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Dieser Moment, wenn …
Jonas war schon da, als ich in die Schule kam. Er fläzte an seinem Tisch, Kappe auf dem Kopf, Beine auf dem Tisch, obwohl Kühnert schon im Raum war.
Kühnert war unser Mathelehrer. Ein Typ, der Menschen als Zahlen betrachtete, am liebsten komplex, potenziert oder sonstwie verwertbar. Jonas und ich waren Nullen.
„Moin Tessa“, sagte Jonas.
„Bequem so?“ Ich zog ihm die Kappe über die Augen und schob seine Beine vom Tisch. Er rutschte theatralisch auf den Boden und feixte mich von unten her an. „Echt subtiler Mathebeginn, Tessa.“ Beim Hochkommen boxte er mich auf den Oberarm. Ich jaulte, obwohl nichts weh tat. „Mach das noch mal, und du landest im Wurstwasser.“
Vorne surrte die Tafel, einmal rauf, einmal runter, das war Kühnerts Startzeichen. Auf zum Nullenkillen.
Ich schob mich hinter Jonas an den Tisch und versteckte mich hinter seinen Schultern. Wenn ich Kühnert nicht sah, sah der mich auch nicht. Außerdem mochte er lieber männliche Nullen blamieren.
Ich riss einen Zettel aus meinem Block, schrieb und reichte ihn nach vorne zu Jonas. Der las, faltete den Zettel zusammen und legte ihn ins Federmäppchen. Keine zwei Sekunden später holte er ihn wieder raus, kritzelte eine Antwort, strich sie durch, schrieb noch einmal. Schließlich zerknäulte er das Papier, um es gleich darauf zu glätten, und mit dem Schreiben und Streichen weiterzumachen, bis er den Zettel in die Hosentasche stopfte. Die nächste Viertelstunde überlegte ich mir, ob man was von Jonas Schultern ablesen konnte. Hin und wieder zuckten sie, dann zuckten sie nicht mehr, denn Kühnert stand vor uns und Jonas musste nach vorne. Eine Gleichung mit ungefähr tausend Unbekannten, jede Ziffer sorgfältig hingemalt, am Ende wartete ein fettes Gleichheitszeichen. Jonas krakelte ein paar Zahlen an die Tafel, die mit Sicherheit falsch waren. Eines war nämlich klar: Kühnert hatte ihn nicht wegen Mathe an die Tafel geholt, sondern wegen der Pädagogik. Das bedeutete, Jonas zu beweisen, dass Jonas nichts konnte, obwohl der wusste, dass er nichts konnte, wir auch und Kühnert sowieso. Mathegestrampel halt.
„Was ist das?“, fragte Kühnert und wies auf Jonas Geschreibsel.
„Zahlen?“
„Und was sollen die?“
„Ihnen einen Gefallen tun?“
Kühnert ging ans Fenster und sah hinunter auf den Pausenhof. Sein Gesicht wirkte unergründlich.
Jonas verneigte sich tief vor der Klasse. „Sie haben mich an die Tafel geholt, da wollte ich nicht unhöflich sein.“
„Das ist alles falsch, schon im Ansatz, das müsste alles weg.“
Jonas griff den Schwamm und löschte Kühnerts Gleichung.
„Nicht das. Herrgott!“ Kühnert öffnete den obersten Knopf seines Hemdes.
Überall gluckste es, gleich würden alle losprusten, was Kühnert noch mehr hasste als Nullen.
„Gib her“, sagte ich zu Melanie, meiner Tischnachbarin, riss ihr den dunkelroten Lippenstift aus der Hand, mit dem sie sich die Mathestunden vertrieb, und verschmierte ihn auf einem Taschentuch.
„Du hast sie wohl nicht mehr alle.“ Melanie holte sich den Stift zurück und betrachtete ihn, als wäre er eine plattgetretene Nudel.
Ich hustete mehrmals laut auf, holte zischend Atem und hielt das Taschentuch vor den Mund. Dann ließ ich mich auf den Tisch sinken und hustete weiter, so jämmerlich, als würde ich mir die Lunge aus dem Leib kotzen.
„Tessa, hör auf, das klingt ja furchtbar“, sagte Melanie. Dann hob sie den Arm und rief: „Herr Kühnert, hören Sie das nicht, der Tessa geht’s nicht gut.“
Kühnert kam zu uns, seine Gesicht wirkte misstrauisch. Ich glaub, hustende Mädchen waren für ihn eine unbegreifliche Nullausgabe von Amöbe. Ich röchelte, äugte zu Jonas hinüber und ließ Kühnert ein bisschen von dem Lippenstiftblut sehen. „Ich glaub, sie hustet Blut“, rief Melanie. Und Jonas schrie von vorne: „Sie hat Asthma, ganz schwer, das ist schon der dritte Anfall diese Woche.“ Ich hustete noch lauter, stand auf und schwankte zum Mülleimer. Dort sackte ich in die Knie, beugte mich über den Eimer und tat, als würde ich hineinkotzen.
„Bitte nicht“, hörte ich Kühnert. Fast tat er mir ein bisschen leid. „Sani“, röchelte ich, sah Kühnert von unten her an und hoffte, ich hätte Ähnlichkeit mit einem sterbenden Seehundbaby.
Kühnert kratzte sich am Kopf und starrte mich argwöhnisch an. Er schwitzte.
Endlich brach er ein, griff nach seinem Handy und rief im Sekretariat an.
„Können Sie jemanden vom Sanitätsdienst schicken?“ Er fuhr sich über die Stirn. „Was? Hier? Das gibt es doch nicht. Na gut, Dankeschön.“ Er legte das Handy zur Seite und starrte grimmig zu Jonas hinüber. Gleich darauf bimmelte es in dessen Hosentasche. „Sorry“, sagte er zu Kühnert und legte die Kreide zur Seite. „Muss sein. Leider. Bereitschaftsdienst.“ Dabei lächelte er und verbeugte sich noch einmal, obwohl Kühnert wie ein Kriegerdenkmal vor ihm stand. Das würde in die Annalen der Schule eingehen, wie Jonas dem Kühnert den Strom abgedreht hatte. Ich stöhnte noch ein bisschen weiter, einfach weil ich in Übung war, und damit Kühnert auf keine dummen Ideen kam, dann packte Jonas meinen Arm und brachte mich aus dem Raum. Draußen klatschten wir uns ab, fielen uns in die Arme und lachten.
„Das wäre mal subtil, wenn du an die Tafel musst und kannst es“, sagte ich.
„Nullstress“, sagte Jonas.
„Ich meins ernst. Ein zweites Mal können wir die Nummer nicht bringen.“
„Komm, lass uns eine zischen.“
Im Saniraum öffneten wir das Fenster und steckten uns eine an. Ich rauchte in tiefen Zügen, bis mir schwindlig wurde. Den Rauch wedelte ich zum Fenster hinaus. „Was ist jetzt? Du hast nicht zurückgeschrieben.“ Hinter mir quiekte es, erschrocken drehte ich mich um. Ich wusste, es war Jonas Stimme, aber es erinnerte mich an den Hund, der vor unserem Haus überfahren worden war. Jonas kniff die Augen zusammen.
„Gehst du jetzt mit mir zum Abschlussball?“
„Ich wollte mit einem Mädchen gehen.“
Es dauerte, bis der Satz im Gehirn angekommen war. Dort drehte er einen Kreis, ganz langsam, schließlich rutschte er hinunter. Direkt in den Magen.
Jonas wischte fahrig über sein T-Shirt, als haftete dort ein Haufen Tabakkrümel.
„Ein Mädchen? Und was bin ich? Ein Eichhörnchen?“
„So meinte ich das nicht, ach Scheiße, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Wir sind doch Freunde.“
*
Ja, wir sind Freunde, Jonas und ich. Seit Babyzeiten. Ich wusste alles von ihm, wahrscheinlich kannte irgendein Frontallappen in meinem Schädel sogar seinen ersten Zahn. Das hatte ich jedenfalls immer gedacht, bis er in die Tanzschule „Bösel“ reinspaziert kam. Angemeldet, genauso wie ich. Und keiner wusste vom anderen.
Der Unterricht hatte noch nicht begonnen, aber die Tanzlehrer hatten sich schon in der Mitte des Saales postiert. Ich saß zwischen einem Haufen bauchfreier Mädchen mit knallengen Jeans und blickte nachdenklich auf meine weiten Hosen und das T-Shirt, unter dem mein Busen wie zwei Kirschkerne wirkte, während den Mädchen rings um mich die Brüste wie Äpfel aus dem rosa Stoff sprangen. Scheiße, dachte ich.
„Was machst du hier?“, fragte ich Jonas.
„Zweihundert Euro.“
„Was?“
„Ich krieg zweihundert Euro von meiner Mutter, wenn ich tanzen lerne. Ich soll mal was andres machen, als immer nur Brücken sprayen.“ Er schüttelte den Kopf. „Mit den zweihundert Euro kaufen wir uns neue Farben. Und du?“
„Umgekehrt“, sagte ich.
„Du musst zweihundert Euro zahlen?“
„Das war ein Scherz.“ Ich zog die Luft ein, bis es im Hals kitzelte. „Ich mein, ich zahl ganz normal. Ich wollte einfach …“ Meine Stimme kiekste, aber Jonas bemerkte das nicht, seine Augen waren durch den Raum gestreift, während ich sprach. An einer Stelle blieb sein Blick hängen. Ich drehte mich um, ein schlankes Mädchen saß dort, mit Locken bis zum Hintern.
„ … tanzen“, vollendete ich, aber Jonas war schon aufgestanden und in Richtung Lockenmädchen gelaufen, als hinge er an einer langen Angel und wurde jetzt eingeholt.
Ich blieb an meinem Platz. Den Rest des Abends beobachtete ich, wie er ein Mädchen nach dem anderen aufforderte, mit ihnen tanzte, und wie er immer wieder zu dem Mädchen mit den langen Locken zurückkehrte. Ihre Blicke strahlten, wenn sie aufeinander zuliefen.
Irgendwann an diesem Abend, als ich über der Schulter eines Jungen hing, der Angst vor mir zu haben schien, und Jonas nachstarrte, der durch die Mädelsschar brummte wie eine Hummel durch einen Kasten Hyazinthen, begriff ich, dass ich nur mit Jonas tanzen wollte. Mit sonst niemandem.
Hinterher, als alle weg waren, setzte sich die Tanzlehrerin neben mich. Sie sagte, dass sie Tanzassistenten besorgen würden, nächstes Mal werde alles besser, und natürlich gebe es keine Kleiderordnung, aber nur so als Rat unter Frauen, ob nicht etwas Weiblicheres? Wenigstens beim Abschlussball?
„Nur über meine Leiche“, sagte ich, stopfte die Haare unter das Cappy und ging.
*
„Freunde, ja klar, das seh ich“, sagte ich. „Und noch was, das tat weh eben. Ich tanz am besten von allen Chicas. Aber bei Kühnert darf ich dir helfen? Ja? Das ist scheiße.“
Jonas fasste mich am Arm. „Ich wollte dir nicht weh tun, ist nur, weil … “ Dann drehte er sich einfach um und ging.
Ich auch, aber nach Hause, obwohl die Schule nicht zu Ende war, und mein Asthmaanfall jetzt bestimmt aufflog.
Dass Jonas doch noch eine Fünf gekriegt hatte von dem bescheuerten Kühnert, erfuhr ich erst am nächsten Tag von Melanie.
In der zweiten Stunde schob sie mir einen Zettel zu. „Okay“, stand darauf in Bubbelschrift. Darunter „Joni“, mein Babyname für Jonas. Dann: „Mauer Osthafenbrücke“. Das war Jonas Projekt seit fast einem Jahr.
Unseren Namen taggen vor den spiegelnden Fensteraugen der EZB mit ihren ungefähr hundert Zivilbullen pro Quadratzentimeter. Auf die Wand von der Osthafenbrücke runter zum Mainufer.
Ich hatte immer abgelehnt, bin ja nicht lebensmüde, außerdem wär da keine Zeit für ein anspruchsvolles Piece in meinem Stil.
In der Pause passte Jonas mich ab. „Und?“, sagte er.
„Wie kommt's? Obwohl ich ja kein Mädchen bin?“
„Der Kühnert hat mir eine Fünf gegeben, als du weg warst.“
„Toll. Dann geh doch mit dem Kühnert zum Abschlussball.“
Jonas Oberlippe zuckte.
„Doch, sieht bestimmt geil aus, zwei Arschgeigen Arm in Arm. Und alle im Saal heben Pappschildchen mit Fünfen drauf.“
„Quatsch nicht rum! Der Typ braucht eine Abreibung.“
„Warum Osthafenbrücke?“
„Der Kühnert fährt jeden Tag mit dem Fahrrad dran vorbei.“
„Willst du jetzt eine Kunstnote von ihm oder was? Der Sack ist Mathelehrer.“
„Wir schreiben was, was ihm richtig stinkt, Zahlenfascho Kühnert, keine Ahnung. Außerdem hat der, als du weg warst, gesagt, dein Asthma käm vom Sprayen und wenn es nach ihm ginge, müssten Sprayer Klos putzen.“
„Arsch.“
„Siehst du?“
„Also kein Piece dieses Mal“, überlegte ich.
„Nein, der soll es lesen können.“
„Aber dann von ganz oben.“
„Nicht ungefährlich.“
„Genau deswegen.
„Schwierig. Hast du selbst immer gesagt.“ Jonas wiegte den Kopf hin und her, aber seine Augen funkelten.
„Doch, das geht. Die Wand hat genügend Griffe, an der Seite sind Rohre. Ich hab mir das angeschaut. Stell dir einfach den Spruch vor. Ganz oben auf der Mauer, darunter unsere Tags. Und jeder unten auf dem Radweg sieht es, wenn er vorbeifährt.“ Ich lachte voller Vorfreude. „Und noch was, Jonas, den Spruch denk ich mir aus. Der Kühnert darf uns nichts beweisen können.“
„Du bist die Beste. Wann?“
„Sonntagnacht. Halb drei. Aber vorher Gegend checken. Und denk dran, was du mir versprochen hast.“
*
Unser Atem bildete Wölkchen, als wir mit dem Rad den Main entlang fuhren. Dunkle Kleidung, kein Licht, die Rucksäcke mit der Ausrüstung baumelten auf dem Rücken.
Die Räder warfen wir in ein Gebüsch, bevor wir den Hang hinauf zur Brücke schlichen.
Kurz davor machte ich mich fertig. Kapuze, Maske, Stirnlampe und der Klettergurt von meinem Vater. Die Cans und ein paar Caps steckte ich zu den Handschuhen in die Bauchtasche. Am äußeren Rand der Mauer fixierte ich das Seil am Geländer, schlang es durch die Anseilschlaufe am Klettergurt und wand es an einer zweiten Stelle ein paar Mal um den Handlauf. Jonas würde das Seil weiterleiten. Im Notfall bewahrte mich das vor einem Sturz. Ich schaute nach unten. Das Gestrüpp am Fuß der Mauer sah aus wie verfilzte Haarbüschel. Von dort aus fiel der Hang sacht ab, hinunter zum Fahrradweg und zum Main, der im Mondlicht glitzerte. Ein kühler Wind strich die Mauer zu mir hoch. Ich schauderte, dann schwang ich mich über das Geländer. Ich stieg an dem Leitungsrohr am Rande der Mauer hinab, ungefähr zwei Meter, bis mein rechter Fuß das Sims tastete, von dem aus ich arbeiten wollte.
„Okay?“ Jonas Stimme war kaum zu hören. Nur sein Kopf hob sich als blasses Oval gegen den Himmel ab.
„Okay.“
Wenn jemand auch nur in die Nähe der Brücke kam, würde Jonas sich bemerkbar machen, würde pfeifen, zu mir herunterrufen, irgendwas, damit ich Zeit hatte, abzuhauen.
Vorsichtig schob ich mich seitlich das Sims entlang, während Jonas Seil gab, presste meine Hände an die Mauer, verschmolz mit ihr. Ich spähte zum Mauerende zurück. Ja, weit genug für die ersten Worte. Ich lehnte mich gegen die Wand, krallte mich mit einer Hand fest, mit der anderen fingerte ich die Handschuhe aus der Tasche. Keine Chance, sie anzuziehen. Ich ließ sie einfach fallen. Vielleicht würde morgen eine Kanadagans damit ihre Kinder beglücken.
Den anderen Arm hob ich hoch, die Spraydose darin wie einen Pokal, und atmete tief aus und ein. Am liebsten hätte ich gesungen. „Knebelt uns, fesselt uns, die Antwort bleibt bunt.“ Aber das wäre zu laut. Trotzdem, das hier war der Anfang von etwas Großem, ich summte die Melodie und schrieb: „Dieser Moment“. Klare, gut lesbare Schrift, nichts Schnörkeliges. Große Schwünge, markante Außenlinien, ein paar signalrote Schattierungen; mehr nicht. Das würde man gut sehen. Von Jonas hörte ich nichts. Ich verstaute alles und zog am Seil. Er gab Seil nach und ich trippelte weiter. Schritt für Schritt, die Hände an die Mauer gepresst. Etwas bröckelte unter meinem linken Fuß. Ich rutschte, krallte meine Hände noch fester, fand Halt. Der Schreck war mir bis in die Fingerspitzen gezuckt. Ich wischte mir über die Stirn, packte alles wieder aus und sprühte „wenn Kühnert“ an die Wand.
Irgendwo auf dem Main schrie etwas. Nur ein Vogel. Meine Klamotten klebten an mir, obwohl es kühl war. Sogar zwischen den Beinen fühlte ich mich feucht, als hätte ich in die Hose gemacht.
Von oben drangen Geräusche zu mir her. Schritte? Eine Autotür? „Jonas?“ flüsterte ich und spähte hoch, aber ich sah nur die Mauer über mir aufragen und das Seil. Bleib mal subtil, sagte ich mir, das geht schon alles. Jonas passt auf. Ich zog, um Jonas Signal für mehr Seil zu geben, spürte, wie es nachgab, und schlich weiter, bis ich Zug merkte. Als nächstes sprühte ich „merkt dass“ an die Wand, und dann, gerade, als ich mich entspannte und weiterwollte, zog sich das Seil noch fester. Fast hob ich ein bisschen ab. Eine Sprühflasche rutschte aus der Bauchtasche und polterte hinunter. Dann Schritte, eindeutig Schritte, die sich entfernten. Joni? Bleib jetzt verdammt subtil, Baby, du hast dich bestimmt nur verhört. Ich presste mich an die Mauer, zog an dem Seil, wollte mich das Sims zurückschieben Richtung Rohr, aber ich kam keinen Zentimeter vorwärts. Das Seil hatte viel zu viel Spannung. Ich pappte an der Wand wie eine Fliege, die man platt geklatscht hatte.
Dann wieder Schritte, und schließlich tauchten über mir zwei Köpfe auf. Da war kein Pfeifen gewesen, keine Warnung, nur ein paar Geräusche. Jonas hatte mich am Seil verfaulen lassen.
„Achtung. Tun Sie nichts Unüberlegtes. Bleiben Sie ganz ruhig. Klettern Sie vorsichtig hoch. Wohin sollen wir das Seil legen?“ Die Stimme war tief und kratzig. Ich spähte hoch, sprühte schnell drei Punkte hinter „dass“, rief „zum Rohr“ ließ die Can fallen und trippelte vorsichtig wieder zurück, den gesamten Weg, an meiner Schrift entlang zu dem Leitungsrohr, während die Männer von oben sorgfältig Seil nachgaben. Dann kletterte ich hoch.
Zwei Polizisten standen vor dem Geländer. Mit Schwung zerrten sie mich über das Metall, drehten meine Arme auf den Rücken und rissen mir die Maske vom Kopf. Danach wurden sie freundlicher.
Ich schwieg, als sie mich mitnahmen, schwieg auch, als sie fragten, ob ich wirklich alleine gewesen sei. Gab bloß meine Personalien an und verlangte nach einem Anwalt, obwohl ich gar nicht wusste, ob es Sprayeranwälte gab. Den beiden Polizisten war das egal, sie riefen sowieso meine Eltern an.
Aber ich blieb echt subtil so insgesamt. Nur, als der eine Polizist fragte, ob ich nicht zu jung zum Sterben sei, und zusammenzuckte, als ich bei der Frage nach meinem Vornamen Tessa sagte, musste ich erst lachen und gleich darauf ein bisschen weinen.
Mein Fahrrad ließ ich liegen, damit sie Jonas nicht auf die Spur kamen.
*
Am nächsten Morgen musste ich in die Schule, obwohl ich nicht geschlafen hatte. Die Bullen hatten mich nach Hause gebracht und meinen Eltern übergeben. Eigentlich waren die beiden Kerle ganz nett, sie fütterten mich sogar mit Wurstbrötchen und Kaffee, trotzdem ein Wunder, dass sie mich nicht wie ein Päckchen verschnürten. Das holten dann meine Eltern nach, jedenfalls geistig, und jetzt habe ich nicht nur eine Anzeige wegen Sachbeschädigung am Hals, sondern Hausarrest bis an mein Lebensende und wahrscheinlich krieg ich noch zehn Jahre nach meinem Tod Taschengeldkürzung. Aber was soll's. So lang ist das auch wieder nicht, ich sterbe vermutlich früh bei meinem Lebenswandel und den ganzen Dämpfen. Am meisten aber ärgerte mich der unvollständige Spruch. Jetzt stand an der Wand nur: „Dieser Moment wenn Kühnert merkt dass …“ Ich hoffte, dass Kühnert in den Auslassungspünktchen eine philosophische Arschlochbeschimpfung erkannte, aber wahrscheinlich war das zu subtil für Mathelehrer.
Jonas kam nicht an diesem Tag. Auch nicht am nächsten. Sein Handy war abgeschaltet, seine Mutter sagte, er sei krank.
Erst am dritten Tag, Mathe war schon vorbei, tauchte er auf, mit gesenktem Kopf, murmelte etwas und verließ als erster den Raum, als es blinkte.
Ganz hinten zwischen Schule und Park, wo wir immer heimlich unser Zigarettchen rauchten, traf ich ihn.
„Was war?“, fragte ich.
„Die Bullen kamen.“
„Echt?“
Er blickte nach unten auf den Boden. Keine Ahnung, was er da sah. Vielleicht zählte er Rotzepfützen?
„Warum hast du mich nicht gewarnt?“
„Das ging alles so schnell.“
Immer noch blickte er nach unten. Ich stieß ihn vor die Brust. „Du hättest mich warnen müssen, du Arsch.“
„Ich weiß.“ Endlich blickte er mich an. Er sah krank aus, obwohl ich Hausarrest hatte und einen Prozess vor mir und Eltern, die sich in Gorillas verwandelt hatten. „Hast du den Bullen was gesagt?“
Ich schnaubte. „Nein.“ Noch einmal stieß ich ihn. „Ist das alles was dich interessiert? Ob ich was gesagt habe?“
„Nein.“
„Ich hab übrigens eine Scheißanzeige am Hals. Und mein Fahrrad ist weg. Und deins?“
„Hab ich noch mitgenommen.“
„Ach.“
„Die hätten mich doch sonst gekriegt.“
Ich stieß ihn noch einmal vor die Brust, mit voller Kraft, er ließ alles mit sich machen, fiel einfach nach hinten wie ein Sack. „Ich geb dir die Hälfte zu der Strafe. Du kriegst auch mein Rad.“ Er sah ziemlich albern aus, wie er von unten zu mir hochäugte.
„Darum geht’s doch nicht“, sagte ich, „du bist abgehauen.“
„Ja.“
„Hmmm“, sagte ich. Und dann sah ich ihn an. „Am 19. ist der Abschlussball. Vielleicht ziehe ich sogar ein Kleid an.“
„Ja“, sagte er.
„Kannst du immer nur Ja sagen?“
„Nein.“
„Was jetzt?“ Ich setzte mich neben ihn auf den Boden und fasste ihn am Arm.
„Ich kann nicht mit dir gehen“, sagte er, „es geht einfach nicht. Jetzt noch viel weniger.“ In Jonas Augen lag dunkles Glitzern.
Ich sah auf den Boden. Da waren gar keine Rotzepfützen, sondern schwarze Muster und Abdrücke von Schuhsohlen und Steinchen, die sich zu fremdartigen Zufallstags verschlangen.
„Macht nichts“, sagte ich. Meine Stimme fühlte sich fremd an. „Macht ja nichts.“
Ich plante, „Scheiß auf Jonas“ auf alle Brücken Frankfurts zu sprühen, und die berühmteste und jüngste hessische Taggerin ever zu werden, ich wollte sogar ein Riesenplakat aus dem obersten Fenster der EZB hängen, auf dem „Jonas ist Verräter“ stand. Das machte ich dann doch nicht.
Die Tanzstunde aber habe ich geschmissen. Mag einfach keine Kleider.
Can: Sprühdose / Cap: Sprühventil / Piece: mehrfarbiges, aufwendiges Bild