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Drei-Dee
Er schrieb mit seinem Kreisschreiber an die Wand. Er merkte, dass er dabei nur einen geraden Strich hin und her zeichnen konnte, und so sehr er sich auch anstrengte: was anderes gelang ihm nicht. Da warf er einen scharfen Blick auf den Kreisschreiber. Er fand zu seinem Erstaunen, dass dieser dreidimensional war und somit ein Kugelschreiber.
Realisierend, dass er nur geträumt hatte, wachte Herr M. auf. Der Wecker würde in fünf Minuten klingeln, und er sank zurück in sein Kopfkissen, über den seltsamen Symbolismus seines Traumes grübelnd. Doch der Traum ging den Weg aller Träume: Beim Frühstück noch war er mit den seltsamen Gedanken, die er im Traum gehabt hatte, beschäftigt, doch schon beim Weg zur Arbeit vergass er sie, und es blieben nur völlig zusammenhanglose Bilder im Unterbewusstsein. Jedoch war Herr M. Biologe und Genetiker, so dass er zwei Jahre später endlich sein Traumprjekt beginnen konnte, nämlich Plattwürmer auf Plattheit zu züchten. Die Plattwurmer sind im übrigen erstaunliche Geschöpfe; an ihnen konnte man zeigen, dass Erinnerungen zum einen chemisch verschlüsselt werden können, zum anderen diese Erinnerungen an andere Plattwürmer in Form von Plattwurmsegmenten verfüttert werden können. Dieses Projekt, was viele Jahre später für viel Aufsehen sorgen sollte (und unter anderem den Gewinn dreier Nobelpreise einbrachte), begann relativ bescheiden. Schnell konnte Herr M. mit Hilfe selektiver Methoden die Plattwurmpopulation auf die Hälfte verflachen, doch nach den Anfangserfolgen gab es lange Zeit keine Fortschritte, da unter einer bestimmten Flachheit die Würmer nicht lange überlebten. Das beste Exemplar brachte es auf 0,23 cm, doch es lebte ausgewachsen nur zwei Tage. Es zeigte jedoch, durch diverse Missbildungen, einen Weg auf, um das Projekt weiterführen zu können: und zwar die Entfernung bestimmter Organe, deren Funktion extern durch Geräte erfüllt werden konnte. Mit Hilfe von Eingriffen in die Keimbahn gelang dies, auch soweit, dass die Funktionen ausgefallener Organe sogar durch noch existente übernommen werden konnten. Man hatte zu diesem Zeitpunkt die durchschnittliche Flachheit auf 0,26 cm gedrückt. Wie es bei zielgerichteten Projekten häufig (häufiger, als es in der Zeitung zu lesen ist) der Fall ist, kam ein Durchbruch in Form eines Zufalls. Man manipulierte aus Versehen die DNA so, dass die Haut eines Plattwurms eine Fehlbildung erlitt, sie fehlte auf einmal völlig. Der erwachsene Wurm floss, nach einer durchaus im Rahmen bleibenden Jugend, ständig auseinander, so dass er immer die Petrischale der Fläche nach ganz ausfüllte, aber er wurde nur 0,08 cm hoch.
Seltsamerweise hatte Herr M., als Projektleiter, noch keine klaren Aussichten von möglichen Anwendungen dieser Plattwürmer. Er dachte vielleicht an Spionagemöglichkeiten, die sich durch zweidimensionale Würmer ergeben würden, doch waren die Vorstellungen von der Realisierung solcher Pläne mehr als vage. Da ergab es sich, dass Herr M. in einer Fachpublikation einen Artikel entdeckte, in dem ein Institut seine Erfolge im Verflachen integrierter Schaltkreise vorstellte. Das Institut gab in der Fachpresse immer wieder die Meldung aus, dass man eventuell einer revolutionären Möglichkeit zur weiteren Verflachung auf der Spur war, doch liess man sich nicht weiter darüber aus. Herr M. brachte einen Kontakt zustande, und nach einmaligen Kurzschliessen entschloss man sich zur Zusammenarbeit. Und man offenbarte sich gegenseitig die Forschungsaussichten. Das andere Institut war dabei einer wirklichen Revolution auf der Spur. Integrierte Schaltkreise waren immer noch ein zweidimensionales Muster auf dreidimensionalem Trägermaterial. Durch Wegnahme einer Dimension, und zwar der Höhe, wollte man die Schaltkreise echt zweidimensional gestalten. Dabei kamen dem Institut neue Erkenntnisse der Stringtheorie zugute, man hatte vor, die Höhe, Länge oder Breite (völlig gleich) als Dimension einzurollen, was mit den meisten der zehn Dimensionen sowieso schon der Fall ist. Die Kommunikation mit dem so entstandenen Chip sollte durch elektromagnetische Strahlung erfolgen, die immer noch mit dem zweidimensionalen Gebilde interferieren konnte.
Bei den Plattwürmern war man auch bald soweit, dass sie echt zweidimensional wurden, es ging nur noch um die Lösung eines letzten Problems, und zwar zerteilten sich die erwachsenen, platten Plattwürmer ständig, wenn sie Nahrung aufnahmen und sie wieder abgaben. Doch dies Problem wurde gelöst, in dem man die Innenstruktur der Würmer soweit manipulierte, dass sie jede Nahtstelle wie mit einem Klettverschluss wieder zusammenfügten. Und dann war es soweit: Ein zweidimensionaler Plattwurm, nur in der Draufsicht zu sehen, bewegte sich durch den Raum, mit einer zweidimensionalen Kamera geschultert. Man steuerte den Wurm in einen Nebenraum, und hier zeigte sich die ungeheure Praktikabilität dieser Würmer: fähig, sich durch jede, noch so enge Ritze zu schlängeln, stellte eine solide, dreidimensionale Wand für sie kein Problem dar, da definitionsgemäss zwischen zwei Atomen immer eine Lücke ist. Notfalls könnte der Plattwurm sogar durch zwei Nukleonen durchwandern, was den eher hypothetischen Einsatz auf einem Neutronenstern ermöglichte.
Für seine Entdeckung erhielt Herr M. den Nobelpreis für Biologie, und das Institut für Halbleiter- und 2D-Technik in Person von Herrn P. den Nobelpreis für Physik. Beide erhielten 17 Jahre später noch den Friedensnobelpreis, da ihre Entdeckungen die absolute Spionage ermöglicht hatten und deshalb kein Staat mehr Informationsversprung vor anderen haben konnte. Im Zuge dieser Umwälzungen entstand das totale Gleichgewicht auf der Erde und somit das Paradies.