss man die Männer beeindrucken. Ich hätte das alles ja nicht gebraucht.“
Ich antworte immer noch nicht. Die Sonnenstreifen sind weitergewandert und umrahmen den Kopf meiner Mutter mit einem seidigen Lichtkranz wie auf einem alten Madonnengemälde. Was für ein unpassender Ort.
„Damals, als wir noch in Köln lebten, da war doch dieser junge Mann, der uns immer Kuchen geschenkt hat. Aber deine Tante war so, du weißt schon, so ein bisschen wie du.“
„Mutter, ja, sie hat dir den Kuchen weggenommen.“
„Woher weißt du das?“
„Du hast es mir erzählt. Ungefähr hundertmal.“
Meine Mutter kichert verlegen. Immer, wenn sie so lacht, könnte ich sie gern haben. Doch wenn man müde ist, hält Liebe kaum zwei Stunden. Ich reiche ihr einen Becher Kakao, meine Hände zittern. Bevor ich das Tablett mit der Tasse richtig abstellen kann, stößt sie dagegen. Flüssigkeit tropft auf das Laken. „Du musst doch sowieso neu beziehen“, murmelt sie. Ich könnte schwören, sie hat das absichtlich getan. Kakaoflecken neben gelblichen Suppensprengseln. Das war gestern. Ein Rorschach-Test für Töchter. Doch dann schäme ich mich. Sie hat ja Recht, ich sollte das Bettzeug wechseln. Aber ich fühle mich so müde. Ich wollte noch warten, bis Caro mir helfen kann. Absichtlich sollte sie mich trotzdem nicht anstoßen. Das tut man nicht. Auch nicht als Mutter.
Die Stunden dehnen sich. Mir fällt es immer schwerer, die alte Frau zu waschen und zu wickeln. Sie hat heute lange gebraucht, um zur Ruhe zu kommen, das Phon ist eingeschaltet. Nun schläft sie. Hoffentlich.
Freiheit, hat Caro gesagt. Ich stelle den Fernseher an, doch ich kann mich nicht konzentrieren. Müdigkeit umgibt mich, eine dicke, milchig gefärbte Glasscheibe, hinter der fremd und ungreifbar meine Gedanken treiben. Wie Quallen dehnen sie sich aus, schrumpfen, kehren wieder.
*
Ein neuer Morgen mit einem verschleierten Himmel dämmert herauf. Es gibt Tage, da sehen selbst die Farben aus, als hätten sie den Grauen Star. Ich fröstele. Die Kreuzschmerzen sind stärker geworden, und meine Finger zittern. Ich weiß nicht, woher das kommt, aber es wird stärker. Das Tablett für meine Mutter rutscht mir aus den Fingern, der Kakao bespritzt das Bett. Schon wieder. Später hilft Caro mir beim Umbetten und bezieht neu. „Sie sollten Ihre Mutter mal in die Kurzzeitpflege bringen“, sagt sie. „Sie brauchen eine Auszeit. Es ist jetzt schon fast zwei Jahre, dass Sie Ihre Mutter ununterbrochen pflegen. Andere sind da rigoroser.“
Ich blicke auf meine Hände. Sie hat ja Recht. Ich kann das nicht mehr. Aber ein Pflegeheim? Keiner hat Zeit, die alten Leute liegen sich wund. Außerdem wäre sie nicht mehr hier bei mir. Ich spüre, dass meine Mundwinkel sich ein wenig kräuseln, ganz von allein.
Meine Mutter freut sich immer, wenn sie Caro sieht. Die ist geduldig und hört sich die Geschichten der alten Frau auch zum zehnten Mal an. Von dem Pferd und ihrer Allergie und dass ihr Mann zum Glück frühzeitig gestorben ist. Dass sie als Kind vor einem alten Lehrer abgehauen ist, der noch Jahre nach dem Krieg die Schüler in Reih und Glied antreten ließ und immer sagte, „es war nicht alles schlecht damals.“ Dem sie heimlich den Stock klaute, mit dem er die Kinder schlug. Und der sie einsperrte, weil sie nicht erzählen wollte, wer den Stock gestohlen hatte. „Und stellt euch vor“, sagt sie stolz zu uns, „kein Kind hat mich verraten. Sie wussten alle, dass ich es war. Aber sie schwiegen. Und den Stock? Den haben wir verbrannt, Kartoffelfeuer gemacht. Die haben geschmeckt, die Kartoffeln.“ Ihr Gesicht glüht.
Ich liebe diese Geschichte, ich stelle mir vor, wie sie mit wehendem Röckchen vom Dach des Schulhauses auf einen Sandhaufen springt, in der Hand den Stab des Lehrers. Und ich sehe ihr wildes Gesicht, wenn sie den Stock ins Feuer wirft. Alle Kinder hielten dicht für meine Mutter. Ja, so war sie. Ich höre zu und denke an das, was zwischen uns hätte sein können.
Am Abend erzählt sie wieder von ihrer Jugend. Davon, dass sie meinetwegen heiraten musste, dass man leider noch nicht sicher verhüten konnte. Und wieder von Köln - und von dem jungen Mann. Dass er so hübsch war, so charmant, sogar zu mir. Sie redet ohne Atempause, den Oberkörper leicht vorgebeugt. Ihr Kiefer mahlt Worte, die wie schwere Brocken auf den Boden fallen, dort liegen sie und warten, dass jemand sie wegfegt. „Er hat Kuchen mitgebracht. Mir, deiner Tante, sogar dir.“ Ich schaue auf meine Hände, sie zittern. Weiß sie denn nicht mehr, dass dieser junge Mann mein Verlobter war?
Später, als sie schläft, schalte ich den Fernseher an. Ein Tele-Arzt rät zu Entspannung. Was weiß der schon von meinem Leben und von der Zeit, die nicht vergehen will? Sie dehnt sich wie ein Band von hier bis zum Zimmer meiner Mutter und schlingt mich darin ein. Irgendwann schaffe ich es aufzustehen und mich hinzulegen.
Im Traum laufe ich durch die Korridore eines alten Hauses. Die Wände sind schief und verschieben sich immer mehr, als wollten sie aus der Vertikalen flüchten. Etwas lässt mich hochschrecken. Und dann höre ich es. Geräusche. Wispern und Ticken. Zuerst leise, dann immer lauter. Ein stetes Klopfen. Das Phon. Als ich aufmerksam hinhöre, merke ich, dass hinter dem Klopfen eine Stimme ist. Unverständliche Worte, die wie Wellen an mein Ohr schwappen, sich zurückziehen und wiederkehren. Unaufhörlich. Monoton. Ich schleiche zu ihrem Zimmer und öffne die Tür. Sie schweigt. Nur manchmal ein damenhafter Schnarcher. Vielleicht verstellt sie sich.
*
Ich bin seit fünf Uhr früh auf den Beinen, ich muss waschen und Mails an die Krankenkasse schreiben. Erschöpfung hüllt mich ein, aber ich kann nicht ruhen, ich muss mich beeilen, bevor meine Mutter wach wird.
„Kind, wo ist mein Kakao? Ich hatte eine schlechte Nacht.“
Da ist sie schon. Ihre Stimme klingt schwach, aber gebieterisch durch das Phon.
Ich öffne die Tür einen Spalt und stecke den Kopf zu ihr hinein. Sie sieht blass aus.
„Mutter, ich muss nur noch was fertig schreiben, in einer Viertelstunde kriegst du deinen Kakao.“
„Mein Herz klopft, Kind, ich fühle mich nicht gut. Bitte, sei so lieb und komm!“
„Nur einen Moment noch, dann bin ich so weit.“
„Warum lässt du mich betteln? Es ist doch nur ein Kakao. Ich weiß, ich bin eine Last für dich. Es ist schlimm, so alt zu sein.“
„Mutter, bitte, ich bin gleich da.“
Im Weggehen höre ich noch ihre Stimme, ganz klein und dünn: „Ich weiß, du willst mich wegschicken, ich habe gehört, was Caro gesagt hat. Das tut so weh, Kind, dass du mich abschieben willst.“
Sie meint das nicht so, denke ich, das sind ihre Spielchen. Gleich, wenn ich fertig bin, werde ich sie trösten. Trotzdem fühle ich mich schlecht.
Aus dem Zimmer ertönt Poltern. Dann ein Aufschrei. Ich springe hoch und laufe hin. Bei dem Versuch aufzustehen, ist sie aus dem Bett gefallen.
„Du hättest doch nur kurz warten müssen.“ Die Worte bleiben mir in der Kehle stecken. Klein und zerbrechlich liegt sie da am Boden und schaut mich von unten herauf an. Wie ein angefahrenes Tier. Ich fasse sie unter den Armen, will sie hochheben. Ihr Körper fühlt sich leicht an, als wären die Knochen mit Luft gefüllt, ich muss aufpassen, dass sie nicht splittern, Gottseidank zittern meine Hände dieses Mal nicht. Warum bin ich nur manchmal so stur? Alles nur wegen einem Kakao.
Rau stößt sie Worte hervor. Es ist kaum zu verstehen, doch mein Körper begreift sofort. „Deine Schwester soll kommen.“ Ich kann machen, was ich will, mir den Arsch aufreißen, sie sogar zu mir holen, alles aufgeben, damit sie mich endlich bemerkt, doch immer wieder fragt sie nach meiner Schwester. Mir ist, als würde die alte Frau immer schwerer werden.
„Du hast doch nie Zeit für mich“, wimmert sie. „So warst du schon immer, neidisch. Was habe ich dir nur getan? Wo ist deine Schwester?“
„Sie ist nicht da. Du musst schon mit mir Vorlieb nehmen.“
„Sie hätte mir Kakao geholt.“
Ich hole tief Luft, doch irgendwo auf halbem Weg zu meiner Lunge formt sich der Atem zu einem pochenden Klumpen, der sich ausdehnt, bis er riesig und glühend meinen Brustkorb füllt.
„Deine Schwester soll kommen.“
„Sie ist tot.“
„Du lügst.“
„Nein. Und gepflegt hätte sie dich sowieso nicht.“
Sie weint. Ganz tief und schrecklich. „Sie war mir so nah. Warum sie?“
Der Klumpen in meinem Inneren fällt in sich zusammen. Es ist keine Explosion, nichts Aufregendes, er fällt nur zusammen und hinterlässt ein Loch, das sich langsam mit etwas Dunklem auffüllt. Ganz selbstverständlich und unspektakulär, einfach so.
Ich stehe vor ihr, meine Hände unter ihren Armen und fühle das Dunkle, bevor ich mich abwende und sie liegen lasse.
*
Tage reihen sich aneinander wie Perlen einer Kette, durchbrochen von dunklen Einfassungen. Am Tag wasche ich meine Mutter und füttere sie. Ich wechsele die Wäsche und bette sie um. Wir sprechen nicht. Am Tag bin ich eine Maschine auf zwei Beinen, erst in der Nacht werde ich zu einem Menschen. Dann, wenn das Phon zum Leben erwacht und meine Mutter sprechen lässt. Es ist kein Wispern mehr, es sind ganze Sätze. Geschichten aus ihrer Kindheit. Vom Meer, von ihrer Zeit in Köln als Sekretärin und von den vielen Männern. Mitten in der Nacht, in einem andauernden Gleichmaß. Ich habe ihre Erzählungen schon früher gehört. Hunderte von Malen. Aber ich hatte sie nie verstanden, weil das Wort Schwester viel zu oft darin vorkam. Jetzt ist es, als wollte meine Mutter die Zeit nachholen, die sie mit mir verpasst hat. Als wollte sie mich begreifen lassen. Das Phon lässt sie zu mir sprechen. Endlich. Und es tut weh, was sie sagt.
Manchmal gehe ich, während sie redet, zu dem alten Schreibtisch mit den Fotos und betrachte unsere Familie. Meine jüngere Schwester Teresa, mein Vater, dazwischen ich. Über uns das strahlende Lachen meiner schönen Mutter. Nur sie ist geblieben. Und ich. Ich höre ihre Stimme: „Fleißig warst du ja, das kann dir keiner nehmen. Aber zu bemüht.“ Die tiefe Stimme meines Vaters, die ich schon vergessen glaubte, kommt hinzu. „Lass sie in Ruhe, sie ist gut, so wie sie ist.“ Und zu mir sagt er: „Du musst nicht bleiben.“ Doch ihre Stimme gewinnt. Das Phon weiß es. Es ist, als könnte ich die Speicheltröpfchen sehen, die bei jedem Wort von ihren Lippen stieben. Und jede Nacht ertappe ich mich dabei, wie ich vor ihrem Zimmer stehe, das Phon in der Hand, und auf ihren Atem lausche. Und jede Nacht wird das Dunkle in mir schwerer. Ich will es aus meiner Brust reißen, doch es geht nicht, weil meine Hände zittern. Sie zittern von der Anstrengung, nicht die Klinke zu ihrem Zimmer hinunterzudrücken.
Eines Nachts gehe ich doch hinein. Der Redeschwall aus dem Phon ist verebbt. Ich stehe vor ihrem Bett, rieche den faden Altfrauengeruch, sehe die feinen, weißen Haare. Ich blicke auf meine Hände und frage mich, wie sie das aushalten. Raue, trockene Haut, bedeckt von kleinen braunen Flecken. Finger, die sich nach rotem Nagellack sehnen und nach einem Streicheln. Stattdessen bewegen sie sich. Hin und her, ein Rhythmus, den ich nicht steuern kann. Ich fliehe aus dem Zimmer, das Phon schalte ich ab.
*
Wieder ein Tag und eine Nacht. Caro war da und ist wieder gegangen. Oder war das schon mehrmals? Alle Nächte ticken jetzt und flimmern wie weißgraues Rauschen eines kaputten Fernsehbildes. Doch diese ist besonders schlimm. Ich schlafe nicht. Mein Hörvermögen ist so scharf wie das eines Tieres.
Ein gleichförmiger Monolog tönt aus dem Phon. Ich drücke auf die Austaste, doch es summt weiter. Ich häufe Kissen darauf. Ihre Stimme dringt trotzdem zu mir durch. „Dieser Mann, ich wusste, dass du ihn mochtest. Es geschah einfach, Kind.“ Bestimmt bilden sich Speichelbläschen zwischen ihren Lippen, blühen auf und zerplatzen, hinterlassen giftigen Schaum, der in ihre Mundwinkel wandert und dort verkrustet.
Ich reiße das Phon unter den Kissen hervor und schleudere es gegen die Wand, ein Regen aus weißen Plastikteilchen rieselt herunter, aus der Abdeckung tritt Draht.
Irgendwann finde ich mich doch vor ihrem Zimmer. Sie schläft, bestimmt verstellt sie sich. Hat sie Angst, jetzt, da ich alles weiß? Ich will es aus ihrem Mund hören. Doch es bleibt still bis auf ein leises Schnarchen. Dann ein Flüstern, ich weiß nicht, ob sie es ist oder der Sender des Phons, der neben ihrem Bett steht. Aber es ist egal, die Stimme weiß Dinge, die nur meine Mutter wissen kann. „Du hattest schon ein Brautkleid gekauft. Türkisgrün. Es war keine Absicht, Kind, nur ein Ausrutscher.“ Ich wende mich ab, den Sender stecke ich ein. Soll sie doch reden. Doch ich kann nicht gehen. Meine Finger zittern in einem schnellen Rhythmus. Fast wie der eines fröhlichen, fremden Liedes. Ich beobachte, wie sich meine Hände einander nähern, als gehörten sie nicht zu mir, wie sie sich treffen und einen Reigen beginnen. Sich vereinen und lösen und wieder verschmelzen. Ein Tanz zweier Hände, die einander umschlingen und liebkosen, einen Ring verdecken und wieder freigeben, den mir vor langen Jahren ein Mann geschenkt hat. Der mich zu lieben versprach und dann seine Liebe einfach vergaß. Es ist, als würde der schmale Reif von meinen Händen aufgezehrt und wieder entbunden in endloser Schleife. Dann das Weiß eines Kissens. Verbirgt sich darunter ein Gesicht? Ein Spiel fällt mir ein, das ich immer mit meiner Schwester spielte, als wir noch Kinder waren. Man muss die andere so bedecken, dass kein Glied mehr unter der Decke hervorschaut. Es ist schön, dieses Spiel. Es wird das Dunkle in mir tilgen. Ein Gesicht leuchtet fahl, ein Mund öffnet sich, dann wird alles weiß von dem Stoff, der das Gesicht bedeckt und den schreienden Mund. Ich sehe Hände, die neben dem Kissen tanzen und winken, ich weiß, ich muss auch sie bedecken, bis sie ruhig sind, das gehört zu dem Spiel. Nichts darf mehr hervorschauen. Kein Laut darf mehr zu hören sein. Sonst hat man verloren.
Als das Kissen über dem Gesicht meiner Mutter sich leicht anfühlt, nehme ich es weg, falte ihre Hände und schmücke sie mit einem Ring aus Bernstein. Er wird sie an ihre Kindheit erinnern. Dann finde ich mich vor dem Fernseher. Doch ich weiß nicht, was ich sehe. Meine Hände ruhen.
*
Es ist früher Morgen. Der Fernseher ist eingeschaltet. Eine Sendung flackert vor meinen Augen. Ich habe meiner Mutter das Frühstück bereitet. Doch sie will nichts essen. Sie ist so kalt jetzt. Und sie schweigt. Ich weiß, dass etwas Schlimmes passiert ist, nur nicht, was es war. Aber ich bin erleichtert. Das Dunkle hat meinen Körper verlassen, es ist davongeflossen.
Als Caro klingelt, öffne ich ihr nicht. Ich habe frei. Irgendwann steht sie doch vor mir, in der Hand den Schlüssel für den Notfall.
„Anna, was ist mit Ihnen? Haben Sie überhaupt geschlafen?“ Sie klingt so besorgt, dass es mir weh tut.
„Natürlich geht es mir gut, ich habe ja heute frei.“
„Wo ist ihre Mutter, Anna?“
„In der Kurzzeitpflege, da habe ich sie angemeldet.“ Das sollte ich doch, will ich antworten, doch plötzlich höre ich ein Weinen. Es kann nicht sein, aber es ist die Stimme meiner Mutter. Ich soll kommen. Sie braucht mich. Aber ich werde nicht gehen. Nie mehr. Ich greife nach dem Sender, taste überall, doch ich finde ihn nicht, so sehr ich auch suche. Ich will ihn ausschalten, zermalmen, zerquetschen. Die Stimme meiner Mutter wird lauter. Wütender. Wieso hört Caro es nicht? Sie blickt nur auf meine Hände. Ich muss einfach ruhig bleiben, die Finger verstecken, dann wird Caro gehen. Aber sie lassen sich nicht halten, müssen suchen, den verdammten Sender finden. Sie winden sich rastlos, verzweifelt, bis Caro sie festhält. Ich schluchze. Das Phon wird lauter und lauter, das Schreien schwillt an, ich reiße mich los, muss meine Ohren schützen vor dem gellenden Gekreisch.
„Was ist passiert?“, fragt Caro. „Ich helfe Ihnen doch.“
„Ich weiß es nicht! Stell das Phon ab! Bitte.“
Dann ist alles ruhig. Eine Stimme, die wie meine klingt, sagt: „Kommen Sie besser morgen wieder, da habe ich sie hübsch gemacht. Sie muss jetzt schön sein, das hätte sie sich gewünscht.“ Caro steht auf und verlässt das Zimmer, ich folge ihr.
In ihrem Bett liegt, aufgebahrt, meine Mutter. In ihren Händen, wie eine Grabbeigabe, ein weißes, zerkratztes Phon.