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Eselsbrücken
„… hängen runter. Diese Tropfsteine nennt man Stalaktiten.“
Der Junge rückte seine Brille gerade. „Okay, Paps. Und die anderen nennt man Stalagmiten.“
„Genau! Ist doch einfach, oder? Also: Wie nennt man die Tropfsteine, die von oben nach unten wachsen?“
„Stalagmiten!“
Sein Vater schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Das klatschende Geräusch schreckte seine Frau auf, die im Fernsehen gerade einen Krimi anschaute. Darin vergiftete eine Ehefrau ihren nervigen Mann, der zu ihrem Glück erst kürzlich eine hohe Lebensversicherung mit ihr als Begünstigter abgeschlossen hatte.
Man konnte so vieles aus Krimis lernen! Zu Kais Glück hatte er keine Lebensversicherung, die sich als Sterbeversicherung herausstellen könnte.
„Ich bitte um Ruhe! Jetzt habe ich nicht gehört, welche Zutaten sie beim Apotheker gekauft hat.“
„Stalaktiten“, verbesserte sich der Junge und sank zerknirscht im Ohrenstuhl zusammen. „Menno! Das kann ich mir doch nie merken.“
„Du musst dir eine Eselsbrücke bauen“, wusste Vater Rat. „Ich habe die beiden Begriffe auch immer verwechselt, bis ich mir folgendes merkte: Stalaktiten klingt so ähnlich wie ‚Titte’, und die hängen auch runter. Wenn du –“
„Was?“, herrschte Maike ihn. „Sag mal, spinnst du jetzt komplett? Der Junge ist zehn! Wie redest du denn mit ihm, du unsensibles Arschloch?“
Kai zuckte unwillkürlich zusammen. „Ich wollte ihm doch nur helfen.“
„Ja klar, helfen“, rief Maike höhnisch aus und gestikulierte wild mit ihren Armen. „Und deine Stalak-Titten wachsen vermutlich neben den Liebespfählen in der Lustgrotte, wie?“
„Was ist ein Liebespfahl?“, fragte Lukas, erhielt jedoch keine Antwort.
„Und außerdem ist das unglaublich frauenfeindlich! Ich nenne deinen Dödel ja auch nicht Schwanz oder Fickstange, sondern Penis.“
„Was ist daran frauenfeindlich? Frauen haben doch Brüste. Sogar du hast welche! Jedenfalls hattest du welche vor zehn Jahren, als ich zum letzten Mal nachgesehen habe.“
Maike sog scharf die Luft ein. „Ach, der gnä’ Herr werden sarkastisch, wie? Als ich dich das letzte Mal nackt gesehen habe wollte ich dich schon fragen, ob du ihn dir abgeschnitten hast, weil du ihn ja eh nicht mehr brauchst.“
„Ahm. Mam, Paps? Ich wollte doch nur –“
„Ist schon gut, Lukas“, sagte Kai mit ruhiger Stimme. „Deine Mutter springt nur eben mal auf den Emanzen-Express auf, weil sie alt wird und ihre Brustwarzen bald ihre Kniegelenke berühren. Ja, das ist schon eine dumme Sache, wenn man überall mit hübschen, jungen Frauen in vollster Pracht und Blüte konfrontiert wird, während man selber mehr Falten als ein stirnrunzelnder Mops wirft.“
„Darum geht´s also? Bin dir nicht mehr knackig genug, wie? Falten, was? Dann zeig mir doch mal eine einzige!“
Maike schälte sich aus ihrem Sweater und hakte die Ösen des Büstenhalters auf.
„Mam!“, kreischte Lukas entsetzt.
„Was ist denn? Vor zehn Jahren hast du gebrüllt, um diese Dinger zu sehen, und jetzt ekelt dich der Anblick, oder wie?“
„Nein, aber –“
Im selben Moment zog Kai die Freizeithose sowie die Boxershorts mit einem Ruck runter. „Und so, als weitere Eselsbrücke, sieht ein Stalagmit aus.“
Lukas sagte nichts sondern schlug die Hände vors Gesicht.
„Das ist ein Stalagmit?“, meinte Maike und lachte glucksend. „Ach, deshalb nehmen Höhlenforscher Mikroskope auf ihre Expeditionen mit.“
Der Junge stieß einen glockenhellen Schrei aus. „Ich hab´s kapiert, ich hab´s kapiert! Stalagmiten von unten nach oben, Stalaktiten von oben nach unten!“
Dann lief er heulend aus dem Zimmer.
Lange Zeit saßen Kai und Maike stumm auf der Couch. Im Fernsehen kippte der Mann nach dem Giftcocktail, den ihm seine Frau grinsend in die Hand gedrückt hatte, ohne dass er Verdacht geschöpft hätte, mit einem gurgelnden Röcheln um. Dabei schmiss er eine Vase um.
Schade um die schönen Blumen, dachte Maike.
„Aber eines musst du zugeben: Wenn ich dem Jungen was erkläre, hat das Hand und Fuß. Der verwechselt die Begriffe nie wieder.“
Maike blickte zu ihm rüber. Versöhnlich nickte sie. „Du bist ein vorbildlicher Vater. Und morgen schließen wir eine schöne Lebensversicherung ab, ja?“