- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 25
Feuerlöscher
„Müssen wir da hin?“, fragt Jonathan.
„Müssen wir“, sagt meine Frau zu unserem Sohn. „Oma Hilde wird 85.“
„Das ist aber ganz schön alt“, sagt meine Tochter.
Sie hat einen Schuh verkehrt herum angezogen und streift ihn wieder ab. Ich schleppe die Koffer zum Auto und befestige den Kindersitz auf der Rückbank. Das Wetter spielt mit, Anfang November, zwölf Grad, kein Regen. Emilia hat die Schuhe immer noch nicht an. Jonathan will den Fußball mitnehmen.
„Der bleibt hier“, sage ich.
„Nun lass ihn doch!“, sagt meine Frau. Ich nehme den Proviantkorb, die Jacken der Kinder und den Ball. Die Geschenke sind schon im Kofferraum.
„Haben wir alles?“, frage ich.
Lisa nickt, es kann losgehen. Grauer Himmel, das herbstliche Laub bedeckt die Gehwege und Straßen.
„Wie lange noch?“ fragt Emilia.
Vierhundert Kilometer mit Kindern im Auto. Bei über 140 schaut Lisa zu mir herüber, ich nehme den Fuß vom Pedal.
„Duksch spielt heute im Sturm", sagt Jonathan und meint einen Fußballer seiner Lieblingsmannschaft Werder Bremen.
„Das klingt gut", vermute ich.
„Kann man so sehen", sagt er.
Mein Sohn hat einen Tonfall entwickelt, der mir neu ist. Vorpubertär vielleicht. Mir schwant, dass da etwas in Gang kommt, was die Dinge nicht vereinfachen wird. Gleichzeitig freut es mich.
„Wie geht`s denn jetzt weiter?", fragt Lisa.
„Immer geradeaus auf der A7, dann rechts."
„Du weißt, was ich meine", sagt sie.
„Nicht jetzt, bitte!", sage ich und konzentriere mich auf den Verkehr. Es gibt keine Staus, wir kommen gut durch.
Ein Parkplatz direkt vor dem Haus der Oma ist frei. Vollbepackt nehmen wir die wenigen Stufen.
„Was wollt ihr hier?“, fragt Hilde und öffnet die Tür nur einen Spalt. Meine Frau drückt sie auf und nimmt ihre Mutter in den Arm.
„Du hast heute Geburtstag, herzlichen Glückwunsch!“
Ich stelle die Koffer im Flur ab und umarme sie ebenfalls.
„Alles Liebe auch von mir! Geht`s dir gut?“
„Gestern ging`s besser“, sagt sie und sieht auf die Gepäckstücke. „Ihr bleibt aber nicht über Nacht!“
Meine Frau schiebt ihre Mutter ins Wohnzimmer, die Kinder folgen zögernd.
„Wir haben Kuchen mitgebracht, jetzt machen wir es uns erst einmal gemütlich“, sagt sie. Hilde sinkt in einen Sessel und zeigt auf die Kinder.
„Wer sind die da?“
„Ich heiße Emilia und kann schon bis hundert zählen“, sagt meine Tochter. Jonathan verliert kein Wort und sieht sich im Zimmer um. Sein Blick bleibt an dem kleinen Fernseher hängen. Ich sehe ihm an, dass er sich vorstellt, wie schlecht man auf diesem Bildschirm Fußball gucken kann. Das Spiel geht in einer halben Stunde los. Ich habe ihm nicht verraten, dass wir es hier nicht sehen können, weil es nur im Pay-TV gezeigt wird. Das hat die Oma ganz sicher nicht abonniert.
„Der da spricht nicht viel“, sagt Hilde und macht eine Kinnbewegung in Richtung meines Sohnes.
„Der da heißt Jonathan, den hast du schon zwanzig Mal gesehen und jetzt schlag` gefälligst einen freundlicheren Ton an!“, sage ich.
„Bernhard, bitte!“, kommt es von meiner Frau, „sie ist krank!“. Normalerweise nennt sie mich Bernd.
„Wer ist krank?“, fragt Hilde.
„Was hat die Oma denn?“, fragt Emilia.
„Werder spielt gleich“, sagt Jonathan.
Ich gehe zum Kühlschrank, da ist kein Bier drin. Ich nehme den Wein, den wir mitgebracht haben und suche nach einem Glas. Der Wein ist warm.
„Der Heinrich hat auch immer gesoffen“, sagt Hilde.
Bei jedem Besuch meckert sie über ihren verstorbenen Mann. Danach hat sie mich im Visier. Ich proste ihr zu.
„Das hätte ich an seiner Stelle auch getan.“
Meine Frau sieht mich missbilligend an, steht auf, deckt den Tisch und bringt den Kuchen. Die Kaffeemaschine brodelt, für die Kinder haben wir Apfelschorle mitgenommen. Jonathan wird unruhig. Emilia möchte etwas spielen. Ich brauche einen Eiswürfel für den Wein. Der Kaffee ist fertig.
„Kommt die Haushaltshilfe noch regelmäßig?“, fragt meine Frau.
Hilde schüttelt den Kopf. „Die hat mich beklaut. Der ganze Schmuck ist weg!“
„Ich hab`auch Schmuck“, erklärt die Tochter und zeigt ihr Armband. Die Oma ignoriert sie. Jonathan sucht Blickkontakt zu mir.
„Wir sehen gleich mal in den Schränken nach“, sagt meine Frau und schenkt Kaffee ein, „aber eine Hilfe brauchst du doch!“
„Ich hatte nie Hilfe“, kommt es von Hilde. „Heinrich hat jedenfalls keinen Finger krumm gemacht. Ich hoffe, dass es bei dem da besser ist!“ Diesmal macht sie ihre Kinnbewegung in meine Richtung.
„Papa!“, sagt Jonathan, schaut zu mir, dann zum Fernseher. Ich muss es ihm jetzt sagen.
„Wir können hier keinen Fußball sehen, Werder läuft im Pay-TV."
Er sackt in sich zusammen und verzieht das Gesicht.
„Wir verfolgen das über den Live-Ticker“, schiebe ich nach.
„Verkauft der noch seine Feuerlöscher?“, fragt Hilde und meint mich. Das hat sie sich merken können.
„Im Moment nicht, die Firma hat Konkurs angemeldet“, antwortet meine Frau.
„Elisabeth!“, sage ich. „Nicht vor den Kindern!“ Normalerweise nenne ich sie Lisa.
„Du bist mit einem Arbeitslosen zusammen? Der Heinrich hat zwar gesoffen, aber arbeitslos war der nie!“, sagt Hilde. „Ich lasse nicht zu, dass ihr euch hier einnistet!“
Ich stehe auf und gehe mit meinem Wein zur Balkontür. Draußen ist es dunkel geworden, ich trete hinaus. Kälte schlägt mir entgegen.
„Der würde mich vermutlich gern über den Balkon schubsen, damit er hier umsonst wohnen kann“, höre ich Hilde sagen.
„Das lohnt sich nicht vom Hochparterre aus, da müsste ich ein paar Blumenkübel hinterherwerfen. Ein Feuerlöscher ginge auch, wenn du einen hast“, rufe ich zurück.
Die Bäume auf der anderen Straßenseite scheinen etwas höher gewachsen zu sein als vor zwei Jahren, sie überragen die gegenüberliegenden Häuser. Aus einigen Fenstern schimmert gedämpftes Licht, eines ist mit roten Lichterketten und Sternen dekoriert. Dort kann man die Weihnachtszeit offenbar kaum erwarten. Ich frage mich, ob die alle mit Feuerlöschern und Rauchmeldern ausgestattet sind. In der Adventszeit passieren die meisten Brände.
Jonathan kommt zu mir auf den Balkon und umarmt mich, vermutlich will er mein Handy wegen des Fußballspiels.
„Hast du keine Arbeit mehr?“, fragt er.
„Der Betrieb hat zugemacht“, erkläre ich. „Aber nächste Woche habe ich einen Vorstellungstermin bei einer neuen Firma. Die brauchen gute Leute.“
Er nickt. Emilia kommt zu uns und will auf meinen Arm. Ich hebe meine Tochter hoch. Sie sieht die Beleuchtung gegenüber.
„Ist bald Weihnachten?“, fragt sie.
„Ja“, sage ich. „Wir stellen einen Tannenbaum auf und vielleicht kommt dann der Weihnachtsmann.“
„Wie lange noch?", fragt Emilia.
Jonathan verdreht die Augen, hält aber den Mund. Meine Frau gesellt sich zu uns. Sie sieht mich von der Seite an.
„Bernd?“
„Lisa?“, frage ich zurück.
„Hilde ist ganz allein Heiligabend.“
„Ich wusste, dass das kommt“, sage ich.
Lisa fröstelt und schlingt die Arme um ihren Körper.
„Denk drüber nach!", sagt sie, dreht sich um und geht zurück in die Wohnung. Emilia folgt ihr.
„Macht die Tür zu, ich heize nicht für draußen!", höre ich die Oma.
„Stimmung könnte besser sein", sagt Jonathan. „Kommt sie über Weihnachten zu uns?"
„Sieht so aus", antworte ich. „Gibt Schlimmeres!"
„Fällt dir was ein?", fragt er
Ich sehe ihn überrascht an und streiche mit der Hand über seinen Kopf.
„Lass das!", sagt er. „Kann ich dein Handy haben?"
Ich gebe es ihm und nehme einen Schluck Wein. Immer noch zu warm.
„Werder liegt hinten, ist schon zweite Halbzeit", sagt Jonathan.
Ich lege ihm die Hand auf die Schulter, er schüttelt sie nicht ab. Wir gehen in die Wohnung. Emilia sitzt auf dem Schoß der Oma und schaut sich Halsketten und Ringe in einer Schatulle an. Meine Frau hat den Schmuck wiedergefunden. Hilde versucht, den Verschluss einer Kette zu öffnen. Sie schafft es nicht, ihre Hände zittern.
„Hat mir der Heinrich mal geschenkt", sagt sie.
„Die ist so schön!", sagt Emilia.
„Soll ich dir helfen?", frage ich die Oma.
Hilde reicht mir die Kette.
„Sei vorsichtig damit, die ist wertvoll!"