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Die Nachtwandlerin
Aber selbstverständlich möchte ich mich von Ihnen vernaschen lassen. Ich bitte doch sehr darum, denn ich liebe es, von einem wildfremden Mann um zwei Uhr früh in einer einsamen Gegend auf diese Weise angesprochen zu werden; von einem Mann wie Ihnen, geprägt von kalorienreicher Ernährung, unbelastet von jeglichem Feingefühl, umgeben vom Duft des Alkohols. Ihr unmissverständliches Auftreten, Ihre derbe Ausdrucksweise und der Schweiß in Ihren Augen zeugen von einer rohen Männlichkeit, wie ich sie mir in meinen verwegensten Träumen ausmale. Sie wissen was ich meine. Sie machen mich schwach, so wie Sie aus Daumen und Ringfinger einen Kreis beschreiben und darin Ihren Mittelfinger auf und ab bewegen. Sehen Sie mich nicht so an. Begleiten Sie mich ein Stück.
Ob es mir gut geht? Wissen Sie, ich kann nachts nicht schlafen und ziehe dann durch die Stadt, wandle in menschenleeren Gassen. Kommen Sie schon, folgen Sie mir, gehen Sie mit mir nach Hause. Sie werden es nicht bereuen. Eine Schlampe wie ich, wie Sie es punktgenau formuliert haben, braucht ab und zu einen echten Kerl. Ihnen kann man nichts vormachen, Sie sind Profi, wissen meine offenen Haare und meine hohen Absätze zu deuten. Sie wissen, wonach sich Frauen wirklich sehnen.
Ja, Sie begleiten mich? Das ist gut. Lachen Sie ruhig, das gefällt mir. Sie zeigen mir, dass Sie eine genaue Vorstellung haben, von dem, was auf Sie zukommt. Nur einen Moment noch. Wo ist er nun wieder? Das gibt es ja nicht. Billy! - Immer läuft er davon. Billy! - Wie oft soll ich ihn denn noch rufen? Billy! - Sehen Sie, hier kommt er. Was ist los? Haben Sie etwa Angst vor Hunden?
Ich wusste es. Sie doch nicht. Sie sind kein Feigling, sondern ein wahrer Draufgänger. Ich habe es sofort bemerkt, wie Sie mir den Weg abgeschnitten haben, mich nicht an Ihnen vorbei ließen.
Billy ist ein liebes Tier. Bitte betrachten Sie den Hund. Ist er nicht schön? Das kurze schwarze Fellhaar läßt jeden Muskel seines vor Kraft strotzenden Körpers erkennen. Sehen Sie, er reicht mit seiner Schnauze an meinen geilen Arsch heran, um mich in Ihrer Sprache auszudrücken. Schauen Sie sich seine Zähne an, achten Sie auf diese gewaltigen strahlend weißen Reißzähne. Er ist ein guter Hund und könnte keiner Menschenseele etwas zu Leide tun. Meinen Sie, ich würde ihn frei herumlaufen lassen, wenn ich Angst hätte, dass er jemanden anfallen würde?
Na sehen Sie. Aber ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich könnte ihn nicht zurückhalten, selbst wenn ich ihn an der Leine hätte. Stellen Sie sich vor, wenn dieses Kraftpaket auf jemanden losgehen würde. Glauben Sie wirklich, dass ein Püppchen – wie Sie meine Person treffsicher beschrieben haben – glauben Sie wirklich, dass ein Püppchen wie ich so ein Muskelpaket zurückhalten könnte? Aber keine Sorge, Billy gehorcht mir aufs Wort.
Warum er bellt? Das macht er immer, wenn ein Auto vorbei fährt. Zum Glück sind ja hier nur wenige Autos unterwegs. Beachten Sie es nicht, Sie wissen doch, bellende Hunde beissen nicht. Billy ist etwas nervös, darum gehe ich immer nachts mit ihm spazieren. Ich wandle in menschenleeren Gassen mit ihm durch die Finsternis, und manchmal treffe ich Männer wie Sie.
Billy, lass den Herren, hör auf ihn zu beschnuppern. Billy, na komm schon.
Zum Glück haben Sie keine Angst vor Hunden. Wissen Sie, Sie dürfen einem Hund niemals Ihre Angst zeigen. Eigentlich dürfen Sie keine Angst empfinden, denn Hunde riechen die Angst. Wenn ein Hund Ihren Angstschweiß riecht, kann es sein, dass er seine Dominanz zeigt. Das kann bis zum äußersten gehen. Sie dürfen keine Angst haben, dann kann nichts passieren. So einfach ist das. Gerade eben dachte ich, dass Sie sich nicht so schrecken hätten dürfen, als Billy gebellt hat.
Die Rasse? Das lässt sich nicht genau feststellen. Er wurde gefunden, gekettet an einem Baum. Gott weiß, was dem armen Tier widerfahren ist. Dem Aussehen nach ist er eine Mischung aus Rottweiler und Dobermann. Manche Leute fürchten sich vor diesen Rassen, aber das sind Vorurteile.
Billy, hör schon auf. Der Herr mag es nicht, wenn du ihn mit der Schnauze anstoßt. Aus jetzt.
Sie können versichert sein, Billy liebt die Menschen. Er könnte niemanden etwas zu Leide tun, den ich mag. Und ich mag Sie, weil Sie mit mir mitkommen, an meiner Seite gehen, genau auf mein Tempo Rücksicht nehmen. Darum schätze ich Sie. Dass Sie der richtige sind, habe ich sofort erkannt als Sie mir entgegen kamen, mit mir gleichzeitig die Gehsteigseite wechselten und mir schließlich den Weg abschnitten. So etwas habe ich im Gefühl. Wenn ich nachts nicht schlafen kann und durch dunkle Gassen wandle, treffe ich oft auf Männer wie Sie.
Ob er schon jemanden gebissen hat? Billy ist ein braver Hund. Nein, ich sagte Ihnen doch, dass er die Menschen liebt. Er ist abgerichtet. Er hat gelernt, Menschen zu stellen. Wissen Sie was es heißt, von einem Hund gestellt zu werden? Wenn ein Hund sich vor Ihnen aufpflanzt und Sie anstarrt? Wenn zwei kompromisslose Augen Sie anstarren? Keine Bewegung, nicht das kleinste unbewusste Zucken, würde diesen Augen entgehen. Der Hundekörper ist angespannt, bereit zum Sprung auf sein Opfer, auf Sie.
Billy, sieh den Herren nicht andauernd an. Das ist ein netter Herr, der uns heute nach Hause begleitet. Billy, komm. Fuß!
Niemals würden Sie das dumpfe grollende Knurren des Hundes vergessen, wenn Sie so etwas schon erlebt hätten. Der Hund beginnt reflexartig die Zähne zu fletschen, wenn Sie es wagen würden, sich zu bewegen. Die absolute Bedrohung ließe Sie erschauern. Sie hätten eine Art von Gewissheit einer Gefahr wie nie in Ihrem Leben zuvor. Glauben Sie mir, Sie würden still halten, stundenlang. Sie wären in Panik, befänden sich in Todesangst, aber Sie würden sich nicht rühren. Sie würden ihren Atem unterdrücken, Sie wären schweißgebadet und Ihnen wäre übel, aber bewegen würden Sie sich nicht. Glauben Sie mir, das würden Sie nicht tun.
Wie lange das dauern kann? Bis Sie zusammenbrechen oder das Glück haben, dass jemand kommt und den Hund zurück pfeift, dem er gehorcht. Ich bin wirklich froh, dass Billy mir folgt. Ich vertraue ihm genau wie ich Menschen vertraue, etwa Ihnen.
Wussten Sie, dass die Auseinandersetzung mit anderen Menschen eine Gratwanderung ist? Den meisten von uns ist das nicht bewusst, weil die Dinge in der Regel ihren gewohnten Gang nehmen. Aber tatsächlich können Sie nie genau vorhersagen, wie ein Mensch auf etwas reagiert. Sie wissen in Wahrheit nicht, was passiert, wenn Sie mit einem anderen Menschen in Kontakt treten, eine Beziehung zu ihm aufbauen. Aber würden Sie deshalb den Kontakt zu Menschen meiden?
Na sehen Sie. Auch ich würde deshalb nie meinen Hund hergeben. Wenn es zu Unfällen mit Hunden kommt, ist es immer die Schuld des Menschen. Meinen vorigen Hund musste ich einschläfern lassen, weil so ein verdammter Idiot falsch reagiert hat. Dabei war er wirklich ein braver Hund.
Wie es dazu gekommen ist? Damals bin ich auch mit einem Mann nachts durch die Straßen gezogen, genau wie jetzt mit Ihnen. Der Dummkopf hat plötzlich zu rennen begonnen, als liefe er vor etwas davon. Menschen agieren oft sonderbar, ich habe gerade davon gesprochen. Sie müssen wissen, ein Hund hat einen Jagdinstinkt. Wenn man vor einem Hund davonläuft, kann es passieren, dass dieser Instinkt geweckt wird. Der Mann ist nicht weit gekommen, da war der Hund von einer Sekunde auf die andere wie verwandelt. Ich habe mein eigenes Tier nicht wieder erkannt.
Wissen Sie, wie schrecklich es ist, wenn sich das Gesicht des eigenen Hundes in eine entstellte Grimasse verwandelt? Wenn er die Lippen hochzieht und Sie die blanken Reißzähne sehen, wenn er die Zähne fletscht und sich seine Schnauze in Falten wirft? Haben Sie jemals schon diesen undefinierbaren Ausdruck in den roten Augen eines vor Jagdtrieb irrsinnigen Hundes gesehen? Haben Sie schon erlebt, ja, ich meine wirklich erlebt, was das Wort Blutrausch bedeutet? Haben Sie dieses von Aggressivität und Tötungslust begleitete Schreien – ich sage Schreien, nicht Knurren – eines jagenden Hundes gehört?
Billy, komm schon. Du sollst den Herrn nicht immer anstarren und mit der Schnauze anstubsen. Hör auf damit. Billy, sei jetzt brav. Fuß!
Ich habe ebenfalls geschrieen. Ich war ein einziger Schrei. Nie werde ich das Bild vergessen, wie sich der Hund in den Arm des Mannes verbissen hat. Das unendliche Grauen im Gesicht des Mannes, das Blut, das zerfetzte Fleisch. Der Mann, ein Kerl wie Sie einer sind, hat in diesem Moment nur Entsetzen empfunden, keinen Schmerz. Irgendwie muss mein Schrei den Hund erreicht haben. Er hätte den Mann getötet, wenn mein Schrei nicht - durch die Macht des Beutetriebes hindurch - zu ihm gedrungen wäre.
Warum ich halt mache? Wir sind angekommen. Was ist los mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?