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Drei Tage
Alles wie immer, hatte sie gesagt. Seit drei Tagen bin ich bei meiner Mutter und seit drei Tagen machen wir alles wie immer. Einkaufen, kochen, spülen, die blauen Messer in die linke, die silbernen in die rechte Schublade. Wie immer radeln wir nebeneinander in ihrer Muckibude, wie sie es nennt, während sich auf den Bildschirmen vor uns eine Landschaft in Südfrankreich entrollt. Wir haben im Leopold gegessen, wie immer sind wir die einzigen Gäste gewesen.
„Wenn du nicht mehr bist, machen die zu!“, habe ich gesagt und sie hat mich etwas unruhig angesehen, dann aber gelächelt.
Da sie mittags nur Pralinen isst, wärme ich mir eine Suppe auf und koche einen Tee. Es ist ein Uhr, wir haben zwei Stunden: Karlheinz kommt um drei.
„Probier den doch einmal an!“ Sie steht hinter mir und hält einen weißen Pulli in die Höhe. Irgendwann hat sie angefangen, weiße Pullis zu kaufen, ihre Schränke müssen voll davon sein. Daheim habe ich eine Schublade voll weißer Pullis, die sie nicht mehr trägt. Ich ziehe ihn über, er sitzt schlecht, zu kurz und zu weit.
Ich beuge mich vor und nehme sie in die Arme. Wie klein sie geworden ist! Früher waren wir gleich groß, jetzt reicht sie mir kaum übers Kinn. Ich stecke meine Nase in ihre frischgewaschenen Haare, halte mit meinen Armen die zweifach verbogene Wirbelsäule zusammen. Ihre Hüften sind beide neu, aber die Operationen haben gegen die Kreuzschmerzen nicht geholfen. Schmerzmittel helfen; sie verfügt über eine beeindruckende Auswahl an verschreibungspflichtigen Medikamenten, die sie in einem weißen Strohkörbchen neben ihrem Waschtisch aufbewahrt. Ihre Schultern ragen nach vorne, sie hat ihre Arme um mich gelegt und drückt mich an sich.
Ich versuche, mir den Abdruck ihres Körpers an meinem Körper zu merken, die vorgeschobenen Hüftknochen, das Weiche, den Bauch. Nie habe ich mir vorstellen können, aus ihr herausgekommen zu sein, immer schien sie mir zu klein und viel zu anders als ich.
Hinter mir blubbert die toskanische Tomatensuppe. Meine Mutter schiebt sich an mir vorbei in die Küche.
„Töpfe hast du ja selber“, murmelt sie. „Aber diesen hier habe ich immer so praktisch gefunden.“
Sie stellt einen sauberen Keramiktopf neben die Spüle und nimmt die Suppe vom Herd. Ich stelle mir vor, dass der Topf da stehen bleibt, heute und morgen und wenn die Cousinen komme, wenn ich den Schrank auseinandernehme, und wenn ich meine paar Kisten packe. Dass der blaue Topf steht, wo sie ihn für mich hingestellt hat, neben der Spüle, wenn die Entrümpler kommen. Ich ziehe den weißen Pullover aus, greife Topf und Pulli und lege beides in den Flur neben meine Reisetasche.
Ob ich Karlheinz wiedererkennen werde? Damals war er ein Freund der Familie gewesen. Eine Zeit lang hatte ich gedacht, vielleicht ein Liebhaber meiner Mutter. Das wusste man nie: Männer, die anriefen, wenn ich nachmittags allein daheim war, die sich mit Vor- und Nachnamen am Telefon meldeten und denen ich in kurzen Worten mitteilte, dass ich weder wusste, wo meine Mutter war, noch, wann sie nach Hause kommen würde. Karlheinz trug eine längsgestreifte Hose, an die Hose erinnere ich mich, aber nicht an den Mann. Ich erinnere mich an das graue Eckhaus am Stadtpark, unten seine neurologische Praxis, oben die Wohnung mit dem riesigen Wohnzimmer, in dem sich die Schickeria des Städtchens traf.
Meine Mutter hat den Tisch gedeckt.
Sie ist lange im Bad gewesen, hat sich die Haare zu Löckchen gedreht und mit einem rosa Seidenband zurückgebunden. Der Lippenstift ist auch rosa, sie sieht gut aus. Wegen der Spritze will sie nichts essen. Ich stelle den Teller mit den Pralinen mitten auf den Tisch. Wie immer.
„Der Rollator ist nur gemietet, das weißt du?“
Ja, das weiß ich. Das Ding ist wie neu, sie hat es, soweit ich weiß, nie benutzt. Ich weiß, wo der Brief mit der Adresse des Orthopädieverleihs liegt. Ich weiß, wo das Sparbuch liegt und ich kenne ihr Kennwort für den Computer. Versicherungen, Telekom, Handyvertrag: Ich habe eine Liste, wir sind sie oft genug durchgegangen. Ich könnte ihren Haushalt im Schlaf abwickeln und vielleicht liegt darin ihre Absicht: den Ernstfall mit mir so oft zu üben, dass am Ende der Ernstfall wie eine Übung erscheint.
„Die Entrümpler schmeißen ja alles weg, da kann man nichts machen, niemand braucht mehr Zeug heutzutage“, murmelt sie und betrachtet die Vase auf dem Tisch oder die Teekanne daneben.
„Das Teegeschirr nehme ich mit. Und den Schrank.“
„Welchen Schrank?“
„Na, deinen Schrank!“
„Ach, den Kirschholzschrank!“ Als hätte sie zehn Schränke aus zehn Holzarten! Verloren blickt sie auf das Möbel, dann auf den Fernseher.
„Die Anlage ist noch gut.“
Ich zucke mit den Schultern. Vieles ist gut.
„Das Sofa war mal richtig teuer. Ich habe es im Ausverkauf bekommen, das ist eine echte Marke.“
Ich nicke, werde erwägen, das Sofa zu retten, es wird doch in diesem Land noch jemanden geben, der ein Sofa brauchen kann, ein ehemals teures!
Die Wahrheit ist, es gibt nichts zu bereden. Es gibt kein Gespräch, dass wir beginnen können, denn wir würden es nicht zu Ende führen. Ich nehme einen Löffel Suppe, wie immer.
„Das Wetter könnte besser sein“, sage ich.
„Gestern beim Spaziergang war es schön“, sagt sie. Sie sieht mich wieder so an, besorgt oder schuldbewusst. Ich nicke. Tatsächlich hatten sich die Wolken, die seit zwei Wochen fest zwischen den Hügeln liegen, für ein paar Stunden verzogen und einen blassblauen Winterhimmel freigegeben. Jetzt regnet es wieder.
„Es ist nicht wegen dem Auto“, hatte sie mir am Telefon mitgeteilt, an dem Abend, einen Monat ist es her, als sie mir den Boden unter den Füßen weggezogen hat. „Ich habe meinen Führerschein ja noch.“
Aber wenn es nicht das Auto war, was war es dann? Wenn es nicht das Auto war, dann gab es doch keinen Grund, außer dem Auto hatte sich nichts geändert, sie würde nicht mehr selbst fahren, das war alles, man konnte Lösungen finden, andere haben auch kein Auto.
Also vielleicht war es doch das Auto. Sie hatte Ecki versprechen müssen, sich nicht mehr ans Steuer zu setzen, nach der letzten Geschichte. Ecki ist auch so ein alter Freund. Ein Anwalt, der längst nicht mehr arbeitet, aber sich für sie, wenn es nottut, an den Schreibtisch setzt.
„Das ist das letzte Mal, dass ich dich da raushaue, Annette“, hatte Ecki gesagt. Vorher waren es Blechschäden gewesen, aber dieses Mal hatte sie einen Hund erwischt.
Und wenn es nicht das Auto war, was war es dann? Die Treppen, sicher, zweiter Stock links ohne Fahrstuhl ist keine Adresse für Neunundsiebzigjährige. Die Kassiererinnen bei Aldi, die immer schneller werden, wie der Wind ziehen sie die Ware durch ihre Piepsanlagen, und während meine Mutter nach dem Portemonnaie kramt, fallen Pralinenschachteln vom viel zu kurzen Band, und wie sie sich bückt und wieder aufschaut, gucken die anderen in der Schlange sie an, Mord im Blick. Überhaupt ihre Fahrigkeit, hundert Bewegungen, um aus der Handtasche das Portemonnaie hervorzukramen. Vielleicht ist es das Alter oder es sind sie Medikamente, vielleicht war sie schon immer so. Dann ging das Telefon wieder nicht, und der Mann im Laden wollte ihr ein neues verkaufen, aber das muss man wieder von der Pike auf lernen, wie das funktioniert, nein, ein neues will sie nicht, er soll ihr das alte reparieren, dazu hat sie es ihm schließlich gebracht. Und dann war wieder einer da wegen des Fensters im Schlafzimmer, aber wie das Wasser da hereinkommt, unterhalb der Fensterbank, das wusste er auch nicht, und was mit der Lampe im Keller ist, das weiß sowieso keiner.
Oder es war eben doch die Einsamkeit: Gert aus dem Erdgeschoss, den sie einmal die Woche zu Kartoffeln und Quark einlud, Heiner, Regine und Jürgen, die sie auf einen Kaffee oder einen Spaziergang traf und die alle nach und nach in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen verschwanden. Jürgens Tod hat sie irgendwann von Ecki erfahren, da lag Jürgen längst unter der Erde.
„Irgendwann“, sagte sie, „ist es einfach zu viel.“
Sie hätte zu uns ziehen, einen Treppenlift einbauen, eine Pflegestufe beantragen, hier und da ein Taxi nehmen können. Ich denke an all die Lösungen, die es gibt für all die Probleme, die sie hat, ich sehe meine Cousinen mir diese Lösungen an den Fingern vorzählen. Ich habe nicht einmal versucht, meine Mutter zu überzeugen, dass es nicht so schlimm ist, dass es schon wieder wird. Ich habe nicht geglaubt, dass ich sie aufhalten könnte.
„Wenn du wenigstens an unerträglichen Schmerzen leiden würdest“, habe ich im Leopold gesagt, als sie in ihrem Carpaccio herumstocherte.
„Ich kann die Schmerzmittel absetzen und an unerträglichen Schmerzen leiden, wenn du das möchtest.“
Nein, sicher nicht.
Seit einem Monat der unsinnige Versuch, mich an eine Welt zu gewöhnen, in der sie nicht mehr ist; aber das ist unmöglich, denn eine Welt ohne sie kenne ich nicht. Mit meiner Mutter werden diese Tage verschwinden, die aus Einkaufen, Spülen, Spazierengehen bestehen. Ihre Wohnung wird aus meinem Leben verschwinden und mit der Wohnung das Städtchen und der Wald, in dem wir gestern noch spazieren waren.
Ich habe sie mit dem Auto hingefahren, obwohl es nur ein paar hundert Meter sind. Früher ist sie täglich hier herumgelaufen, nach der Arbeit, am Wochenende, stundenlang. Gestern ging es mit den Wanderstöcken gerade an der Wiese entlang bis hoch zur Eiche. Die war schon alt, als wir eine Familie waren und meine Eltern und ich zum Eisessen ins nächste Städtchen wanderten.
„Weißt du noch“, fange ich an und weiß selbst nicht, warum, „als ich weggezogen bin, da hast du mich zum Bahnhof gebracht. Du hast meinen Koffer in den Zug gehoben, und als sich die Türen geschlossen haben, hast du ein Taschentuch aus der Tasche gezogen. Als mein Zug anfuhr, bist du mitgegangen, das Taschentuch in der Hand, ich habe dich durch das ovale Fenster gesehen, und als er schneller wurde, bist du mitgelaufen, ich sah dich rennen und plötzlich stürzen, du bist aus dem unteren Bildrand gefallen, während der Zug beschleunigte. Ich sah Reisende zu dir laufen, dann verschwand der Bahnsteig, der Bahnhof und die ganze Stadt. Erst spät am Abend habe ich dich erreicht, von einer Telefonzelle in der Stadt. Du hattest dir nicht weh getan. Am Telefon hast du gelacht, weil ich so besorgt um dich war. Du warst die, die besorgt sein wollte, weil dein Kind fortzog!“
Weißt du noch. Zu wem sage ich: „Weißt du noch?“ wenn sie nicht mehr ist?
Der Tee ist kalt geworden, die Suppe auch. Ich nehme mir eine Praline.
„In dem Winter, in dem ich weggezogen bin, hast du mir zu Weihnachten ein Paket geschickt“, fange ich wieder an.
„Kekse und Stollen und dein Schwarzbrot!“, fällt es meiner Mutter sofort ein.
„Ich ging damals mit einem Studenten aus, er hat mich abgeholt und ich habe gesagt, ich muss noch daheim anrufen, mich für das Paket bedanken. Schnee lag auf dem Platz und auf den Bäumen, eine ganz dünne Decke, und in der Mitte des Platzes die Telefonzelle. Ich habe bei euch angerufen und Vater hat das Telefon abgenommen. Ich wollte mich für das Weihnachtspaket bedanken, habe ich gesagt, und er hat gesagt, Tina, deine Mutter ist ausgezogen. Wir haben uns getrennt. Als ich aus der Telefonzelle kam, fragte mich mein Student: 'Und?' - 'Alles in Ordnung', habe ich gesagt. Das nächste Mal, als ich herkam, habe ich dich hier in der Wohnung besucht, du hattest schwarze Teller gekauft und ein schwarzes Sofa.“
„Das war die Mode, schwarze Teller, ich habe noch zwei davon, im Keller, gleich rechts, oberstes Regal, wenn du magst!“
Wieder dieser besorgte Blick. Es ist sehr still, wenn wir beide schweigen. Als ich aufstehe, den Tee aus den Tassen zurück in die Kanne gieße und alles in die Küche bringe, ist es schon halb drei.
Ich nehme ihr den Pralinenteller aus der Hand, stelle ihn, da die Arbeitsplatte voll ist, auf den Boden und nehme sie wieder in die Arme, hebe sie sogar für einen Moment kurz an, denn ich will ich Gewicht wissen; als könnte ich sie mir zurückholen, wenn ich mir nur genau genug ihren Geruch, ihr Gewicht und ihre Form ins Gedächtnis brenne.
"Ich fürchte mich", sage ich und spüre, wie sie in meine Schulter nickt. Ich frage sie nicht, ob sie sich fürchtet. Irgendwann lösen wir uns voneinander, sie geht ins Bad.
Ich streune durch die von ihr noch von ihr bewohnte Wohnung. Die CD hat sie bereits eingelegt, Exsultate Jubilate, natürlich, und in dieser uralten Aufnahme, Maria Stader, kennt kein Mensch mehr. Abzuspielen, wenn Karlheinz kommt. Im Schlafzimmer liegt auf einem Stuhl ihr weißes Sommerkleid mit den breiten Streifen, gelb und blau, der weite Rock reicht bis zum Boden. Die Stöckelschuhe, die sie seit Jahren nicht trägt, stehen neben dem Schreibtisch, und auf dem Schreibtisch liegt die Liste der Lieder für ihre Beerdigung, daneben vier CDs. Alles ist sauber und hell. Frau Engelke ist vorgestern hier gewesen und hat die Regale zum letzten Mal abgestaubt. Frau Engelke, sagt meine Mutter, sei an Karlheinz' Dienstleistung übrigens langfristig auch interessiert. Als würde der ihrer Purtfrau, oder, wie sie sagt Putzfee den gleichen Gefallen tun!
„Karlheinz hängt sich ganz schön aus dem Fenster für dich“, hatte ich am Telefon gesagt, aber das wollte sie nicht hören, es sei eine juristische Grauzone, behauptete sie. In jedem Fall muss sie die Spritze selbst setzen, er bringt sie mit und bereitet sie vor, während ich die Musik anmache und dann werde ich die beiden alleine lassen, damit ich es ihr nicht schwermache, das hat man oft gehört, dass Schwerkranke erst sterben, wenn die Angehörigen aus dem Zimmer sind. Die Tür zum Schlafzimmer lasse ich besser offen, falls etwas ist, falls sie mich braucht, falls sie ihre Meinung ändert im letzten Moment. Denn das weiß man nicht. Sie wird wissen, dass ich da bin. Wenn es vorbei ist, wird Karlheinz den Tod feststellen und den Totenschein ausstellen. Die Geburtsurkunde liegt im Kirschbaumschrank, die Sterbeurkunde stellt das Standesamt aus. Grad, dass sie nicht schon den Termin mit dem Bestatter gemacht hat! Wenn ich heimkomme, wird meine Freundin Petra bereitstehen, meine Mutter fand auch, dass Petra die richtige ist, die hat ja selbst einiges durchgemacht mit ihrem kranken Bruder, außerdem kennt sie mich schon so lang. Auf dem Tisch liegt auch die Adressliste, ich schiebe sie etwas zur Seite, sodass der obere Rand des Papiers parallel zum unteren Rand der CDs verläuft. Ein paar Freunde von damals und meine beiden Cousinen. Die werden es nicht verstehen. Hatte ihre Mutter nicht durchgehalten bis zum bitteren Ende, schwerkrank, erst zu Hause, dann im Krankenhaus, sogar am Ende im Koma, bis der Körper, immer noch an der künstlichen Ernährung und am Atemgerät hängend, endlich aufgab?
„Man weiß doch, dass die Alten im Winter Depressionen kriegen“, wird Hella sagen, als läge die Schuld bei mir, als hätte ich meine Mutter aufhalten müssen, nur ein paar Monate, bis, sagen wir, Mai, wenn es heller und wärmer wird. Ich stehe im Schlafzimmer meiner Mutter, während sie sich fertig macht für ihre Spritze, und denke: Ja, im Mai kann alles ganz anders aussehen, und ich frage mich, ob ich ihr helfe, oder ob ich wieder nur groß und stark bin und tue, was man mir sagt.
Ich schiebe die Adressliste bis an den Rand der CDs.
Wieder im Wohnzimmer angekommen, versuche ich mir den Abdruck ihres Körpers in Erinnerung zu rufen, wie wir uns eben noch festgehalten haben, bevor sie ins Bad ging: ihre mageren Arme, die vorgeschobene Hüfte, ihre Schultern auf der Höhe meiner Rippen. Ich kriege das Gefühl nicht zusammen, ihre Kleinheit scheint übertrieben, ihre knochige Wärme. Ich muss sie noch einmal in die Arme nehmen, ihre Dimensionen genauer einlesen, aber sie ist noch im Bad, vielleicht will sie allein sein.
Der Wind wirft Regen an die Balkontür. Ich werde mich an unsere Abmachung halten, um mich muss sie sich nicht sorgen, das möchte ich ihr noch einmal sagen. Denn das hatten wir ausgemacht, als sie zum ersten Mal damit kam, als sie den Karlheinz so weit hatte, ihr seine Hilfe zuzusagen: dass ich sie gehen lasse werde, ihre Gründe nicht infrage stellen werde - wenn ich dabei sein darf. Drei Tage alles wie immer, und ich lasse dich in Frieden ziehen.
Fast drei Uhr. Auch ich ziehe den Lippenstift nach, gehe mit dem Kamm durchs Haar und schüttele es mit den Händen auf, zupfe die Bluse nach vorn. Ich bin bereit. Ihr guter Topf, der weiße Pulli sowie zwei Paar Wintersocken und die Keksdose mit den Fotos liegen neben der Eingangstür. Es klingelt.
Karlheinz meldet sich mit vollem Namen. Ich drücke den Türöffner, öffne die Wohnungstür. Über das Geländer sehe ich einen alten Mann, kahl und mit großen Ohren die Treppe herauf kommen. Anstelle des Arztkoffers trägt er einen kleinen, schwarzen Stadtrucksack. Ich strecke ihm die Hand hin, er blinzelt, sicher hat auch er vergessen, wie ich aussehe.
Hinter mir ist meine Mutter aus dem Bad gekommen. Sie sieht frisch aus, die Wangen rosa, sie strahlt Karlheinz an und nimmt ihn in den Arm, er küsst sie auf die Wange. Auch Karlheinz ist jetzt kleiner als ich, die beiden halten sich bei den Händen.
Ob er etwas trinken möchte, fragt sie ihn und schaut mich an, als er um ein Glas Wasser bittet. Er holt ein Etui aus seinem Rucksack und legt es auf die Schlafzimmerkommode, ich stelle das Wasserglas daneben. Ein Stuhl steht für ihn bereit, sie setzt sich auf das Bett. Ich stehe dabei, wie eine Halbwüchsige, zu lang und zu dünn, weiß nicht, wohin mit meinen Armen. Drei Tage sind um. Dies ist der Abschied. So oft habe ich ihn mir vorgestellt. So oft mit ihr besprochen. Zum letzten Mal sieht sie mich an, zum ihrem besorgten Blick setzt sie dieses Lächeln auf: Mach dir keine Sorgen um mich. Ihr Gesicht ist nass. Ungeschickt umarme ich meine Mutter, indem ich mich halb über sie beuge. Ich fühle die Kante ihrer Schulter in meinem Oberarm und küsse das rosa Seidenband in ihrem Haar. Ich gehe aus dem Schlafzimmer, ganz leicht angelehnt lasse ich die Tür stehen, höre die beiden miteinander sprechen. Im Wohnzimmer stelle ich die Musik an: Exsultate Jubilate, Maria Stader betritt stolz den Raum und überdeckt die Stimmen aus dem Schlafzimmer. Der Wind hat sich gelegt. Sind da noch Stimmen im Schlafzimmer? Ist es schon still? Ich gehe in den Flur, die Stader sägt an meinen Nerven. Die Tür zum Schlafzimmer ist geschlossen. Die hatte ich doch offen gelassen! Falls sie mich braucht! Karlheinz muss die Tür zugezogen haben, vielleicht hat sie ihn darum gebeten! Ich traue mich nicht, die Klinke zu drücken, vielleicht haben sie abgeschlossen, traue mich nicht, zu rufen, vielleicht ist jetzt der Moment. Vielleicht ist es schon zu spät. Aus dem Wohnzimmer jodelt Maria ihre Koloraturen. Ich möchte die Tür eintreten und gleichzeitig keinen Mucks machen, angewurzelt stehe ich vor der Tür, von drinnen höre ich keinen Laut, so sehr ich mich anstrenge. Sie haben mich ausgeschlossen, das verstehe ich, und wenn ich hier stehen bleibe, wird Karlheinz irgendwann die Tür öffnen und mir den Totenschein übereichen. Ich greife meine Tasche, reiße die Jacke vom Haken, öffne die Wohnungstür, ich stolpere, ein Kochtopf rollt über den Boden: Nur weg von hier! Im Auto geht es etwas besser. Handy und Hausschlüssel werfe ich auf den Beifahrersitz. Der Zeitpunkt, an dem ich von ihrem Tod erfahren werde, liegt in weiter Ferne. Ich halte das Lenkrad fest, drehe das Auto aus der Parklücke, hinter mir steht ihr zerbeulter Nissan. Zwischen den Ortschaften hier liegt kein halber Kilometer, trotzdem beschleunige ich auf Hundert. Das Telefon klingelt. Mit einem Seitenblick erkenne ich: "Mutter". Das ist ihr Festnetz. Das ist sie, oder es ist Karlheinz. Ich will es nicht wissen. Nächste Ortschaft: Fünzig. Das Telefon klingelt. Drei Tage waren genug. Vielleicht zuviel. Ich will heim. Es klingelt, lauter als zuvor. Ich will es nicht wissen. Ich blinke nach rechts und halte an einer verwaisten Bushaltestelle an.