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Eskimo
Von innen sehen ihre Augen aus wie Iglus. Nur sie weiß das.
Die meisten Leute nennen sie Alaska. Sie grinst dann zwar, aber nur weil ihr egal ist, was die anderen sagen. Sie ist eine Insel.
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Sie schreibt Geschichten in der Wir-Form, einfach so, zum Zeitvertreib, Liebesbriefe an sich selbst und alle anderen.
Sie schreibt:
Das wir fängt an mit du und ich, und dass die beiden schön sein müssen.
Nur im Wasser ist ein Goldfisch schön.
Der Wind nur, wenn er weht.
Der Regen, wenn er fällt.
Der Winter, wenn er kalt ist.
Und wir, wenn wir alleine sind.
Wir verlassen unsere Wohnung nicht. Wir träumen uns nach draußen. Wir wollen gar nicht raus.
Wir werden ewig hier sein. Wie Goldfische in einem winzigkleinen Glas. Geborgen, nicht gefangen. Unsere Fenster haben dunkle Rollos. Wir reden nicht mehr viel und laufen auch sehr wenig, und wenn dann nur im Kreis. Unsere Münder, unsere Füße bilden sich zurück, wir haben sehr, sehr kurze Beine, wie Lügen. Und Augen wie Taschenlampen kurz bevor die Batterien leer sind, und dazu noch eine ziemlich dünne Haut.
Alles was wir bräuchten, wären die Erinnerungen, alles was wir hätten, wär in unseren Köpfen. Alles was wir wollten, wäre in den Träumen, fest verankert in der Zukunft oder eher noch in der Vergangenheit.
Die Gegenwart hätten wir ermordet und verscharrt, irgendwo, vielleicht im Komposthaufen hinterm Haus.
Wir, die Erinnerungsabhängigen, Schlafsüchtigen. Traumjunkies.
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"Die Leute sagen immer zu mir, lass die Emotionen raus. Ich lass sie lieber gar nicht erst hinein."
Hier, hinter emotionalen Schützengräben hat sie sich verschanzt. Ihr Herz klopft wütend an die Tür, die ganze Zeit schon, aber sie hört weg, verschließt die Augen und die Ohren, ihr Kopf hat alle seine Türen längst verammelt.
Und alle ihre Spiegel hat sie abgehängt, die spitzen Gegenstände eingeschlossen, in den Schränken lagern zudem hundert Tafeln Schokolade. Sie ist auf alles vorbereitet. Die Gefühlsarmeen können kommen, sollen ruhig versuchen, einzubrechen, angeführt von ihrer fiesen Königin, Tyrannin, Diva, der Liebe.
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Sie hat die Wirklichkeit ermordet.
Sie denkt: Niemand versteht mich. Ich hätte gerne Kinder mit der Deckenlampe. Kinder mit traurigen Augen und klitzekleinen Schaltern, mit denen man sie dann zum Leuchten bringen kann. Ihre kleinen Herzen schlagen nicht, sie flackern nur, und pumpen kleine Dosen Halogen statt Blut, nachts stehen sie am Fenster und schauen zu den Sternen, die sie für entfernt Verwandte halten müssen. Alte Männer, alte Frauen, die sich jahrelang von Luftballons ernährten, bis sie soviel Helium in ihren Bäuchen hatten, dass sie ganz nach oben in den Himmel flogen.
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Die Türe biegt sich, draußen steht die Liebe und versucht, sie einzutreten, stur und sehr energisch. Schafft es aber nicht, die Liebe ist mal wieder viel zu schwach. Als die anderen Emotionen das begreifen, fallen sie ihr in den Rücken und verletzen sie mit Messerstichen.
Die Liebe liegt inzwischen in der Notaufnahme. Fast alle Ärzte meinen, sie kommt durch. Einer murmelt leise vor sich hin, Unkraut vergeht nicht.
V
Unterdessen träumt sie weiter, sie, die wir Alaska nennen, glücklich über ihren Sieg, denn jeder Sieg macht sie ein bisschen stärker, bald hat die Liebe keine Chance mehr, zumindest nicht bei ihr, der Insel, uneinnehmbar, sie mit ihren tausend Mitteln gegen Einsamkeit und nur einer knappen handvoll Waffen gegen Liebe.
Sie wohnt in ihren Augen. Manchmal winkt sie noch. Da drinnen ist es sicher warm, wärmer als man denkt, wie in einem Iglu.