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Die Nacht im Freien
Die Schublade rollte bis zum Anschlag aus. Fulvio schob leere Plastikbecher zur Seite, suchte sich unter ihnen Dosen und Deckel zusammen, schnitt danach Weißbrot und Schinkenscheiben, stand schließlich aufrecht im Raum, dachte nach und tat, als ginge es allein ihn an, was er weiter auswählen mochte.
Er durchschritt die Wohnung auf geraden Strecken und nahm sich überall, was er für die Nacht brauchte.
Im Schlafzimmer beugte er sich nach unten und hob das Kind hoch bis über den Kopf, drehte sich mit ihm und sah es lachen. Er drückte es fest an sich, bevor er es wieder absetzte.
Karina stand mit verschränkten Armen und folgte seinen Wegen mit dem Kopf.
So sah sie ihn sonst nicht. Er sah sonst auf den Boden, wenn er durch die Wohnung ging, presste sich in die Ecken, wenn Karina zu Hause war, saß auf dem Sofa, weil er irgendwo sein musste. Dort fühlte er seinen Hals zu lang und die Gliedmaßen dünn und eckig. Die Arme klebten am Polster und lagen zu hoch oder zu tief oder zu leicht. Erst wenn Karina mit dem Kind schlafen ging, aß er zu Abend.
Heute jedoch nicht. Heute war er nicht der verlorene Schatten, dem die Deckung gegen das Tageslicht abhanden gekommen war.
Denn es war etwas geschehen zwischen ihm und Rosa. Sie war mit ihm und mit den anderen unterwegs gewesen und war dann am Nachmittag mit ihnen ins Café gekommen. Dort hat sie ihn angeschaut, hat mit ihm gelacht, hat ihm quer über den Tisch den Kragen zurecht gezupft und hat sich verwandelt. Und jetzt packte Fulvio seine Sachen.
Er kniete breit auf dem hellblauen Teppichboden, der aus den Fingern Funken zog, wenn man mit der Hand darüber strich, und legte dort einzelne Kleidungsstücke zur Schau zwischen Isomatte, Schlafsack, Windlicht, Laterne.
Karina fragte, wo er denn hingehe. Was das da wieder solle. Was er denn vorhabe. Er schaute nicht auf, sortierte mit Bedacht und wartete eifrig auf die nächste Frage, um die Frau auf ihr sitzen zu lassen.
Groß, schön, sachlich, streng stand Karina da. Alles ließ Fulvio abprallen. Sie sah ihm zu, wie er Kondome in den Waschbeutel zählte. Er rollte die Matte auf. Karina fragte nicht mehr.
Das Kind stolperte und saß plump zwischen den Shirts. Fulvio beugte sich vor, kippte aus den Knien über, fing sich seitwärts das Kind vom Boden und fiel mit ihm auf den Rücken. Das Kind lag auf seiner Brust, schwer, aber immer noch ganz weich.
„Wir schlafen heute am Wasserfall“, sagte er, als er sich wieder aufgesetzt hatte, und es ärgerte ihn, dass ihm die Worte nicht biegsam und nebensächlich gelangen.
Er griff einen Plüschhasen und ließ ihn mit den Ohren wackeln. Der Hase sprach zum Kind: Es solle ihn streicheln. Er kletterte den Arm des Kindes entlang bis an seinen Hals, schmiegte sich an die Schulter, schnüffelte an den Haaren, freute sich, wie sie dufteten und wie das Kind kicherte. Mit den Ohren und den Pfoten winkte er noch einmal fröhlich, dann sprang er obenauf in den Rucksack als ein Siegel und Pfand, das Fulvio bei sich behalten wollte, wenn er aus dem Haus ging. Dabei war die Gefahr, dass er mit der Frau auch das Kind verlieren sollte, für diesen einen Tag zu weit entfernt, um sich je zu verwirklichen.
Rosa! Fulvio winkt und ruft ihren Namen. Eine Frau schaut auf, wendet sich um und winkt ihm zurück. Sie lächelt vermutlich, quer über den Platz sieht man es nicht genau. Das ist Rosa. Sie gehen aufeinander zu, Kies schabt unter den Füßen. Die Laternen mimen den Mondschein. Zur Begrüßung fassen die zwei sich mit beiden Händen. Rosa lacht, hält Fulvio an den Handgelenken fest und wedelt mit seinen Armen. Dann redet er lange. Sie schaut ihn an, immer nickt sie oder schüttelt den Kopf. Immer hält sie seine Arme an den Handgelenken.
Dann lacht sie wieder, heller und lauter als zuvor, schaut in den Himmel, klatscht in die Hände und winkt ab. Schüttelt wieder den Kopf und sagt einen Satz. Jetzt umarmt sie ihn mit einem Ruck.
Bevor sie bei den Arkaden in die Gasse einbiegt, dreht sie sich einmal um, hält an und hebt die Hand.
Fulvio steht mitten auf dem Platz. Erst bewegt er sich nicht, dann geht er in gleichgroßen Schritten. Aus dem Licht der Laternen in den Schatten und wieder ins Licht. Er geht auf und ab, am Rucksack pendelt die Matte.