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Die Träne
Es ist ein kalter, rauer und sehr ungemütlicher Abend im Winter. Auf dem Lande hausend setzt sich gerade das Ehepaar an den Tisch. Abendbrot. Während der Ehemann sich ein Wurstbrot zubereitet, beobachtet sie ihn. Mit gefaltenen Händen und leicht errötenden Backen lächelt sie ihn vage an. Er bemerkt es nicht. Die Uhr tickt. Es ist angenehm warm im Raum. Draußen ist es kalt, wenngleich von bezaubernd-naturalistischer Schönheit. Sie seufzt leicht auf. Er bemerkt es nicht. Das Brot belegend schaut er vorsichtig zu ihr herüber. Ein Lächeln ziert sein Gesicht. Doch nur sehr kurz und von obligatorischer Bedeutung. Sie streckt vorsichtig ihre linke Hand nach vorn. Seine liegt auf dem Tisch. Vorsichtig und langsam tastet sie ihre Hand nach vorn um seine zu berühren und zu streicheln. Er lässt es zu. Reagiert jedoch nicht. Wieder seufzt sie leise auf. Nach seinem Wohlbefinden wolle sie sich erkunden, doch bleibt sie stumm sitzend. Er legt nun das Brot beiseite und schaut sie an. Tief in die Augen blickend greift auch er nun ihre Hand und streichelt sie ebenfalls. Die Uhr tickt. Ihre Lippen bewegen sich - doch die Stimmbänder erzeugen keinen Ton. "Ich liebe dich" hatte sie gesagt, die Lippen nur bewegend, doch er vermag es zu verstehen. Erneut lächelt er kurz und vorsichtig. Fast eine Minute blicken sie sich in die Augen. Dann schlägt es 8 Uhr abends.
Er schrickt auf. Zieht die Hand ruckartig zurück. Schweißausbruch. Er steht auf. Begibt sich in den Nebenraum. Zieht sich eine warme Jacke an und nimmt eine Axt und ein Seil mit. Die Frau ist verwirrt, doch lässt es zu.
"Wo gehst du hin" - fragt sie ihn.
"Ich muss kurz gehen, Holz schlagen, bevor der Winter uns einholt!" - antwortet er.
Sie nickt, steht auf und geht zu ihm herüber. Einen Kuss gibt sie ihm auf die linke Wange, er lächelt erneut. Sie flüstert ihm lange und leise etwas ins Ohr. Eine Träne ziert ihr Gesicht. Er nickt sehr vorsichtig. Eine lange Umarmung, bevor sie ihn gehen lässt.
"Wirst du auch wieder kommen?" - fragt sie nervös, aufgeregt und leicht irritiert.
"Ja, du wirst von mir wieder hören!" - sagt er darauf, kehrt ihr den Rücken und verlässt das Haus.
Alleine nun im Haus, räumt sie den Tisch aus und spült das Geschirr. Erneut ziert eine Träne ihr Gesicht, sie blickt auf und schaut aus dem Fenster heraus. Es schneit. Nicht kräftig, aber doch sehr windig. Sie sieht ihren Mann im kleinen Walde stehen. Ohne jegliche Emotion beobachtet sie ihn. Nur die Träne bleibt konstant. Sie sieht, wie er sich kniet, den Schuh bindet und das Seil an einen Ast bindet - mit einem kräftigen Knoten. Die Axt schlägt er ruckartig und kräftig in den nebenliegenden Ast. Sie schaut zu. Regungslos. Nur die Träne läuft sehr langsam die Wange herunter.
Bevor die Träne die Wange verlässt und auf den hellbraunen Holzboden fällt, hat sich der Ehemann die Schlinge um den Hals gelegt und den Ast mit der Axt weggestoßen. Am Ast taumelnd erblickt er noch ein letztes mal vage in seinem Haus seine Frau, die regungslos da steht und alles gesehen hat. Nicht einmal eine Träne hat sie für ihn verschwendet...