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Fesseln der Vergangenheit
„Hast du eigentlich eine Freundin, Johannes? Oder spritzt es bei dir nur im Becherglas?“
Johannes ignorierte die Frage. Für ihn war es Zeit zu gehen.
„Johannes? Brauche ich jetzt das Kupfersulfat, damit Natriumsulfat ausfällt?“
„Ja. Du kannst aber auch etwas Schwefelsäure nehmen. Ohne neu anfangen zu müssen, kannst du dann gleich weiter auf Kupfer testen.“
„Mann, bis du schlau“. Sarah‘s Freundin nippte am Martini.
„Schlau genug, um im Labor keine Getränke zu mir zu nehmen. Mensch, Leute, das ist doch gefährlich!“
„Sei kein Spielverderber, Johannes. Es ist Bergfest.“
„Was ist der Unterschied zwischen Salzsäure und einem Martini?“ rief jemand.
„Im Martini hält die Olive länger!“ Grölendes Gelächter kombiniert mit dem Klirren von Gläsern erfüllte das Labor.
Johannes versuchte sich auf seine letzten Arbeitsschritte zu konzentrieren. „Wenigstens seid ihr so clever fabrikneue Bechergläser für eure Martinis zu benutzen“, dachte er. Die Oliven hatten sie auf Glasstäbe gespießt. Johannes begann seinen Arbeitsplatz abzuräumen. Er wollte nicht hier sein, wenn jemand ein Becherglas verwechselte. Bei dem was es im Labor an gefährlichen Flüssigkeiten gab, standen die Chancen auf bleibende Schäden ganz gut.
Sarah bemerkte, dass er gehen wollte und arbeitete sich zu ihm vor. „Kommst du nachher zur Party, Johannes?“
„Ganz sicher nicht.“ Er schwang sich seinen Rucksack auf den Rücken und verließ das Labor.
„Ganz ehrlich, Sarah, ich verstehe nicht, was du an dem findest. Der ist doch so langweilig.“ Ihre Freundin schüttelte den Kopf. „Der wird bestimmt mal Professor.“
„Er ist so anders als der Rest hier. Genau das finde ich spannend an ihm.“
„Vergiss ihn. Mit dem kriegst du sowieso kein Date. Der weiß doch gar nicht, was das ist.“
Wenige Tage später saß Sarah mit Johannes bei einem Italiener in der Altstadt.
„Ich bin gerne hier. Es gibt so wenige Tische, dass der Koch das Essen persönlich bringen kann. Er sagt, er mache das, weil er auf seine Küche stolz sei.“
„Durchaus zurecht“, antwortete Johannes.
„In den Semesterferien fahre ich regelmäßig ein paar Tage nach Hause. Mein Bruder kommt dann auch. Meine Mutter besteht darauf, damit die ganze Familie zusammen sein kann. Und dann kocht sie für uns. Es gibt immer mindestens vier Gänge. Dabei hat ihre Küche die Größe einer Besenkammer. Ich habe keine Ahnung, wie sie das organisiert kriegt. Mein Bruder hat einmal gefragt, ob sie das Essen beim Lindenhof bestellt hätte. Da war Stimmung, sag ich dir.“ Sie trank einen Schluck Wein. „Sie ist stolz auf ihre Kochkünste.“
„Wie alt ist dein Bruder?“
„Drei Jahre jünger als ich. Er studiert Chemie in England. Hast du Geschwister?“
„Nein. Warum studiert er nicht in Deutschland? Wie du auch?“
„Ganz einfach“, grinste sie. „Weil ich hier studiere.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Man merkt, das du keine Geschwister hast. Es geht ums Prinzip. Er kann nicht das machen, was ich mache. Des wegen studiere ich Chemie.“
„Du studierst Chemie in Deutschland, damit dein Bruder nicht Chemie in Deutschland studieren kann?“
„Nur des wegen.“ Kerzenlicht ließ ihre Augen funkeln.
„Ich bin froh ein Einzelkind zu sein.“
„Sein Englisch hat sich enorm verbessert. Seine Chemiekenntnisse sind ja sozusagen angeboren. Meine Mutter arbeitet als CTA. Mein Vater forscht an Weichmachern für Kunststoffe. Das ist sehr spannend, wenn er davon erzählt.“
„Ist diese Konkurrenz normal unter Geschwistern?“
„Ich bin so aufgewachsen. Du hättest mal meine Eltern vor zwanzig Jahren erleben sollen. Die haben das noch viel extremer ausgelebt. Inzwischen sind sie ruhiger geworden. Ich merke ihr Alter.“
„Deine Eltern sind aber jetzt keine Geschwister, oder?“
„Nein, natürlich nicht. Aber sie leben ihre Unterschiede aus und das bindet sie aneinander.“ Sie nahm einen weiteren Schluck. „Wie sind denn deine Eltern?“
„Ich würde irre werden, wenn meine Eltern so wären. Du hast nicht zufällig italienisches Blut in deinen Adern? Oder Spanisches?“
„Paderborn.“
„Wie?“
Der Koch näherte sich dezent. „Haben Sie noch einen Wunsch? Die Dame? Der Herr?“
„Nein, im Moment nicht. Danke.“
„Meine Eltern stammen aus Paderborn.“
„Ach so. Damit können wir Temperament wohl ausschließen.“
„Des wegen bin ich auch zum Studium nach Hamburg gezogen.“
„Weil sie in Paderborn leben, kannst du dort nicht leben. Ich sehe das Muster.“
„Wo leben deine Eltern?“
„Dein Bruder lebt in England?“
„London. Nicht ausweichen, Johannes.“ Sie fixierte seine Augen. „Wo leben deine Eltern?“
„Meine Mutter lebt in Ohlstedt.“ Er schob sein Glas hin und her. “Sie macht die Verwaltung in einer kleinen Tischlerei, glaube ich. Kennst du Ohlstedt?“
„Nicht wieder ausweichen. Erst verrätst du mir, was dein Vater macht. Dann erzähle ich dir, ob ich Ohlstedt kenne.“
„Du willst wissen, was mein Vater macht?“ Er zupfte an seiner Serviette. Sie lag jetzt parallel zur Tischkante.
„Exakt.“
„Tja.“ Er richtete die Salz- und Pfefferstreuer so aus, dass sie auf einer Linie zwischen den beiden Kerzen standen. Die Abstände waren jetzt genau gleich groß. Er hob sein Glas Bitter Lemon. Ein Tropfen Kondenswasser fiel auf die Tischdecke. Die Worte schienen in seinem Mund zu vertrocknen. Johannes nahm einen Schluck. Die Eiswürfel klickten gegen den Glasrand. Warum musste sie nur so beharrlich sein?
„Mein Vater.“ Johannes spürte, wie sein Atem flacher und schneller wurde. Winzige Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.
„Hey, ganz ruhig.“ Sarah ergriff seine Hand und war überrascht, wie heiß und feucht sie sich anfühlte. „Atme einmal tief durch. Lass es einfach raus.“ Sie spürte, wie er versuchte seine Hand zurückzuziehen. Sanft, aber bestimmt, hielt Sarah sie fest. „Ich verrate es auch keinem. Versprochen!“
Mit der anderen Hand klammerte sich Johannes an sein Glas. Alles um ihn herum wurde unscharf. Er kriegte kaum Luft. So schlimm war es schon lange nicht mehr gewesen.
Plötzlich war er wieder in vertrautem Umfeld. In Kordhose und Strickpulli stand er als kleiner Junge auf der Kellertreppe im Haus seiner Eltern. Er sollte seinen Vater zum Essen holen. Vorsichtig ging er die Stufen herunter. Er war auf Strümpfen unterwegs und die Holzstufen waren sehr glatt. Er war hier schon oft ausgerutscht. Über die Fliesen, vorbei an einem Stapel Feuerholz, ging er zur Tür des Arbeitszimmers.
„Papa?“
Keine Antwort.
Er lugte um die Ecke. Sein Vater lag auf dem Sofa.
„Papa?“
Keine Reaktion. Er ging ganz dicht ran.
An dieser Stelle brach die Erinnerung immer ab. Die Angst von damals blieb. Wochenlang hatte er sich gefürchtet ins Bett zu gehen. Zu groß war die Angst, er würde auch nicht wieder aufwachen. Er hockte dann zwischen seinen Spielsachen, bis ihm irgendwann die Augen zu fielen. Stets wachte er in seinem Bett wieder auf.
Seine Mutter war mit ihm wenige Wochen später ans andere Ende von Deutschland gezogen. Er sollte einen Neuanfang haben.
„Was ist denn mit dem los?“
„Weiß nicht. Ich hab‘ ihn nur gefragt, was sein Vater arbeitet. Da ist er völlig ausgeflippt.“
„Der hat doch einen Knall.“
„Johannes! Du reißt dich jetzt zusammen! Entweder du nimmst an der Mathe-Stunde teil, oder du gehst raus!“
„Freak.“
Am nächsten Morgen erwachte Johannes völlig benommen. Wie auf einem Karussell wurden in seinem Kopf einzelne Erinnerungen nach vorne gebracht. Doch bevor er sie greifen konnte, waren sie schon wieder weg. Der Koch, der stolz sein Essen präsentierte. Die Speisekarte, aus der Sarah und er gewählt hatten. Ein Glas Rotwein. Hatte er getrunken? Nein, unmöglich. Wie zur Bestätigung wurde ihm ein Glas Bitter Lemon vorgeführt. Komplett mit Eiswürfeln und feinen Kondenswassertropfen am Rand. Er konnte die Eiswürfel klicken hören, als das Glas wieder in den Hintergrund fuhr.
In der Dusche spülte das heiße Wasser die Benommenheit beharrlich aus seinen Knochen. Am Waschbecken glaubte er sich einigermaßen erfrischt zu fühlen, aber sein Spiegelbild behauptete anderes. Er schlurfte in die Küche.
„Was Sarah jetzt wohl von mir denkt? Habe ich ihr erzählt, was damals passiert ist? Und wie bin ich nach Hause gekommen?“
Natürlich erhielt er keine Antwort. Er füllte den Wasserkocher und lehnte sich mit dem Rücken an die Arbeitsplatte.
„Sie wird ab heute einen Bogen um mich machen. Garantiert. Wenn ich Glück habe, erzählt sie niemandem von dem Abend.“
Etwas war anders in der Küche. Seine Schlüssel lagen mitten auf dem Tisch. Dabei gab es für sie nur exakt zwei Plätze. Entweder waren sie am Schlüsselbrett oder in seiner Jackentasche. Seine Jacke hing auch nicht an der Garderobe, sondern über einer Stuhllehne. Und sein Handy lag nicht neben der Ladestation. Es lag mitten auf dem Tisch. Blinkend warb es um Aufmerksamkeit.
„Anruf in Abwesenheit“ stand auf dem Display. Er erkannte Sarah‘s Nummer. Das Brodeln des Wassers schluckte inzwischen jedes andere Geräusch in der Küche. Johannes stopfte zwei Teebeutel in eine Thermoskanne. Sollte er sie zurückrufen? Aber wer ging schon mit einem Freak aus?
Mit einem lauten Klack schaltete sich der Wasserkocher ab. Johannes füllte die Thermoskanne und setzte sich an den Küchentisch. Er starrte sein Handy an und stellte sich vor, wie er sie zurückrufen würde.
„Hallo, Johannes.“
„Hallo, Sarah.“
„Ich wollte mich nur für den netten Abend bedanken.“
„Mir hat es auch gefallen. Sehen wir uns wieder?“
„Erst verrätst du mir, was dein Vater macht.“
Entsetzt sprang er von seinem Stuhl auf. Sein Puls raste. Mit dem Rücken zum Handy stützte er sich auf die Arbeitsplatte. Er ertrug den Anblick nicht. Was würde als nächstes kommen? Würde jede Begegnung mit Sarah so einen Anfall auslösen? Seine Hände zitterten als er die Teebeutel aus der Thermoskanne zog. Vorsichtig schenkte sich einen Becher ein. Er hielt ihn mit beiden Händen fest, bis er die Wärme spüren konnte. Der erste Schluck ließ ihn das Gesicht verziehen.
„Guten Morgen, Johannes.“
„Sarah?“ Erschrocken stellte er den Becher ab. „Was machst du hier?“
„Du guckst, als wäre ich ein Geist. Ich habe dich gestern Abend hier her gebracht.“
„Du hast mich hier her gebracht?“
„Du hast so fix und fertig ausgesehen. Ich habe mir echt Sorgen gemacht, dich hier alleine zu lassen. Ich wollte dich noch fragen, aber du warst nicht mehr ansprechbar. Ich habe mich dann einfach auf dein Sofa gelegt.“
Johannes spürte, wie seine Knie weich wurden. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, von dem er gerade erst aufgesprungen war, und angelte sich seinen Becher.
„In der Thermoskanne ist Tee. Bitte bediene dich.“
Sarah nahm sich einen Becher Tee und setzte sich ihm gegenüber.
„Als ich gemerkt habe, was ich in dir mit meinen Fragen ausgelöst habe, konnte ich es nicht mehr stoppen. Aber das ändert nichts. Ich kann nur sagen, ich habe das nicht gewollt.“ Sie nahm einen Schluck Tee. „Es tut mir Leid.“
„Und jetzt?“
Sie guckte ihn verständnislos an.
„Sarah, ich bin erwachsen. Du kannst mir ruhig sagen, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst.“
„Das wäre nicht die Wahrheit.“
„Aber was sollte dann dieser Anruf?“
„Welcher Anruf?“
Er schob sein Handy zu ihr herüber.
„Ach, da habe ich mich gestern Abend verwählt. Ich wollte zuerst ein Taxi rufen.“ Sie nahm einen weiteren Schluck Tee. „Hast du deshalb eben so entsetzt in der Küche gestanden? Du hast geglaubt, ich gebe dir einen Korb.“
„Ich habe mir vorgestellt, wie ich dich zurückrufe. Und dass du mich nach meinem Vater fragst.“
„Das brauche ich nicht mehr. Du hast mir erzählt, was du damals durchgemacht hast. So etwas steckt niemand einfach so weg. Es verfolgt dich, es prägt dich; aber es hält dich nicht auf.“
„Doch! Es hält mich auf.“
„Nein. Guck‘ dich doch mal um. Du hast deine eigene Wohnung. Du studierst erfolgreich. Du triffst deine eigenen Entscheidungen und stehst dazu. Das bedeutet dann eben, dass du nicht auf Parties gehst und keinen Alkohol trinkst. Du hast dafür deine persönlichen Gründe. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass du diese beiden Sachen vermisst.“ Sie stellte den Becher ab und nahm seine Hände in ihre. Johannes schloss die Augen. „Genau das ist es, was ich an dir bewundere. Du bist nicht wie die anderen. Und das muss so sein.“
Er öffnete wieder die Augen und ließ ihre Worte einsinken.
„Das hat gut getan.“
Sie schwieg.
„Ich mag deine Offenheit. Ich mag deine Direktheit. Ich kann es nur schwer beschreiben, aber wenn du meine Hände berührst, dann fühle ich mich irgendwie sicher.“
„Ich glaube, du hast sehr viel von deiner Vergangenheit gründlich verdrängt. Verdrängen funktioniert solange du dich und dein Umfeld kontrollierst. Aber wenn die Kontrolle nachlässt, dann brechen die Erinnerungen hervor. Und die Erinnerungen tun dir weh.“
„So wie eben. Oder gestern Abend. Ich will aber nicht ständig solche Attacken erleben.“ Er stieß seinen Becher von sich. Tee schwappte auf den Tisch. „Ich will, dass das endlich aufhört. Das stört mein Leben.“
„Wegen der Erinnerungen trinkst du auch keinen Alkohol, stimmt‘s?“
Johannes fühlte sich nackt. Sie wusste genau, was in ihm vorging.
„Hilf mir.“ Er schluckte. „Bitte. Ich will mich nicht mehr erinnern.“
Sie beugte sich vor und ergriff wieder seine Hände. Tränen glitzerten in seinen Augen. „Ich kann dir helfen, wenn du es willst. Es wird noch einmal ziemlich weh tun. Aber dann ist es vorbei.“
Johannes guckte sie hoffnungsvoll an.