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Thema des Monats Die Typen, bei denen man wegsieht

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11.07.2008
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Die Typen, bei denen man wegsieht

"....Zugfahrt endet dort. Wir bitten alle Fahrgäste auszusteigen. Auf Wiedersehen." Der Lautsprecher knackte, als sich die automatische Fahrtzielansage abschaltete.
Er schreckte hoch und wusste im ersten Moment nicht, wo er war. Es dauerte einen Augenblick, bis ihm die Reihenfolge des Abends wieder einfiel. Betriebsfeier, Weihnachtsmarkt, Glühweinstand, Straßenbahn.
Eine kalte, feuchte Spur zog sich von seinem Mundwinkel bis zum Hals. Angeekelt stellte er fest, dass es Speichel war. Normalerweise trank er nur wenig Alkohol, geschweige denn heißen, gezuckerten Billigwein, der aus einem Tetrapack kam. Kein Wunder, dass er so ausgeknockt worden war.
Was hatte die Durchsage da gerade von sich gegeben? Die nächste Haltestelle war die Endstation? Mit dieser Linie hätte er eigentlich nur vier Stationen fahren müssen. Er wusste nicht einmal, wie viele Haltestellen es bis zur Endstation waren.
Na toll! Ich hab die ganze Strecke gepennt.
Und wie spät war es überhaupt? Seine Uhr zeigte 00.09.
„Ach du Scheiße!“, murmelte er. Er hatte über eine Stunde geschlafen. Zusammengesunken, ans Fenster gelehnt, mit Sabberfäden am Mund. Wie die versoffenen Penner, die man manchmal in der Bahn sah. Die Typen, bei denen jeder die Nase rümpfte und dann schnell wegsah.
Heute jedoch hatte er einen Grund zum Feiern und Trinken gehabt. Es war nämlich nicht jeder aus seiner Firma mit einer dicken Gratifikation und Beförderung zum Chef der IT in den Weihnachtsurlaub geschickt worden.
Zwangsläufig musste er an seine Mutter und ihre Tiraden über seine Faulheit und Dummheit denken, wenn er nicht immer die besten Noten erreicht hatte. Wie sie ihm immer wieder prophezeit hatte, dass er als Penner unter einer Brücke enden würde. Wenn sie nur wüsste, was sie damit bei ihm ausgelöst hatte. Wann immer er seit dem einen Obdachlosen oder Bettler sah, packte ihn ein beinahe körperlich spürbarer Hass. Sein Verstand trat ihm dafür regelmäßig in den Hintern. Ein anderer Teil aber wurde wieder zu dem eingeschüchterten und ängstlichen Kind, dass von der Wut seiner Mutter regelrecht erschlagen wurde. All die Versagensängste, der Zorn über die ungerechten Strafpredigten, seine Enttäuschung und Trauer verwandelten sich in diesen Hass auf irgend so ein armes Schwein. Er musste nur daran denken und schon konnte er ihn wie einen dicken, bitteren Kloß in seinem Hals spüren. Egal, ob er zum jüngsten IT-Chef in der Geschichte seiner Firma befördert worden war, in Zukunft einen Mitarbeiterstab von 15 Personen unter sich hatte oder sein Monatsgehalt schon jetzt höher war als das, was seine Eltern jemals verdient hatten.
Nicht schlecht für so ein "Nichtsnutz", nicht wahr?!, sagte er höhnisch zu sich selbst. Dabei fiel ihm auf, dass er in die alte Marotte seiner Kindheit zurückgefallen war, Selbstgespräche zu führen. Etwas verlegen blickte er sich um. Es befand sich jedoch kein anderer Fahrgast in dem Abteil. Offenbar war er der einzige, der bis zur Endstation fuhr.
Wahrscheinlich kommt die nächste Bahn erst in fünf Stunden oder so. Super, jetzt kann ich mir ein Taxi suchen.
Resigniert sah er aus dem Fenster. Nur stockdunkle Nacht. Nicht mal Straßenlaternen, Häuser oder Autos. Es vergingen fünf Minuten.
Herrgott nochmal, wo zum Teufel ist denn diese scheiß Endstation? In Grönland?
Endlich wurde die Bahn langsamer und hielt an.
Er stand auf, ging zur Tür und drückte den Öffner. Sie blieb zu. Ärgerlich sah er sich um. Neben der Tür befand sich eine rote Notfallsprechanlage, mit der man den Bahnfahrer erreichen konnte. Allerdings war jeder Missbrauch strafbar und wurde zur Anzeige gebracht. War das hier schon ein Notfall? Eine Strafe wegen Missbrauchs der Notrufanlage hätte die ohnehin schon vermurkste Rückfahrt perfekt abgerundet.
Im vorderen Bereich des Abteils glitt eine Tür auf. Ein großer Mann mit einer roten Bahnmütze und einem fleckigen Blaumann kam herein und ging zielstrebig auf ihn zu.
Er sah dem Burschen ins Gesicht. Dessen Augen waren zusammengekiffen und der Mund zu einem grausamen Lächeln verzogen. Er hatte den Kopf nach vorn geschoben und seine Arme leicht angehoben. Der Kerl erinnerte ihn an einen brutalen Schläger, aber nicht an einen typisch gesetzten, gemütlichen Bahnfahrer.
„Entschuldigen Sie, ich hab vorhin meine Haltestelle verpasst, und jetzt ...“
„Und wie du die verpasst hast, Arschloch!“ Der Mann blieb kurz stehen, zog einen großen Klauenhammer mit einem gelben Stiel aus seinem Overall und grinste ihn an. Dann dehnte er geräuschvoll knackend seine Nackenmuskeln.
„Ist das hier Versteckte Kamera? Also ich finde das nicht komisch!“
„Ich finds saukomisch.“
Der Bahnfahrer kam näher. Und dabei setzte er seine Schritte jetzt kräftig und mit Schwung auf. Der Boden dröhnte unter seinen schweren Arbeitsschuhen. Bei jeder Haltestange, an der er vorbeiging, schlug er mit dem Hammer dagegen. Ein rhythmisches, metallisches Klingeln erfüllte das Abteil.
Das ist irgendein Scherz. Jeden Augenblick kommen meine Arbeitskollegen breit grinsend aus einem Versteck, umarmen mich und klopfen mir auf die Schulter. "Der neue IT-Chef muss sowas aushalten können, HaHaHa!"
„Was wollen Sie von mir? Das ist wirklich nicht mehr lustig.“ Trotz allem versuchte er, seiner Stimme einen normalen Klang zu geben. Schließlich wollte er auf der nächsten Betriebsfeier, wo dieser Streich ja unweigerlich auftauchen würde, nicht wie das letzte Weichei dastehen.
Er zog sein Handy und hielt es drohend in die Luft.
„Ich bin für jeden Spaß zu haben, aber jetzt reichts. Hören Sie auf oder ich rufe die Polizei.“
Der Kerl mit dem Hammer stieß ein leises Lachen aus, bei dem er seine Zähne fletschte.
„Nein, tust du nicht.“
Dann sprang er vor und knallte ihm mit einem harten Schlag das Handy aus der Hand. Plastikfetzen splitterten in alle Richtungen, als das Telefon an die Wand flog.
Mit einem Schrei zuckte er zurück und taumelte von dem Verrückten weg. Dann warf er sich herum und rannte zur Tür. Hektisch drückte er auf den Öffner. Nichts. Er riss am roten Griff des Notfallöffners, doch er konnte ihn nicht bewegen. Verzweifelt zerrte er daran herum. Er merkte nicht, dass er wimmerte.
Das ist alles nur ein Witz! Das ist alles nur ein Witz! Das ist alles nur ein Witz!
Der Irre im Blaumann warf den Kopf in den Nacken und stieß ein langgezogenes Heulen aus. Wie ein Koyote oder Wolf. Dabei trampelte er mit seinem Stiefel auf den Boden und drosch den Hammer gegen die nächste Haltestange.
"Ich liebe das, wenn ihr merkt, dass ihr nicht raus könnt!"
„Oh Gott, was wollen Sie von mir? Ich hab Ihnen doch überhaupt nichts getan. Lassen Sie mich in Ruhe. Warum tun Sie das?“
„Weil’s mir Spaß macht.“
Der Bahnfahrer schlug ihm mit dem Hammer wuchtig auf den Arm. Irgendetwas knackte mit einem hässlichen, knirschenden Geräusch. Eine weiße Schmerzwelle zuckte vor seinen Augen und er schrie aus Leibeskräften auf. Dann stolperte er über seine Füße und knallte der Länge nach auf den Boden. Als er sich winselnd aufrichten wollte, spürte er einen heftigen Schlag an seinem rechten Knöchel und hörte wieder ein dumpfes Knacken. Dieses Mal schrie er nicht mehr, sondern grunzte nur noch. Sein Fuß fühlte sich an, als wäre ein dicker, heißer Umschlag darumgewickelt worden. Merkwürdigerweise schmerzte es gar nicht.
Der Bahnfahrer stieg mit weiten Schritten über ihn hinweg, bis er über seinem Kopf stand.
„So alle drei, vier Jahre gönn ich mir das mal. Mein persönlicher Adventskalender.“
„Es gibt Zeugen. Mich haben zig andere Leute hier im Zug gesehen.“
Mit einem heftigen Tritt in die Rippen brachte der Bahnfahrer ihn zum Schweigen.
„Kein Schwein hat auf dich geachtet.“
Mit verschwommenem Blick und seltsam belegter Zunge zeigte er zur Decke des Abteils.
„Hier sind überall Kameras. Damit kommst du nicht davon.“
„Bin ich bis jetzt jedes Mal.“
Der Bahnfahrer beugte sich hinunter, zerrte ihn an den Haaren ein Stück vom Boden hoch und hob den Hammer.
„Frohe Weihnachten!“
Er kniff die Augen zusammen und wartete auf den harten, kurzen Schlag, der seinen Schädel zertrümmern und damit sein Leben beenden würde.
Ein Schlag erfolgte. Kurz und hart. Aber gleichzeitig hörte er das splitternde Bersten von Glas und ein überraschtes Grunzen. Im nächsten Moment ergoss sich der eiskalte Schwall einer scharf nach Alkohol riechenden Flüssigkeit über sein Gesicht.
Ängstlich riss seine Augen wieder auf.
Der Bahnfahrer hielt sich an einer der Haltestangen fest und stierte verwirrt auf den Boden. Sein Kopf und das Gesicht waren blutüberströmt.
Hinter ihm stand ein Mann mit einem dichten Bart und langen Haarsträhnen, die unter einer fleckigen Baseballmütze hervorquollen. In seiner Hand hielt er den abgebrochenen Hals einer Wodkaflasche. Scharfe, schartige Spitzen ragten daraus hervor.
„Lass den Mann in Ruhe, du kranke Sau.“ Die Stimme des Bärtigen klang zittrig und hoch. Sie stand in krassem Gegensatz zu der tiefen, röhrenden Stimme des Bahnfahrers. Mühsam richtete er sich auf und hob drohend seinen Hammer.
„Wer bist denn du, du Scheißer?“ Schwankend torkelte er einen Schritt auf ihn zu. Er blinzelte dabei und versuchte, das Blut aus seinen Augen zu bekommen. Dann spuckte er eine große Ladung blutdurchtränkten Speichel auf den Boden.
„Dann eben zuerst du, du Held. Und danach nehm ich mir das Weichei am Boden vor. Ich schwör dir, wenn ich mit dir fer...“
Der Bärtige stieß einen Schrei aus und sprang nach vorn. Mit aller Kraft rammte er dem Bahnfahrer die abgebrochene Flasche in den Hals. Dann riss er sie heftig nach links und rechts.
Der Bahnfahrer zuckte zusammen und versteifte sich ruckartig. Der Arm, den er mit dem Hammer in der Hand erhoben hatte, sank langsam und kraftlos herab. Klappernd fiel der Klauenhammer zu Boden. Dann drehte der Bahnfahrer eine schwankende Pirouette, während sein Blut in einem dicken Schwall über Sitze, Haltestangen, Scheiben und den Boden spritze. Er blinzelte immer noch überrascht. Jedoch machte er keine Anstalten, sich irgendwie die grauenhafte Wunde an seiner zerfetzten Kehle zuzuhalten. Er schrie auch nicht oder röchelte. Er stand einfach nur mitten im Gang des Abteils, blinzelte immer wieder und weigerte sich zu sterben. Schließlich fügte sich jedoch zumindest der Körper des Bahnfahrers seinem Schicksal, als er genug Blut verloren hatte. Wie ein nasser Sack fiel er in sich zusammen. Zuerst auf seine Knie, dann folgte sein Oberkörper auf den Ellenbögen und schließlich knallte er mit seinem Gesicht voran auf den Boden.

Er spürte, wie jemand hartnäckig an seiner Schulter rüttelte.
Was für ein kack Traum! Verdammter Glühwein!!
Eine scharfer Schmerz schoss durch seinen Arm. Röchelnd schreckte er hoch.
„Ruhig, Mann! Ich will dir helfen. Ich hab diesen Irren plattgemacht. Oh Scheiße, ich glaube, ich hab den wirklich plattgemacht. Oh Scheiße!“
„Wer... wer sind Sie?“ Ein scharfer, metallischer Geruch zog durch das blutverschmierte Abteil. Er konnte jedoch noch etwas anderes riechen. Einen muffigen, leicht ranzigen Gestank wie von einer alten Hundedecke. Es dauerte einen Moment, bis er bemerkte, dass der Mief von der zerschlissenen Jacke ausging, mit der der Bärtige ihn zugedeckt hatte.
„Wir... also ich und meine Freundin, wir pennen manchmal in so nem Bahnschuppen hier, ne? Und da ham wir gesehen, wie der Wichser da sich zuerst nen Blaumann angezogen hat und dann mim Hammer auf dich los ist, weißte. Und da hab ich mir gedacht, dass ich dir helfen muss. Und meine Freundin is' solange die Bullen am Holen. Wir ham kein Handy, aber da hinten sind so Häuser, weißte?“ Der Bärtige sah zaghaft zu dem toten Bahnfahrer hinüber.
„Ey, ich wollt’ den nich' umnieten. Scheiße, echt nich'!“
Träumte er, oder waren das wirklich Sirenen, die er da am Rand seines schwindenden Bewusstsein hörte, während er wieder wegdämmerte?
„Danke.“, nuschelte er undeutlich.
„Häh? Was?“ Der Bärtige beugte sich zu seinem Ohr runter.
„Danke, dass Sie nicht zu den Typen gehören, die wegsehen.“

 

Luigi!

Danke für dein Feedback - schade, dass du mein Ende zu pathetisch gefunden hast. Aber Hey - es ist ja schließlich Weihnachten gewesen;)!

Viele Grüße vom Eisenmann
lakita

Hallo lakita!

Vielen Dank auch für dein Feedback und deine ausführlichen Anmerkungen. Es freut mich, dass ich dir einen Grusel mit meiner Geschichte bereiten konnte. Insbesondere freut es mich, dass dir das Ende gefallen hat - in den vorherigen Versionen war das wirklich ganz anders und alles andere als ein Happy-End!!:)

Du hast Recht, der Sprachstil des Obdachlosen ist nicht so gut gelungen. Ich wollte auch sprachlich deutlich machen, dass es sich eben um einen "Penner" handelt. Werd ich aber noch nachbessern. Vielen Dank auch für deine stilistischen Anmerkungen - die werde ich umgehend einbauen. Echt krass, wie sehr man blind gegenüber den eigenen Fehlern ist, wenn man so nah und so intensiv an einem Text arbeitet!;) Da ist es natürlich umso besser, wenn aufmerksame Leser und Kritiker wie ihr dann auf Fehler hinweist!:thumbsup:

Viele liebe Grüße wünscht der Eisenmann

 

Hallo Neutronenstern,

vielen Dank für dein Lob und die Anmerkungen. Es freut mich, dass ich dich trotz des Anfangssatzes nicht für den Rest der Geschichte verschreckt habe!:)

Es stimmt, dass die Caharaktertiefe der Figur in zunehmenden Maße unter der Kürze der Geschichte leidet. Anfangs habe ich mich mehr auf die Figur konzentriert und später sollte mehr die gewalttätige Geschichte in der Bahn im Vordergrund stehen. Ich wollte die Geschichte insgesamt temporeich und dabei relativ kurz halten - und das ging/geht dabei leider wohl zu Lasten der Figuren.

Trotzdem Danke nochmal für deine Anmerkungen.:)

Viele Grüße
Eisenmann

 

Hallo Eisenmann,

mir gefällt deine Geschichte sehr gut, auch dass der Bahnfahrer so viel redet und sich erklärt, finde ich nicht schlimm. Es gibt solche und solche Psychopathen ;)
Was mich etwas stört ist, dass der Protagonist denkt, dass eine Anzeige diesen Abend perfekt abrunden würde...das klingt, als ob der ganze Abend negativ gewesen sei. Dabei war es doch ein guter Tag? Ich finde irgendwie seine Gedanken und Gefühle passen nicht so ganz dazu, er müsste doch stolz, glücklich sein?
Trotzdem hat mir die Geschichte gefallen, vor allem der brutale Bahnfahrer an der dunklen Endstation :)

Grüße Ann

 

Hallo Ann,

vielen Dank für deine Anmerkungen und dein Feedback. Du hast recht mit deinem Einwand, der Prot klingt so, als wäre er über den Tag verbittert. Eigentlich sollte sich das "perfekt" nur auf die verkorkste Rückfahrt beziehen, aber es stimmt schon, das klingt zu negativ. Ich änder das gleich mal ab!

Viele Grüße,
Eisenmann

 

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