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Eingesperrt
Hat nicht jeder einen Punkt in seinem Leben an dem er sich fragt wie er zu dem werden konnte, der er heute ist? Ich stellte mir diese Frage jahrelang. Die Meisten würden wohl behaupten dass ich zu jung für solche Gedanken sei, aber die meisten Menschen können es nur länger verdrängen als ich. Es ist eine Tatsache dass wir fast alle gleich sind, die Predigten über den Mensch als Individuum sind erfunden und eine Lüge. Wir alle richten uns mehr nach der Zeit, als nach dem was wir möchten. Beinah überall klingelt morgens der Wecker, wir stehen auf und dann folgt eine mechanische Bewegung der anderen. Der Alltag lässt keine Zeit sich an den kleinen Dingen im Leben zu erfreuen. Wir achten nicht darauf wie gut die Blumen auf dem Küchentisch duften, wie sehen nicht wie der Morgentau in den ersten Sonnenstrahlen glitzert, wie grüßen nicht den Nachbarn der ebenfalls auf dem Weg zur Arbeit ist. Nein, für uns ist es wichtig pünktlich zu sein, deswegen gehen wir an all diesen Dingen vorbei, die Gedanken starr, der Blick leer. Wir sind schuld daran dass es in unserem Leben keine Veränderung gibt, ich sehe den Beweis jeden Tag am Bahnhof. Dort stehen immer dieselben Menschen, schon lange bevor der Zug losfährt, doch niemand spricht mit dem anderen. Wenn ein Blick den eines anderen kreuzt, schauen sie schnell zu Boden, sie vermeiden ein Gespräch, sie vermeiden es etwas Neues in ihrem Leben zuzulassen. Sie tragen alle dieselbe graue Kleidung, besitzen alle dasselbe IPhone oder IPad und dennoch glauben sie alle, sie seien einzigartig und hätten mit der Person gegenüber nichts gemeinsam. Ich sehe sie jeden Morgen, ich spreche niemanden an, denn in Gedanken bin ich wie alle anderen schon längst bei der Arbeit oder schon wieder zuhause, denn dort warten genug Probleme die gelöst werden müssen. Ich habe keine Zeit für Veränderung, der Alltag lässt nicht los.
Als wir Kinder waren war alles einfacher. Das klingt nach einem völlig erschöpftem Klischee, aber leider ist es die reine Wahrheit. Wir hatten Sorgen, aber diese konnten meist mit einer Umarmung oder einem Eis mit Sahne und Kirsche obendrauf aus der Welt geschafft werden. Wir hatten für die meisten Dinge um uns herum keine Erklärung und das war gut so. Ich weiß noch, wie ich über die Felder gerannt bin, so weit wie noch nie und das nur weil ein Regenbogen am Himmel war und ich das Ende erreichen wollte. Ich wusste nichts von Spiegelungen oder wie sich das Licht bricht und wie Farbe entsteht, ich wusste es nicht und war glücklich. Die Menschheit neigt dazu alles Schöne auf der Welt mit logischen Erklärungen und unwiderlegbaren Fakten zu zerstören. Wie begeistert könnten wir durchs Leben gehen, wenn uns nicht die Magie gestohlen worden wäre? Wenn nicht alles um uns herum bewiesen und selbstverständlich wäre? Die meisten wagen sich das nicht vorzustellen, sie schütteln den Kopf und lachen über solche „Hirngespinste“, doch tief drin würde das Kind in ihnen jubeln, wäre es nicht schon vor vielen Jahren zum Schweigen gebracht worden. Wer entscheidet über Kindheit und Erwachsen sein? Wenn man älter wird, legt man viele Dinge ab und lässt einiges hinter sich, aber man beginnt sich Ziele zu setzen. Irgendwann wird man von jedem gefragt, ob man schon wisse was man später mal werden will und wir antworten artig, denn das wird von uns erwartet. Dennoch ist man nicht vorbereitet auf das Erwachsen sein. Eben noch war man ein Kind oder ein Teenager, die Eltern hatten das sagen und kümmerten sich um das Alltägliche. Im nächsten Moment steht man in seiner eigenen Wohnung und muss Erwachsen sein. Dazu gehört nicht nur Geld verdienen und sich selbst zu ernähren, man muss Verantwortung übernehmen, Versicherungen abschließen, Bausparkonten eröffnen und über Riester Rente nachdenken. Im Briefkasten befinden sich keine Postkarten mehr, die zeigen wie gut es den Freunden im Urlaub geht, dafür häufen sich Rechnungen und Formulare die man ausfüllen muss, obwohl man kaum ein Wort davon versteht.
Dennoch tun wir all dies, ohne uns zu beklagen. Ich fühlte mich erdrückt vom Leben, von allen Seiten bedrängt und dennoch habe ich nie ein Wort darüber verloren. In unserer Gesellschaft ist das nämlich alles normal, es gehört dazu und niemand fragt warum. Fast alle beginnen nach der Schule eine Ausbildung oder studieren, um dann einen Job anzunehmen der nicht immer glücklich macht, aber Geld auf das Konto bringt. Wir zahlen Steuern und gründen eine Familie. Sobald wir Erwachsen sind lässt uns der Alltag nicht mehr los, nie wieder, bis wir irgendwann die Augen schließen und von dieser Welt gehen ohne wirklich etwas erreicht zu haben. Die Welt dreht sich weiter, obwohl täglich Menschen sterben, wir sind ersetzbar und alles andere als einmalig.
Ich wünschte ich könnte von mir behaupten dass ich anders wäre. Ich hatte auch Träume und Ziele, aber nur die wenigsten habe ich erreicht. Ich bin eine Frau die wie alle anderen zur Arbeit geht, ihre Kinder groß zieht und auf eine gute Zukunft für sie hofft. Ich bin eine Frau die kaum Zeit für ihre Freundinnen hat, wenig Geld für Urlaub oder Freizeit. Ich bin eine Frau die abends im Bett keine Leidenschaft mehr empfindet sondern Müdigkeit. Ich sehe jeden Tag viel zu oft auf die Uhr, warte auf das Ende der Arbeitszeit, darauf das meine Kinder ins Bett gehen, darauf das der Tag zu Ende ist…Ich warte. Für was? Der nächste Tag wird nicht anders sein als der letzte, ich bin eingesperrt in meinem Leben.
Die Menschen im Raum starren mich an. Manche verwundert, andere erschrocken, doch die meisten Blicke sind leer. Ich muss eine kleine Ewigkeit gesprochen haben und doch sind die anderen in den ersten Sekunden sprachlos. Der Mann der vor mir steht räuspert sich leise, ich weiß dass er zu uns gehört, dass auch er keine Veränderung kennt. „Möchten Sie uns damit sagen, das das ihre Gründe dafür waren ihre beiden Kinder im Schlaf zu ermorden?“ Es dauert eine Weile bis seine Worte bei mir ankommen. Ich spüre wie sich meine Mundwinkel heben, ich lächle und ganz langsam beginne ich zu nicken. Ein leises Flüstern geht durch den Raum, ich sehe wie manche den Kopf schütteln und weiß dennoch dass sie genauso denken wie ich. Sie haben nur nicht den Mut dasselbe zu tun, weil es gegen die Regeln der Gesellschaft verstößt. Wieder öffnen sich meine Lippen, ich höre mich sprechen und erkenne dennoch meine eigene Stimme nicht. „Ich habe sie gerettet. Sie werden nicht all diese Mühen, Sorgen und Probleme auf sich lasten müssen, um irgendwann festzustellen das alles umsonst war.“ Sollte nicht jeder mich verstehen? Wir wissen doch eigentlich wie das Leben wirklich ist, kann das denn irgendjemand seinen Kindern wünschen wenn er sie so sehr liebt wie ich? Wahrscheinlich habe ich noch viele Stunden in diesem Raum verbracht, dennoch reißt mich erst die Kälte der Handschellen die mir angelegt werden aus den Gedanken. Ich bin schuldig. Habe ich das je bestritten? Aber grausam? Eine Mörderin? Nein ich habe nicht aus Hass, Eifersucht, Habgier, nicht mal nur aus Liebe gehandelt. Ich habe ihnen die Erlösung gegeben, nicht mehr und nicht weniger. Dennoch führen sie mich aus dem Raum wie ein Monster. Die Blicke wollen sich tief in mich hinein bohren, doch da gibt es nichts was sie finden könnten. Ich sehe das letzte Mal in das Gesicht von meinem Mann, er wendet sich angewidert und voller Trauer ab. Warum? Müsste er mich nicht am besten verstehen? Ich werde eingesperrt, wahrscheinlich für immer. Doch für mich ist das keine Strafe, ich war es schon immer und wäre es auch für immer gewesen.
Die Tür wird hinter mir geschlossen, ich bin allein in meinem neuen zuhause. Meine Hände legen sich um die Gitterstäbe vor meinem Fenster, meine Stirn lehnt an dem kalten Eisen. Obwohl ich nun hier bin, fühle ich mich freier als jemals zuvor. Ich bin aus dem Alltag ausgebrochen, ich habe es geschafft. Aber das wichtigste von allem ist, dass ich irgendwann friedlich diese Welt verlassen kann, denn ich weiß nun dass ich meine Kinder nicht eingesperrt zurücklasse.