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Empathie
„Das Dach und die Fallrohre können wir flicken“, sagt der übergewichtige Bauunternehmer mit dem rasselnden Atem. „Aber die maroden Stromleitungen müssen raus, da kommen wir um eine Neuinstallation nicht herum.“
Mir wird flau beim Gedanken an die zusätzlichen Kosten. War ich naiv? Hätte ich beim Kauf fachmännischen Rat hinzuziehen müssen? Andauernd geht das Licht aus und ob die Heizung funktioniert, weiß ich nicht.
Zurück im Haus bleibe ich in der weitläufigen Diele stehen. Bildlich kann ich mir vorstellen, wie Anna den Kindern die Schuhe anzieht und in die Jacken hilft. Die verschlissenen Eichendielen abzuschleifen kann ich mir sparen. All der Dreck und die Steinchen, der Matsch jeden Winter und erst das Bobby Car – das wäre vertane Liebesmüh.
Neue Leitungen? Das wird nicht einfach. Der Stuck und die Holzvertäfelung dürfen um keinen Preis Schaden nehmen!
Zunächst einmal muss das alte Zeug raus. Viel haben die Vorbesitzer nicht zurückgelassen und nichts davon hat Charme oder scheint von Wert zu sein. Der große Mischabfall-Container im Garten ist bei Leibe nicht günstig, aber Gold wert. Alles, was ich anheben kann und durchs Fenster passt, segelt in Windeseile hinein.
Am frühen Nachmittag stehen nur mehr die Küchenzeile, ein paar Regale und der massive Holzschrank am Ende der oberen Diele. Den Regalen werde ich später zu Leibe rücken, für die Küche benötige ich Hilfe.
Jetzt stehe ich mit Hammer und Nageleisen bewaffnet vor diesem Ungetüm von Schrank, der die gesamte Wandbreite einnimmt und bis unter die Decke reicht. Siebziger Jahre, schätze ich, tiefbraunes Nussbaumfurnier und Messinggriffe.
Wäre er nicht derart hässlich, würde ich ihn glatt behalten. Er scheint handwerklich gut gefertigt zu sein und wurde perfekt eingepasst.
Eine halbe Stunde später haben Türen, Zwischenböden und Schübe ihre Flüge nach unten angetreten, jetzt steht nur mehr der blanke Korpus vor mir. Wieder überlege ich, den Schrank zu behalten. Versehen mit neuen Fronten würde er vermutlich ganz passabel aussehen und böte enormen Stauraum. Mein Blick fällt auf einen graugrünen Fleck in einer der Ecken. Ist das Schimmel? Mit dem Hammer drücke ich gegen die Rückwand und sie springt widerstandslos aus der Nut. Ich hebe die dünne MDF-Platte heraus und begutachte die Wand dahinter. Es finden sich keinerlei Flecken, alles scheint trocken und schimmelfrei zu sein. Um sicher zu gehen, nehme ich auch die angrenzende Rückwand heraus, und was dahinter zum Vorschein kommt, lässt mich staunen.
Die Außenmauern des alten Hauses sind bis zu einem Dreiviertel Meter dick und hier wurde mehr als die Hälfte des Bruchsteinmauerwerks grob herausgebrochen. Vor mir zeigt sich eine unverputzte Nische von etwa fünfzig mal siebzig Zentimeter, in deren Ecken der Pilz in voller Pracht blüht.
Prima!, denke ich und ziehe mein Handy aus der Hosentasche. Ich schalte die LED-Lampe des Smartphones ein und begutachte den Schaden. Als ich nach oben leuchte, staune ich abermals, denn dort zeigt sich ein mit Brettern verbarrikadiertes Loch in der Decke. Ohne Leiter komme ich da nicht ran.
Am anderen Ende des Flurs, nahe der Treppe, führt eine Einschubleiter in den Dachboden. Auch den habe ich mir bereits inspiziert, abgesehen von ein paar wenigen, verstaubten Kartons, mit allerlei Gerümpel darin, ist er leer.
Ich steige die Leiter hoch, knipse das Licht an und luge in den offenen Raum, der nur durch die beiden aufsteigenden Kamine unterteilt wird. Dann schreite ich die Strecke bis zur hinteren, gemauerten Wand ab, steige zurück nach unten und wiederhole die Prozedere. Und tatsächlich, es fehlen volle drei Schritte, knapp drei Meter, schätze ich.
Zurück auf dem Dachboden klopfe ich die Steinmauer ab, alles klingt einheitlich massiv. Eine Leiter musste her; im Schuppen hinten im Garten glaube ich eine gesehen zu haben.
Die Leiter in Schrank und Nische zu platzieren gestaltet sich schwierig. Dennoch gelingt es mir, mich wenig später durch das knapp bemessene Loch zu zwängen, auf welches die Bretter nur lose gelegt worden waren. Zu meiner Überraschung finde ich einen Lichtschalter vor, nach dessen Betätigung eine nackte Glühbirne tadellos ihren Dienst verrichtet.
Der Raum misst, wie erwartet, knapp drei Meter in Richtung der Treppe und erstreckt sich über die gesamte Hausbreite. Am Rand der Schmalseite steht eine Art Spiegelkommode mit einem Hocker davor. Das Möbel wirkt alt, scheint jedoch nicht von großem Wert zu sein. Der Spiegel fehlt, nur mehr die mit Kleberresten übersäte Rückwand ragt noch über dem Deckel der Kommode auf. Ich öffne alle Türchen und Schübe, nichts findet sich darin. Mit dem Smartphone in der Hand durchschreite ich den Raum, leuchte ich in alle Ecken. Nur Staub, Spinnenbauten und Insektenleichen.
Zurück bei der Spiegelkommode setze ich mich auf den Hocker. Vielleicht könnte man die Kommode zu einem Sekretär oder kleinen Schreibtisch umfunktionieren. Ich müsste lediglich die Arbeitsfläche abschleifen und die Konstruktion für den Spiegel entfernen.
Hatte sich hier, vor etlichen Jahren, die Dame des Hauses geschminkt? Ich stelle mir vor, wie Puder, Creme und andere Utensilien auf der Kommode aufgereiht standen, wie sich die Hausdame vor dem Besuch eines großen Balls kritisch im Spiegel begutachtete. Die Oberfläche des Möbels ist gut erhalten. Nur hier und da ein paar unscheinbare Flecken und leichte Kratzer. Lediglich vorne, nahe der Kante, sind die Beschädigungen ein wenig – Oh, sind das Buchstaben? Ja, hier wurde ein Wort eingeritzt. L, A, U, dann wird es unkenntlich und weiter hinten ein E. Ein Name? Laureen, Laurice oder Laurenz? Ich stelle mir vor, wie Laureen im Brokat bestickten Nachthemd kurz vor dem Schlafengehen mit geradem Rücken vor dem Spiegel saß und gewissenhaft ihr Haar bürstete.
Der Gedanke, hierauf meine Post zu beantworten oder zu zeichnen, gefällt mir immer mehr. Als ich die Unterkonstruktion für den Spiegel in Augenschein nehme, fällt mir etwas auf. Der Spiegel fehlt keineswegs. Er wurde übermalt. Mit den Fingernägeln kratze ich über den vermeintlichen Kleber und siehe da, darunter kommt die glatte Oberfläche des Spiegels zum Vorschein. Ich krame meine Schlüssel aus der Hosentasche und lege damit vorsichtig ein etwa zehn mal zehn Zentimeter großes Loch in der Mitte des Spiegels frei. Ich starre auf den Spiegelausschnitt und benötige volle drei Sekunden um zu begreifen, was damit nicht stimmt.
Erste Sekunde: Der Raum hinter mir wirkt sehr viel heller, aufgeräumt und sauber.
Zweite Sekunde: Die Holzdielen über dem Loch, durch das ich mich gezwängt habe, sind nahtlos verschlossen.
Dritte und letzte Sekunde: Wie kann ich all das in dem kleinen, sehr begrenzten Spiegelausschnitt sehen? Weil ich selbst nicht mit im Bild bin!
Ich fahre vom Hocker hoch, stoße ihn um, und starre mit entsetztem Blick hinter mich. Die aufgebrochenen Dielenbretter sind noch da, ebenso die verstaubten Kartons. Nichts hat sich verändert. Das Herz schlägt mir bis in den Hals hinauf, als ich mich wieder dem Spiegel zuwende.
Was war das? Habe ich mich getäuscht? Spielte mir meine Fantasie einen Streich wegen der Gedanken an vergangene Zeiten? Ohne Rücksicht auf Beschädigung kratze ich mit meinem Schlüssel ein sehr viel größeres Stück des Spiegels frei. Was zur Hölle!?
Der Raum im Spiegel ist zweifellos der selbe, in dem ich mich befinde. Aber er ist voll möbliert und wird von unzähligen Kerzen erleuchtet. Mit offen stehendem Mund starre ich in den Spiegel, und mein Gegenüber folgt millimetergenau meinen Bewegungen. Nur dass mein Spiegelbild nicht mich zeigt.
Eine junge Frau starrt mir fassungslos entgegen, exakt so, wie ich in den Spiegel hineinglotze. Was zur Hölle, sehe ich ihre Lippen tonlos meinen Gedanken formen. Dann schlägt sie die Hände über dem Kopf zusammen, meine bleiben auf der Kommode liegen.
„Wer bist du?“, wage ich zu fragen. Anstatt einer Antwort, tritt die Frau von der Kommode zurück, stellt den umgestürzten Hocker auf die Beine und setzt sich. Ich tue es ihr gleich und allein das wirkt verstörend, obwohl wir nicht länger synchron handeln. Sie schließt ihre Augen einen Moment, öffnet sie wieder und sagt um Fassung bemüht: „Ich bin Kathrin. Und wer sind Sie?“ Die Tatsache außer Acht lassend, dass ich mit meinem unechten Spiegelbild spreche, antworte ich einsilbig: „Tom.“
Die junge Frau, Kathrin, sieht mich durchdringend an und bleibt stumm. Nicht wissend, was ich tun oder sagen soll, sitze ich gegenüber und erwidere ihren Blick. Meine Hände ruhen, genau wie ihre, eng beieinander auf der Kommode. Ich hebe meine rechte Hand und deute mit dem Zeigefinger auf Kathrin. Mir ist nicht klar, ob sie meinen Bewegungen folgt oder ich ihren. Jedenfalls spiegeln sich all unsere Gesten. Ich entferne mich etwas vom Spiegel und auch sie lehnt sich zurück. „Warum tust du das?“, frage ich und Kathrin antwortet mit einer Gegenfrage: „Was mache ich denn?“
„Warum äffst du mich nach?“, konkretisiere ich ärgerlich werdend und verschränke demonstrativ meine Arme vor der Brust.
„Ich verstehe nicht“, sagt sie und sitzt mir in der gleichen, abwehrenden Körperhaltung gegenüber.
„Na, das!“, sage ich vorwurfsvoll und zeige auf ihre verschränkten Arme, ehe ich erneut die gleiche Position einnehme.
„Wer macht wen nach?“, fragt sie und lächelt.
Eben war sie meinen Bewegungen nicht gefolgt, der Punkt geht klar an sie. Kathrins Lächeln wird heller und sie neigt leicht den Kopf. Dann öffnet sie die Arme und legt ihre Hände mit den Innenflächen nach oben auf die Kommode. Ich spüre, wie sich meine Gesichtsmuskulatur entspannt, wie sich ein Lächeln von den Mundwinkeln her über meine Wangen ausbreitet. Ich senke meine Arme und lege die Hände in den Schoß.
Tausend Fragen tanzen mir im Kopf umher und ich schaffe es nicht, eine einzige davon zu formulieren. Die junge Frau sitzt mir freundlich lächelnd gegenüber und ihr Gesicht, ihre gesamte Erscheinung, wirkt offen und vertrauensvoll, dass ich nicht umhinkomme, mich zu ihr hingezogen zu fühlen. Langsam, vollkommen natürlich schiebt sie sich näher zu mir, bis ihre Fingerspitzen den Spiegel berühren. Zu meiner Verwunderung ruhen nun auch meine Hände auf der Kommode. Ich kann mich nicht erinnern, sie darauf abgelegt zu haben. Nun schiebe ich sie vorwärts, bis auch meine Finger gegen das Glas stoßen.
„Hab ich dich“, sagt sie leise und ich schrecke vom Spiegel zurück.
Kathrin hat sich ebenfalls vom Spiegel entfernt, jetzt grinst sie mich an. Sie lächelt nicht mehr, ihr Gesicht ist zu einer verschlagen grinsenden Fratze verzogen. Ich möchte vom Hocker aufspringen, mich weiter von ihr entfernen, aber ich kann nicht. Stattdessen rücke ich näher an die Kommode und öffne rechter Hand den obersten Schub. Warum ich das mache? Weil Kathrin es tut. Weil Kathrin der Schublade einen silbernen Brieföffner entnimmt, halte auch ich einen in Händen. Mit der Spitze des Brieföffners kratzt sie über die Kommode. Mit ganzer Kraft versuche ich mich zu wehren, aber mein Körper spiegelt jede ihrer Bewegungen. Nahe der Kante schabt sie einzelne Buchstaben in das auf ihrer Seite unversehrte Holz. Auf meiner Seite ziehe ich die vorhandenen Vertiefungen mit der silbernen Spitze nach.
Ein L, ein A, ein U.
Zwei Buchstaben später wird mir klar, wie falsch ich lag. Als Kathrin den Brieföffner von der Holzplatte abhebt, steht da LAUF WEG geschrieben. Mit kindlicher Stimme und höllischem Grinsen meint sie: „Wenn du kannst.“
Im Spiegel sehe ich den silbernen Brieföffner herabsausen, auf meiner Seite höre ich das Holz splittern. Meine Faust umklammert das spitze Gerät, das wir mit aller Kraft tief ins Holz getrieben haben. Mit einem Ruck reißen wir den Brieföffner aus der Platte. Mein Pulsschlag beschleunigt sich, als Kathrins rechte Hand sich langsam vorwärts schiebt, und meine linke ihr unaufhaltsam folgt. „Oh, nein!“, sagt sie mit gespieltem Entsetzten und platziert unsere Hände exakt über dem Loch im Holz. Mir bricht der Schweiß aus und meine Augen füllen sich mit Tränen. „Tu das ni–“, möchte ich sagen, aber schon in selber Sekunde steckt die Klinge federnd in der Kommode.
Im Spiegel kann ich sehen, wie dunkles Blut aus Kathrins Hand quillt. Ich spüre, wie das Metall meine Hand auf der Platte fixiert hält. Der Schmerz bleibt aus. Einen Augenblick lang.
Dann springt er mich an und lodernde Flammen versengen mein Fleisch. Der Schmerz explodiert in meiner Hand und mein Verstand ruft zur Flucht auf, zur Gegenwehr, zu irgendeiner Maßnahme, dem Wahnsinn zu entkommen. Aber mein Körper bleibt sitzen, erwartet seelenruhig die nächste Handlungsanweisung.
Es bedarf einer enormen Kraftanstrengung, den Brieföffner herauszuziehen, der meinen Mittelhandknochen gespalten hat und tief im Holz steckt. Gleichgültig lassen wir die besudelten Klingen fallen und bohren unsere Zeigefinger tief in die jetzt noch stärker blutenden Wunden. Mein Verstand kollabiert, als wir unsere Daumen hinzunehmen und versuchen die durchtrennten Sehnenenden zu packen.
Die Tortur, der ich willenlos ausgeliefert bin, zieht sich über Stunden. Im Morgengrauen, noch vor dem ersten Sonnenstrahl, wendet sich das Blatt, verlässt mich mein Glück.
Vier Männer steigen aus einem rostigen Transporter. Einer eilt zum Zaun, erleichtert tief durchatmend seine Blase. Zwei stecken sich Zigaretten an und der letzte trägt einen Maschinenkoffer zum Haus. Den Schlagschrauber stellt er neben den Koffer, das Ladegerät steckt er an der Außensteckdose an. Als er den Akku ins Ladegerät schiebt, ertönt ein Piepen, dann fällt die Sicherung.
In der Dachkammer erlischt das Licht und der Spuk ist vorbei. Es ist stockfinster, der Spiegel nicht länger zu sehen.
Nur ein klein wenig hat gefehlt, dessen bin ich sicher. Dann wäre ich erlöst gewesen. Nun aber sitze ich hier ohne Zähne und Zunge. Ohne Genitalien und mit zu Stümpfen verstümmelten Händen und Füßen. Geblendet und mit abgerissenen Ohren. Die Bauchdecke geöffnet und vernäht, die Haut verbrannt und noch immer am Leben. Immer noch am Leben. Und Kathrin ist weg.
„Bitte“, weine ich, „lass die Männer mich nicht finden. Nicht retten. Jetzt nicht mehr.“
Dumpf höre ich die Handwerker unten im Haus fluchen. Die Sonne geht auf und schickt erste Strahlen durch die Fenster in alle Räume und Flure. Ein Schimmer dringt in die Nische, fällt durch das Loch auf die Kommode.
„Hallo“, sagt Kathrin.