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Die letzte Reise
Auf meinem Schreibtisch steht eine durchsichtige Miniaturvase, aus der sechs dürre Bäume emporwachsen, deren Wurzeln auf dem Grund eines weißgelben Sees liegen. Jede Baumkrone ragt in eine andere Richtung und hält selbst dem stärksten Unwetter stand. Ich kann es wehen, regnen, donnern und auch blitzen lassen – die Bäume bleiben davon unbeeindruckt. Ihnen ist es gleich, dass ich den Qualm in ihre Richtung blase. Obwohl sie wissen, was das zur Folge hat: Ich spucke Blut. Mein Husten erschüttert sie genauso wenig wie die nächste Zigarette, die ich kurz darauf entzünde.
Im Schneidersitz, so sitze ich hier im Garten, den Rücken an einen Stamm gelehnt, und beobachte die Spatzen, die auf den Ästen tanzen. Die Sonne haucht den Bäumen Leben ein. Nun unterscheiden sie sich deutlich von jenen auf dem Schreibtisch, die nichts weiter sind als die stinkenden Stäbchen eines Raumerfrischers. Ich huste.
Um aufzuerstehen, genügt ein einziger Lichtstrahl. Hat das schon jemand geschrieben? Ich hätte es sein können, doch dafür ist es zu spät. Statt aufzuschreiben, wie ich leben möchte, wie wir leben könnten, lebe ich nun das, worauf sich mein Schreiben niemals konzentriert hat.
Kann man den Tod überhaupt leben? Es fühlt sich nicht so an.
Was ich schrieb, landete in Schubladen. Zu Recht. Wer bin ich auch, wer war ich schon, dass ich anderen ein Leben vorschlagen wollte, das ich für lebenswert hielt, ohne es selbst je gelebt zu haben. Rousseau? Er tat nichts anderes – Wen seine Kinder wohl mehr hassten, Émile oder ihn? -, und doch verehre ich ihn und bin gerade deshalb weiter von ihm, weiter von mir entfernt, als ich es in Worte fassen könnte, was sinnbildlich für mein Schreiben steht.
Er schrieb einst, dass die Freiheit eines Menschen nicht darin bestünde, nur das zu tun, wonach einem sei, sondern eben darin, nicht das tun zu müssen, wonach einem nicht sei. Diesen Ausspruch weiß ich zu schätzen, seit meine liebe Großmutter ihn mir das erste Mal vortrug, konnte ihn aber erst verstehen, als vor wenigen Monaten die Diagnose kam. Inoperabler Lungenkrebs stand auf dem Arztbericht, dessen Kopie ich seitdem bei mir trage, um mich an das Damoklesschwert über meinem Kopf zu erinnern, das eigentlich schon längst gefallen ist.
Was ernüchternd klingt, erwies sich zumindest vorübergehend als Segen, da ich mich, stets in Gedanken bei dem Zettel in meiner Tasche, dazu entschloss, etwas aus meinen letzten Monaten zu machen. Ich lebte das, wonach ich mich in meinen schriftlichen Werken sehnte, und dass ich diese Träume durch eine einfache Reise realisieren konnte, legt erneut dar, wie weit ich doch von Rousseau entfernt bin. Auch er brach zu mehreren Wanderungen auf, sehnte sich dabei allerdings nach dem Vergangenen, das nicht mehr war, und beschwor eine Zukunft, die niemals sein sollte, während ich lediglich eins tat: Ich lebte.
Ich schlief in einem Kanu auf dem Vänernsee, in einem Lávvu auf den Lofoten und in einer Hängematte zwischen Tannen des Wolfspades. Unter Sternen und Nordlichtern sowie schräg über einem Feuer, in dem ich vom Bette aus meinen Fang braten konnte. Ich lernte Waliser kennen, die mir unaufgefordert, in einem Park mit kleinem Kanal, auf dem Boote von Pferde gezogen wurden, Gedichte aus eigener Feder vortrugen, während ich ihre Hunde streichelte. Ein Schotte ohrfeigte mich derart, dass all das aufmüpfige Verhalten meiner Jugend getadelt zu sein schien. Außerdem liebte ich eine Australierin. Uns gehörte das Everton Hostel in Liverpool, wenn nicht gar die Welt. Wir begleiteten unsere Mitbewohner zwar zur Karaokebar, übertraten aber nicht die Schwelle, sondern blieben draußen, saßen auf dem kalten Pflaster und sangen Guaranteed von Eddie Vedder. Ich war ihr das Plektron, mit dem sie sanft über die Saiten strich.
On bended knee is no way to be free
Lifting up an empty cup I ask silently
That all my destinations will accept the one that’s me
So I can breath
Sie wusste nicht, wie viel mir diese Zeilen bedeuteten, ich wollte nicht, dass sie wusste, wohin ich gehen und wen konkret ich um Verständnis bitten musste, und doch fühlte ich mich von ihr verstanden. Vedders Text, den ich zu schreiben versäumt habe, war letztlich doch mein eigenes Werk, da sie den Zeilen, die ich wie meine eigenen fühlte, etwas entnahm, das sie sowohl auf sich selbst als auch auf den Autor, auf mich, projizieren konnte.
Nach dem letzten Akkord rutschte sie zu mir, legte den Kopf auf meine Schulter und ließ sich küssen. Ich liebte sie schon, bevor sie mich im Hostel liebte.
So fremd wir uns waren, waren wir einander auch nahe. Ich genoss es, der Siebenundzwanzigjährige auf der Suche nach dem Sinn zu sein, für den sie mich hielt, und es fiel mir leicht, diese Rolle zu spielen, da ich genau genommen nichts anderes verkörperte. Meine Liebe für sie erreichte den Höhepunkt, als sie mich abservierte, weil dadurch meine Diagnose in Vergessenheit geriet und ich den Schmerz empfand, für den wir zu leben scheinen.
Ich schreibe guten Grundes vom Schein, schließlich habe ich das Leben, nun da es dem Ende naht, indem ich es tatsächlich gelebt habe, zwar zu schätzen gelernt, nicht aber verstanden. Obwohl es schwer genug ist, das Leben angemessen schätzen zu lernen, kann das doch nicht alles sein?!
Was ist es, das ich der Welt hinterlasse? Keine Romane, nicht einmal eine verfluchte Kurzgeschichte, sondern bloß eine Handynummer, die aus Anstand und Schuldgefühlen zuerst nicht gelöscht, dafür aber keines Blickes gewürdigt wird und eines Tages dann im Zuge des Telefonwechsel verschwindet, um mit mir gemeinsam unerreichbar und unauffindbar zu sein.
Meine Liebsten sind es, die ich um Verständnis bitten müsste, und auch sie wissen nicht, wohin ich gehen muss.
Ich bin zurückgekehrt, zurück nach Lübeck, habe den Grabstein meiner geliebten Großmutter geküsst, meine Mutter herzlich gedrückt, ihr gesagt, wie sehr ich sie liebe, und meiner Freundin, um ihrer Liebe Willen die meine gestanden und dabei verschwiegen, wie wenig sie vergleichbar ist mit jenen Empfindungen für die Erstgenannten, wie sehr sie ihnen doch nachsteht. Allen teilte ich mit, meine Reise fortzusetzen, mir für weitere Monate diesen einzigartigen Freiraum zu genehmigen, und sie alle, meine zwei oder auch drei Liebsten akzeptierten es.
Keine von ihnen weiß, dass ich Lübeck seit unserer letzten Begegnung nicht mehr verlassen habe. Wären sie sich meines Gesundheitszustandes bewusst, hätte ich nicht nur das Leben, das sie der Trauer um meinen Tod widmen, auf dem Gewissen, sondern würde sie auch jener Monate berauben, in denen sie mich meiner Reise wegen glücklich wussten, wofür ich durch etliche Briefe und Telefonate gesorgt habe. Seit zwei Wochen ließ ich allerdings nichts mehr von mir hören und sie allesamt in dem Glauben, weiterhin mich selbst finden zu wollen, abgeschottet von meiner Heimat, die, wie meinen drei Liebsten bekannt ist, kein Ort ist, sondern das, woran mein Herz hängt, also an ihnen, um dann gefestigt zurückzukehren. Ihre ahnungslosen Herzen waren schon schwer genug, als ich ankündigte, einige Wochen abtauchen zu wollen, ohne etwas von mir hören zu lassen. Wie hätten sie verkraften sollen, dass ich auf ewig Lebewohl sagte?
Ich weiß, wie verblümt ich das darstelle, für mich selbst, weil es eben nicht so ist, dass sich alles um mich dreht, weiß, dass ich egoistisch handele, meinen Glauben über denen jener stelle, in deren Sinn ich zu handeln glaube, und verdränge dabei ganz bewusst das unleugbare Wissen, gegen ihren Willen entschieden zu haben.
Die Abschiedsbriefe werden nach meinem Tod zugestellt. Dafür habe ich gesorgt.
Auf den drei Umschlägen steht jeweils, neben den lieblichen Namen, die sich ein Schriftsteller für seine fiktiven Charaktere kaum trefflicher ausdenken könnte, dass ich versuchte, aus Liebe zu handeln, versuchte, die Liebe zu erwidern, die mir geschenkt wurde, und mir darüber im Klaren bin, kläglich versagt zu haben. So stand es dort geschrieben. Das Wissen um mein Scheitern strich ich und packte die Briefe in neue Umschläge. Meine Liebsten sollen glauben, ich sei im Reinen mit der Entscheidung, die ich fällen musste. Musste ich das denn überhaupt?
Ich bin nicht im Reinen, nicht mit meiner Entscheidung, nicht mit meinem Leben. Ich wünschte, ich könnte glauben, der Tod führe mich zu meiner Großmutter. Sie, die immer stark war, würde meine Entscheidung zwar nicht gutheißen, aber in ihrer rührenden Absicht, die Intention dahinter verstehen zu wollen, die Entscheidung selbst verschwinden lassen und mich tröstend in ihren Armen wiegen, bis ich auf ewig einschlafe.
Es handele sich nur noch um Tage, meinte der Arzt betroffen, als er mich vorgestern in der Wohnung meines Freundes besuchte, der gerade jenes Land bereist, in dem mich meine Liebsten wähnen. Kanada. Ich spüre das Eis in seinen Wanderstiefeln, den Schnee in seinem Nacken und die Kälte seiner Hände, als ich einen letzten Blick auf den Arztbericht werfe. Inoperabler Lungenkrebs.
Eine Empfindung ist mir noch vergönnt, bevor ich zu den Schlaftabletten greife. Genaugenommen sind es zwei Empfindungen und mehrere Schlaftabletten. Die Zigarette schmeckt nicht, ich kann sie kaum rauchen, und ich bin schuld.