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Eigenbedarf
»Getränke wisst ihr schon?« Die junge Kellnerin tippt auf dem Handheld herum und kaut Kaugummi.
»Für mich bitte ein stilles Wasser. Vielen Dank«, antwortet Helmut höflich und betrachtet die Technik in ihren Händen. Wann haben diese Dinger Block und Bleistift abgelöst?
Sein Auftraggeber wirft die Getränkekarte auf den Tisch. »Ich bekomme einen Vegan Decaf Vanilla Flat White, aber mit doppeltem Espresso, kein Ristretto!« Er bedroht die Frau mit dem Zeigefinger. »Wenn dein Barista das verkackt, kann er die Sachen packen und sich aus meiner Stadt verpissen! Ist das klar?«
Die Kellnerin reagiert maximal unbeeindruckt. Sie lässt das Gummi schnalzen und drückt Tasten, schaut nicht einmal vom Gerät. Wortlos klaubt sie die Karten auf und verschwindet in der gut gefüllten Bar.
»Die Besitzer und ich sind so!«, sagt der Auftraggeber zu Helmut und kreuzt Zeige- und Mittelfinger. »Ohne mich würden die Brüder immer noch Räume für ihre Geldwaschanlagen suchen.« Er lehnt sich entspannt zurück, breitet die Arme aus und grinst.
Helmut mustert ihn. Der Typ ist keine dreißig. Die blonden Haare werden von der Sonnenbrille zurückgehalten, er wirkt wie ein Popper – oder wie man die heutzutage nennt. Den Pupillen nach hat er ein Gespür für Schnee. Gerade holt er einen pinken Gegenstand von der Größe eines kleinen Schalldämpfers hervor und hebt das Teil an die Lippen. Es knistert. Der dichte Dampf stinkt nach falscher Blaubeere.
Der Popper beugt sich durch die Wolke nach vorn. »Also, Titt’n auf’n Tisch! Sechzehn-K. Und es muss wie ein Unfall aussehen!«
Helmut tut so, als wäge er das Angebot ab. In Wahrheit schaut er ihm über die linke Schulter, denn ein neuer Gast betritt die Bar: Groß, trainiert, schwarzes Haar und Dreitagebart. Israeli … vielleicht Libanese. Für Ungeübte ist die Beule im dunklen Mantel schwer zu erkennen, Helmut tippt auf eine Jericho im Schulterholster.
Der Neuankömmling durchquert den Raum und steuert zielstrebig auf ihren Tisch zu.
Helmuts innere Alarmglocken schrillen! Ist der etwa seinetwegen hier? Hat der Mossad ihn gefunden? Der Gegner ist bloß noch sieben Schritte entfernt, und Helmut ist unbewaffnet. Noch sechs, fünf, vier … Helmut verlagert das Gewicht auf die Fersen und formt die Hand zur flachen Kante, der erste Schlag wird den Kehlkopf zertrümmern, der letzte die Luftröhre brechen.
Zwei Schritte, noch einer … der Kerl biegt rechts ab und verschwindet durch eine Tür für Angestellte.
»Ey!« Der Popper zerrt Helmuts Fokus zurück an den Tisch. »Was is’ jetzt? Sind wir im Geschäft?«
Helmut atmet achtsam aus. Er lockert die Hand, versucht zu entspannen. Schon das zweite Mal dieses Jahr, dass so was passiert. Sollte es tatsächlich so weit sein? Wird er zu alt für den Scheiß?
»Hallo-ho?« Der Auftraggeber schnippt ihm vor dem Gesicht herum. Der Bengel fängt an, ihm auf die Nerven zu gehen. »Warum?«, fragt Helmut unvermittelt und starrt ihm auf die Nasenwurzel.
»Warum … was?«
»Warum wollen Sie, dass ich tue, was ich tue?«
Der Bengel lacht gekünstelt. »Diggah, brauchst du ’nen triftigen Grund?«
»Gibt es etwa keinen?«
»Jetzt pass ma’ auf, O…!«
Das „pa“ bleibt dank Helmuts Killerblick im Hals stecken. Der Adamsapfel hüpft, man kann das Schlucken förmlich hören. Ein dünner Schweißfilm glänzt auf der Stirn. »Hey, Mann!« Der Popper lehnt sich betont lässig zurück und hebt zur Beschwichtigung die Hände. »Die Bitch will nicht hören, also wird sie fühlen müssen. Am besten, wie es ist, vom Balkon zu fallen.« Er grinst und nuckelt am rosa Schalldämpfer.
»Sie ist beinahe hundert«, sagt Helmut. »Ein wenig Geduld, dann regelt das die Natur. Ganz umsonst.«
Der Auftraggeber zieht eine Grimasse und schüttelt den Kopf. »Die Alte ist zäh. Und Zeit ist Geld. Ey, willst du den Job? Oder nicht?«
Tja, will er den Job? Er sucht in den Koksaugen nach Fallstricken, Hinweisen, versteckten Haken. Doch er sieht bloß Schwäche, Habgier und kindlichen Trotz. Sechzehntausend Euro sind sechzehntausend Euro. Keine Tiere, keine Kinder. Und wer nicht hören will, muss fühlen. »Alttestamentarischer Scheiß«, murmelt er.
»Was?«, fragt der Popper irritiert.
Die Kellnerin kehrt mit einem Tablett zurück. Wasser und „Kaffee“.
Helmut steht auf und überreicht ihm eine Visitenkarte. »Die Hälfte im Voraus auf dieses Wallet. Den Rest, wenn der Job erledigt ist. Ich melde mich.«
Gerda zieht die Haustür zu und hält inne, um durchzuatmen. Sie steht allein im Treppenhaus, ihre Beine zittern leicht, doch das ist nichts Neues, vor allem nicht nach einem ausgedehnten Einkauf auf dem Wochenmarkt. Sie ist halt keine Achtzig mehr. Die linke Hand ruht auf dem Griff von Lotte, dem Einkaufstrolley. Gerda tätschelt das abgenutzte Plastik, noch warm von der eigenen Haut.
Aus Lotte mäandern die Düfte von Orangen und Basilikum, flüchtig in der abgestandenen Luft des Treppenhauses.
Über ihr kracht es und Kinderlachen rast die Stockwerke hinab, verabschiedet vom fremdländischen Rufen und Mahnen einer Mutter. Dann ist der Wirbelwind auch schon heran, die letzten Stufen nimmt er im Sprung. Schwarze Haare und dunkle Haut, mit dem Schalk im Nacken stürmt der Rabauke an ihr vorbei, reißt die Haustür auf und flitzt in das Abenteuer, das sich Leben nennt.
Gerda schmunzelt, atmet tief durch und klatscht beherzt in die Hände. Vierzig Stufen, Tag für Tag. »Na, Lotte, dann wollen wir mal!«
Oben angekommen, spürt sie das Herz in der Brust. Sie ist stolz auf sich, fast alles immer noch alleine hinzubekommen. Andere lassen sich im Heim den Hintern abwischen und das Essen klein schneiden. Aber sie nicht! Sie steht auf eigenen Beinen. Das war schon immer so und würde auch so bleiben. Der Gedanke an einen fremdgesteuerten Alltag voller Abhängigkeit macht Gerda wütend, sie schnaubt und schüttelt die aufkeimenden Bilder ab, schließt die Wohnungstür auf und zieht Lotte über die Schwelle.
Ramses II. steckt bei ihrer Ankunft den Kopf um die Wohnzimmerecke. Er beobachtet Gerda für einen Moment, doch sie macht keine Anstalten, Futter aus Lotte hervorzuzaubern, da wendet er sich wichtigeren Dingen zu und verschwindet.
»Ach, Lotte! Kater müsste man sein, was? Nur Schlafen und Fressen. Und gelegentlich etwas vom Tisch werfen, das anderen gehört!« Den letzten Satz ruft sie in Richtung Wohnzimmer. Sie bugsiert den Trolley in die Küche. »Na, dann wollen wir dich mal ausweiden!«
Nachdem Obst und Gemüse verräumt sind, bringt sie Lotte in die Abstellkammer. »Bis morgen, mein Mädchen«, sagt sie und schließt die Tür. Sie füllt Ramses Napf mit Trockenfutter und schaut ihm für einen Moment beim Fressen zu. Als Mensch wäre er neunzig. Noch zwei Jahre und er hätte seinen Namensvetter überholt. Mich besiegt ihr beide nicht, denkt sie, und streichelt den alten Kater, der weiterfrisst und einen Buckel macht.
Gerda durchquert das Wohnzimmer und tritt an die Plattensammlung heran. Sie sucht eine Weile, dann wird sie fündig. Vorsichtig befreit sie das Vinyl aus der Hülle, legt die schwarze Scheibe auf den Teller und schaltet ihn ein. Mit der Kohlefaserbürste befreit sie die rotierende Rarität behutsam vom Staub, dann platziert sie die Nadel über der ersten Rille und senkt sie ab. Duke Ellingtons Saxofon erklingt und es ist wieder 1944. Gerda denkt an Lieselotte und an den kleinen Keller des Cafés Lichterhain, wo damals alles begann. Sie summt die Melodie von Don’t Get Around Much Anymore, lächelt und wippt sachte zum Takt mit dem Finger. Dann öffnet sie die Balkontür, die frische Luft verweht die Vergangenheit. Gerda tritt an die Brüstung und legt die Hände darauf, der sandfarbene Stein ist angenehm kühl. Sie schließt die Augen und lauscht der Musik.
Es klingelt an der Tür.
Helmut wartet ab. In der Wohnung läuft Musik. Er kennt sich nicht aus, aber es klingt alt, was passend erscheint. Er überprüft rasch seine Maskerade. Die sündhaft teure Kombination aus Echthaar-Perücke, Schnurrbart und Koteletten, alles auf feinstem Tüll geknüpft, sitzt makellos. Baseballmütze und Windjacke tragen das Logo des lokalen Netzbetreibers, in der Werkzeugtasche zu seinen Füßen ist tatsächlich Werkzeug. Er überlegt, erneut zu klingeln, da verstummt erst die Musik, dann öffnet sich die Tür einen Spaltbreit.
»Ja, bitte?«, fragt sie.
Helmut nimmt die Mütze ab und lächelt. »Guten Tag. Frau Gerda Braun?«
»Ja?« Sie öffnet die Tür ein wenig weiter und erst jetzt sieht er sie in Gänze. Niemals hätte er sie auf achtundneunzig geschätzt! Gut, das zu einem Knoten frisierte Haar ist schlohweiß und ihr Gesicht so runzlig wie eine Rosine, aber das bordeauxfarbene Strickkleid schmeichelt der Figur; sie hat einen frischen Teint und ihre wachen Augen mustern ihn von oben bis unten. Zudem ist sie größer, als er dachte. »Ich komme im Auftrag der Stadtwerke und soll die Eichgültigkeit Ihres Gaszählers kontrollieren. Wir haben Ihnen vor zwei Wochen ein Schreiben geschickt?«
Sie kneift die Augen leicht zusammen. Ein solches Schreiben existiert nicht.
»Darf ich mal Ihren Ausweis sehen?«, fordert sie.
Hm. Gute Gene und ein aufgeweckter Geist. Möglicherweise wird der Job doch kein Kinderspiel.
»Selbstverständlich.« Helmut holt das gefälschte Stück Plastik mit seinem Konterfei darauf aus der Jackentasche und hält es ihr hin, gleichzeitig verstärkt er das Lächeln ein wenig.
Er will raus aus dem Treppenhaus, bevor ein neugieriger Nachbar ihn sieht. Er muss es bis in die Wohnung schaffen. Die meisten Unfälle passieren im Haushalt.
Sie nimmt ihm den Ausweis weg und überprüft ihn sorgfältig, schaut zu Helmut und wieder aufs Plastik. Dann gibt sie ihn zurück. »Ich hab kein Schreiben erhalten, Herr Neumann. Daran würde ich mich erinnern, weiß ja, welche Post ich kriege. Wie sind sie ins Haus gekommen?« Ihr Blick huscht zum Treppenhaus und wieder zurück.
Helmut steckt den Ausweis ein und nickt. Darauf ist er vorbereitet. »Wir haben einen Generalschlüssel vom Eigentümer, um die Allgemeinzähler im Keller zu kontrollieren. Frau Braun, jetzt bin ich ja schon mal hier. Wenn Sie erlauben, würde ich nur rasch die Technik überprüfen und dann bin ich auch schon wieder weg. Das geht ganz schnell, versprochen.«
In ihren Augen funkelt eine Spur von Argwohn. Ahnt sie etwas? Nein, unmöglich.
Er beschließt, den Druck sanft zu verstärken. »Mit der Eichgültigkeit von Gaszählern ist nicht zu scherzen. Wenn da nicht die korrekte Kalibrierung vorgenommen wird, zahlen Sie am Ende im schlimmsten Fall Unsummen drauf!«
Ihre Schultern sacken ein wenig ein und sie senkt den Blick.
Für Helmut ein sicheres Zeichen, er hat sie!
»Treten Sie bitte die Schuhe ab!« Sie öffnet die Tür mit einladender Handbewegung.
Der schmale Flur der Altbauwohnung ist zu eng für zwei, sie macht ihm Platz und stellt sich in den Türrahmen zu seiner Rechten, der ins Wohnzimmer zu führen scheint. An den Wänden des Flures hängen gerahmte Fotografien, auf den ersten Blick haben alle das gleiche Motiv, wenn auch in Variation: Gerda Braun posiert mit einer Frau, die ihr ähnelt, vor ausländischer Kulisse. Es sind immer die beiden, bloß Alter und Hintergrund unterscheiden sich: die zwei als Seniorinnen vor bunten Häusern am Hafen Kopenhagens, ein wenig jünger vor den Stufen eines asiatischen Tempels, im mittleren Alter neben einem Kamel in der Wüste, als junge Frauen in schwarz-weiß am Geländer einer Gracht. Helmut stellt die Tasche auf den Boden. »Sie haben die Welt gesehen, was, Frau Braun?«
»Hm-m.« Mehr ein Laut als eine klare Antwort.
»Ist das Ihre Schwester?« Er zeigt auf die andere Frau, auf dem Schnappschuss hat sie rote Haare und lacht aus vollem Herzen. Eine blonde Gerda steht daneben und grinst, sie sind vielleicht Mitte vierzig, im Hintergrund steht der Eiffelturm.
»Sie sagten, das geht schnell.« Mit ernster Miene schaut sie auf die Werkzeugtasche.
Kein Small Talk, okay. Er lächelt. »Ja. Wissen Sie, wo Ihr Gaszähler ist?«
»Bei Lotte im Zimmer.«
»Lotte?«
»Lieselotte.« Sie zeigt auf die andere Frau.
Scheiße! Hier ist noch jemand? Helmuts Plan fällt wie ein Kartenhaus zusammen. Der Popper hatte ihm versichert, sie lebe allein.
»Ähm … gut.« Er schaut den Flur entlang. »Wo muss ich hin?«
»Mir nach.« Sie tritt in den Flur und biegt die erste Tür links ab, in die Küche. Der kleine Raum ist aufgeräumt und sauber, es riecht nach Basilikum.
»Äh … Frau Braun …«, setzt Helmut irritiert an, doch sie öffnet eine Schranktür und offenbart eine geräumige Abstellkammer. Neben einem Einkaufstrolley, und Regalen voller Konserven, Putzmittel und Katzenfutter befindet sich der Gaszähler.
»Na, dann lass’ ich Sie mal machen, Herr Neumann.« Sie geht aus der Küche und zieht die Tür zu. Kurz darauf erklingt wieder Musik, gedämpft durch Türen und Wände.
Helmut atmet tief durch. So weit, so gut. Er öffnet die Werkzeugtasche und klappt die Laschen aus. Für den Fall, dass sie zurückkommt, sieht es so aus, als würde er arbeiten. Das Zimmer der Schwester? Egal, sie ist wahrscheinlich doch seniler, als sie aussieht. Umso besser. Der Plan steht. Er ist allein mit ihr und muss sie bloß noch auf den Balkon bekommen. Helmut zählt langsam bis hundert, klappt die Tasche wieder zu und schließt die Tür der Abstellkammer. Er holt den manipulierten Handheld aus der Tasche. Dann folgt er dem Klang der Musik, durch den Flur zurück und links ab ins Wohnzimmer. Das Lied ist zu Ende.
Wow. Beeindruckt bleibt er stehen. Durch die großen Bogenfenster flutet Sonnenlicht den geschmackvoll eingerichteten Raum. An den Wänden hängen Holzmasken und kunstvoll geknüpfte Teppiche, ein kleiner Bronze-Buddha thront auf einem Beistelltisch, ein Regal präsentiert ein geschnitztes Holzboot neben drei bunt lackierten Kacheln. Als ob dieser Ort selbst die Sprachen der Welt sprechen könnte, in die Gerda Braun im Laufe ihres Lebens eingetaucht ist. Der wahre Blickfang ist jedoch das dunkle Holzregal, das eine ganze Wand einnimmt: Unzählige Plattenhüllen sind aufgereiht, es müssen mehrere hundert sein. Wie lange hat es wohl gedauert, diese Sammlung zu erstellen? Der Plattenspieler steht hinten links in der Ecke, es beginnt kein weiterer Song, die Scheibe ist durch.
»Ah, das ging ja wirklich schnell!« Sie steht neben einem antik aussehenden Globus, die Weltkugel ist jedoch bloß Fassade für die Kristallflaschen im Innern. Die Bar ist geöffnet, Gerda gießt ein Fingerbreit bernsteinfarbene Flüssigkeit in einen Tumbler. »Ich läute offiziell die Cocktailstunde ein! Leisten Sie mir Gesellschaft?« Sie lächelt verschmitzt.
Helmut zögert. Irgendetwas in ihrer Stimmung hat sich verändert, seit sie die Küche verlassen hat. Sie wirkt gut gelaunt, beinahe ausgelassen. Hinter ihr steht die Balkontür weit offen.
Er lächelt. Das wird ja immer besser. Besoffene Seniorin stürzt in den Tod – er hat die Schlagzeile vor Augen. »Da sag’ ich nicht nein!« Er geht zu ihr.
Sie reicht ihm das Getränk.
Er nimmt es ihr ab und riecht daran. Whisky. »Worauf trinken wir?«, fragt er.
Sie hebt ihr Glas. »Das Leben ist kurz, also trinken wir schnell!«
Er lacht. »Schön gesagt! Prost!« Die Gläser klirren und er stürzt den Scotch in einem Zug hinunter. Gutes Zeug!
Sie hält inne, trinkt keinen Schluck.
»Was ist?«, fragt er.
Sie antwortet nicht, stellt das Glas zur Seite und schaut ihm in die Augen. Jegliche Spur von Ausgelassenheit ist verschwunden. Ihr Starren erinnert an ein Raubtier auf der Lauer.
»Frau Braun?«
Sie dreht sich weg und verlässt wortlos das Zimmer, verschwindet im Flur.
Ein mieses Gefühl kriecht Helmut unter die Haut und in seinen Schädel. Was zur Hölle ist hier los? Ihm schwindelt, dieser Scotch hat es in sich! Er will das Glas näher anschauen, aber die Arme sind aus Stein. Der Handheld fällt ihm aus der Hand, seine Finger kribbeln unangenehm. Kalter Schweiß bricht aus und rinnt am Rücken runter. Die Beine geben nach und er sackt auf den geölten Holzbohlen zusammen. Seine Welt gerät aus den Fugen, er sieht Gerdas Füße, als sie zurückkehrt. Hat sie den Trolley aus der Abstellkammer dabei? Er will den Kopf heben, doch es gelingt nicht. Dann übermannt ihn Dunkelheit.
Gerda benötigt mehrere Stunden, um ihn nach draußen auf den Balkon und in die passende Position zu bugsieren. Immer wieder muss sie Pausen einlegen, um ihren Puls zu beruhigen und die Muskeln zu entlasten.
Ramses II. und Lotte leisten ihr Gesellschaft.
Mittlerweile ist es Nacht. Sie überprüft den Sitz des Klebebands, dann setzt sie sich und wartet ab.
Es dauert nicht lange, er kommt zu Bewusstsein, verdreht die Augen und stöhnt.
»Hallo, Herr Neumann. Willkommen zurück.«
Er will impulsiv auf sie losgehen, doch das Gewebeband hält ihn am Balkon fixiert.
Die Beobachtung seiner Mimik, wie er versucht zu begreifen, was passiert, amüsiert Gerda. Mit dem schwindend grauen Haar erinnert er sie an ihre Nummer Sieben, den Major der 3. SS-Panzer-Division, den Lotte im Januar ’45 in das präparierte Zimmer des Adlon lockte. Wie hieß der noch gleich? Es fällt ihr nicht ein.
Ihr Gegner schaut gehetzt von den Fesseln zu ihr, dann sieht er Perücke, Bart und Koteletten auf dem Beistelltisch liegen, ebenso die sorgfältig gefaltete Segeltuchjacke und die Baseballkappe. Seine Augen weiten sich, als er die Spritze auf dem Silbertablett entdeckt, drapiert wie ein Dessert.
»Frau Braun! Was soll das! Ich wer…!«
»Na, na, na. Bitte nicht so laut. Wir wollen doch nicht, dass die Nachbarn Sie hören. Wenn Sie hier rumschreien, schicke ich Sie zurück in’s Traumland und von da aus ohne Zwischenstopp auf die Straße. Das gilt übrigens auch, wenn Sie mich anlügen.«
Er hält inne, schaut zur Spritze und wieder zurück. »Was wollen Sie?«, fragt er leise.
»Antworten, Herr Neumann. Wie heißen Sie wirklich?«
Er atmet schwer, kann wahrscheinlich nicht fassen, dass ihm das wirklich passiert. Die Männer sind alle gleich. Dann fügt er sich. »Helmut«, sagt er.
»Helmut, wollen wir uns duzen? Mein Instinkt sagt mir, dass es gleich persönlich zwischen uns wird.«
Er zieht eine Grimasse. »Meinetwegen … Gerda!«
Sie lächelt. »Aus welchem Grund beabsichtigst du, mich umzubringen?«
»Es gibt keinen Speziellen! Ich hab’ sechzehntausend Gründe.«
Ein bezahlter Killer. Interessant. Sie geht in Gedanken eine Namensliste durch, verwirft sie jedoch umgehend wieder. Das ist viel zu lange her, diese Leute sind längst tot. »Wer hat dich beauftragt?«
Helmut zerrt an den Fesseln, gibt jedoch rasch wieder auf. »Ein Mann. Keine Ahnung, wie er heißt!«
»Was genau weißt du über ihn? Lass’ kein Detail aus!«
Helmuts Augen huschen nach rechts oben, das Gedächtnis arbeitet. »Er ist ca. achtundzwanzig, hat blonde Haare und blaue Augen. Nach außen hin selbstbewusst, in Wahrheit ein Feigling. Er genießt es, Macht über andere auszuüben. Sein Narzissmus spiegelt sich in einseitigem Krafttraining und einer teuren Garderobe wider. Er dampft E-Zigarette, konsumiert Kokain, ist vermutlich Veganer und hat wenig Respekt vor älteren Menschen. Im Darknet …« Helmut stockt. »Weißt du, was das Darknet ist?«
Gerda grunzt. »Ich bin fast hundert, aber nicht von gestern. Weiter!«
»Äh … ja. Im Darknet nennt er sich GroßerBöserWolf96. Über diesen Nickname hat er mich kontaktiert.«
Gerda muss kichern.
»Findest du das lustig?« In seiner Stimme liegt Verwunderung.
»Lächerlich trifft es eher. Ich habe mir so etwas bereits gedacht. Es lag nahe.«
»Hm. Wieso?«
»Weil ich erst kürzlich gegen Leon Wolf, diesen verzogenen Bengel, vor Gericht gewonnen habe.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke. Wirklich schade, dass der Lümmel so nachtragend ist. Sein Vater war ein guter Kerl, hat sich stets schnell gekümmert, wenn in der Wohnung was gemacht werden musste und seine Mieter ansonsten in Ruhe gelassen.«
»Verstehe. Hör mal, Gerda, ich …«
Gerda fällt ihm ins Wort. »Zehntausend plus weitere sechs als Aufschlag, wenn es wie ein Unfall aussieht? Die Hälfte vorab per Überweisung in Bitcoin, den Rest, wenn ich tot bin?«
Helmut presst die Lippen aufeinander. Er nickt.
»Was hattest du vor, wolltest du mich vom Balkon schubsen?« An seiner Mimik erkennt Gerda, dass sie richtig liegt. In ihrem Geist entfaltet sich ein Plan. »Wie lange bist du schon im Geschäft?«
»Etwas über zwölf Jahre.«
»Und deine …?« Sie vollführt eine knappe Geste, er wird es verstehen.
»Meine Zahl?«
»Ja.«
»37«, antwortet er und reckt das Kinn knapp vor.
Gerda sagt längere Zeit nichts, denkt nach und wägt ab. »Gut, hör zu, hier ist mein Angebot: Ich binde dich los und du kontaktierst Leon, sagst ihm, dass der Job erledigt ist. Dann sagst du ihm, es gibt eine Planänderung, dass er sich für die Übergabe der restlichen achttausend persönlich mit dir treffen muss. Du fährst mich zum vereinbarten Treffpunkt und verschwindest. Das war’s.«
Helmut sieht für den Moment keine Chance, die Fesseln zu lösen. Innerlich fahren seine Emotionen Achterbahn, doch er zwingt sich, cool zu bleiben. Überrumpelt von einer beinahe Hundertjährigen. Normalerweise echt peinlich, aber er verspürt großes Glück, noch am Leben zu sein.
Sie ist die Ruhe in Person, wie sie ihm da gegenüber in dem Gartenstuhl sitzt, über den Knien eine Tagesdecke mit Karomuster, die linke Hand darunter verborgen. Ihr Gesicht ist eine runzlige Maske. Er ist sich ziemlich sicher, dass sie unter der Decke mit einer Pistole auf ihn zielt. Auf einem gusseisernen Mosaiksteintisch liegen seine Verkleidung und ihre Spritze. Daneben steht der Einkaufstrolley wie ein stummer Zaungast. Im Laufe der Unterhaltung hat sich ein grauer Kater aus der Wohnung dazugesellt, nun schläft das Tier friedlich neben der Balkontür.
Helmut entschließt sich für ein Wagnis. Den Mutigen gehört das Glück. Er schabt mit unmerklichen Bewegungen das Klebeband des rechten Handgelenks an der rauen Kante des Balkons entlang. Mit genügend Zeit schafft er es vielleicht, sich zu befreien! Am besten verwickelt er sie in ein Gespräch.
»Woher wusstest du es, Gerda? Was hat mich verraten?«
Sie lächelt. »Der falsche Bart und der Ausweis. Die Art und Weise, wie du mit mir gesprochen hast.«
Sie wusste es schon im Treppenhaus. Helmuts Gedanken rasen. Wer ist sie? »Bevor ich auf das Angebot eingehe, muss ich etwas Persönliches von dir wissen.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Wie lautet deine Zahl?«
Sie lässt ihn zappeln, dann schaut sie ihm in die Augen. »399.«
Niemals. Sie lügt! Dazu reicht ein Leben nicht aus, auch wenn es bereits einhundert Jahre dauert.
»Du glaubst mir nicht«, sagt sie.
»Bei allem Respekt …«
»Es war eine Koproduktion, Helmut. Uns gab es seit 1944 nur im Doppelpack. Wir waren erst achtzehn beim ersten Mal.«
Die Erkenntnis dringt so rasch in Helmuts Verstand ein wie Blut in weiße Teppichfasern. »Die rothaarige Frau. Auf den Fotos im Flur. Laura?«
»Lotte. Eigentlich Lieselotte. Sie war meine beste Freundin.«
»Was ist passiert?«, fragt er und schabt insgeheim weiter.
Gerda zuckt mit den Schultern. »Das ist so lange her. Es war Krieg. Wir wurden gemeinsam angeworben, Lotte und ich. Von einer Niederländerin namens Trude, die den Widerstand unterstützte.«
»Aha«, macht Helmut und bemüht sich um einen interessierten Gesichtsausdruck.
»Wir sahen noch jünger aus, als wir waren, wurden an Kontrollpunkten seltener angehalten. Es fing an mit Botengängen, Schmuggelaufträgen, solchen Sachen. Wir waren wohl Naturtalente, denn recht schnell lehrte uns Trude den Umgang mit Waffen und worauf es beim Einsatz von Sprengstoff ankam. Dann gab es da einen Offizier, der eine Schwäche für Mädchen wie uns hatte. Das war die Nummer Eins.«
»Klingt heftig«, sagt Helmut und schabt vorsichtig weiter.
Gerda sieht ihn jetzt nicht mehr an, sie schaut ins Leere, während sie spricht. »Der Krieg endete und wie durch ein Wunder hatten Lotte und ich überlebt. Ausgestattet mit natürlichem Talent, neuen Fertigkeiten und speziellen Kontakten fanden wir schnell Arbeit in Übersee. Von dort ging es dann um die ganze Welt, wir beide zusammen, Seite an Seite. Sie passte auf mich auf und ich auf sie.«
»Unglaublich! Und bis wann lief das?«, fragt Helmut. Er dreht das Handgelenk ein. Es funktioniert, das Gewebeband hat einen deutlichen Riss! Noch ein klein wenig weiter und er ist frei!
Gerda seufzt. »Wir haben uns vor über dreißig Jahren zur Ruhe gesetzt.« Sie hebt den Blick. »Das tut echt gut, da mal mit jemandem drüber zu reden.«
»Aber … was ist mit Lotte passiert?« Sie darf nicht aufhören, er muss sie in der Vergangenheit halten!
»Wir sind alt geworden! Und dann noch älter. Lotte hat in jüngeren Jahren eine Tochter adoptiert, Sigrun. Ich wollte ja nie Kinder. Na ja, das Leben hat es dann mit mir besser gemeint. Meine Lotte konnte irgendwann nicht mehr für sich selbst sorgen. Da hat Sigrun sie in einem Pflegeheim untergebracht.«
Helmut hält inne. In Gerdas Augen schimmert ein feuchter Glanz, auch ihre Haltung hat sich verändert, sie scheint um ein paar Zentimeter geschrumpft zu sein. Mit einem Mal kommt ihm Gerda tatsächlich vor wie achtundneunzig. »Was ist am Ende passiert?«, fragt er sanft.
Gerda schluckt. »Ich hab’ versucht, sie aus dem Heim zu holen, aber Sigrun hat es verhindert. Hat das Personal gegen mich aufgebracht. Bei meinem letzten Besuch kam ich zu spät. Eine Pflegerin, die mich mochte, sagte mir, Lotte hätte sie kurz vor dem Ende gebeten, noch ein Geschenk für mich zu kaufen.« Sie wendet sich ab und schaut auf den Einkaufstrolley zu ihrer Rechten.
»Lotte«, flüstert Helmut. Das Gewebeband reißt lautlos entzwei, die Hand ist frei.
Gerda nickt, in ihrem runzligen Gesicht liegt Tapferkeit. »Wir beide zusammen, Seite an Seite.« Sie holt die linke Hand unter der Decke hervor und wischt die Tränen aus den Augen. Da ist keine Pistole. »Und, Helmut?«, fragt sie, »Hast du dich entschieden?«