Hallo @Peeperkorn,
nachdem der Text hier jetzt noch einmal aufgepoppt ist, obwohl seine Hauptbesprechungsphase wohl schon vorbei ist, und nachdem du jetzt eine längere Version ankündigst, will ich auch noch etwas zu ihm sagen. Allerdings habe ich ein wenig die Sorge, dass ich wieder als Miesepeter wahrgenommen werde. Bisher finden sich ja unisono fast nur sehr lobende Worte für den Text und auch ich finde ihn prinzipiell sehr gut. Indes bin ich einfach ein kritischer Geist, der zwanghaft nach Schwächen und Ungereimtheiten sucht, und wenn er sie nicht findet, sie vielleicht auch erst (für sich) erschafft.
Wie dem auch sei, ich schicke das vorweg, um klarzumachen, dass es mich gerade Überwindung kostet, mich von der Mehrheitsmeinung abzusetzen, zumal du jetzt auch noch den rauen Wind der literarischen Welt ansprichst.
Zunächst einmal ist das – ich weiß gar nicht, was hier der richtige Begriff ist: Plot? Stoff? Geschichte? – ist das einer dieser Stoffe, die wie Gold sind. Man braucht sie eigentlich gar nicht "zu erzählen" und sie machen schon Eindruck, weil sie so viel Wucht in sich tragen. Man hört sie einmal und merkt sie sich, erzählt sie vermutlich weiter. Meine Mutter hat vor einiger Zeit auch mal etwas über eine Bekannte von ihr erzählt, in vielleicht zehn Sätzen beim Abendessen, und ich dachte: Alter, das ist schon ein Roman, man braucht es nur auszuschmücken.
Du gehst hier jetzt natürlich genau den anderen Weg und verdichtest bis zum Gehtnichtmehr, im Wortsinne. Knapper wäre es kaum noch gegangen. Dabei triffst du aber ein paar Entscheidungen, die ich nicht ganz nachvollziehen kann, wenn ich wirklich nur Leser des Textes bin, und nicht auch noch in die Rolle eines Autors springe, oder den Text im literarischen großen Ganzen verorte und mich frage, wo er sich dort wie von was absetzen muss, um Eigenständigkeit zu demonstrieren. Ich habe darum eigentlich keine Kritik, sondern eher Rückfragen.
Die erste wäre, warum du die Dinge so im Unklaren lässt. Das Wasser im Mund, aber auch der Eimer. Mir ging es hier wie auch schon jemand in den Kommentaren, dass ich beim ersten Lesen Verständnisprobleme hatte. Ich habe dann leider den Fehler gemacht, nach dem ersten Lesen die Kommentare zu lesen, also nicht noch einmal mit dem Text auf Sinnsuche zu gehen. Aber anyway – warum spricht der Text hier nicht aus, was mit dem Kopf passiert und was im Eimer ist (no pun intendend)?
Ich frage mich das als Leser, aber auch, wenn ich mir die Sprechsituation des Textes anschaue. Graut dem Erzähler so vor dem Inhalt des Eimers, dass er es sogar vor sich selbst nicht aussprechen kann? – Denn in meinen Augen spricht er den Text für sich selbst. So erzählt man ja nicht anderen Leuten eine Geschichte, weder solchen, die das Szenario schon kennen, noch Unbeteiligten. Warum also kaschiert er vor sich die nackte Wahrheit? Da komme ich nicht ganz hinter. Gerade das Grausame ist doch für gewöhnlich das Eindrücklichste, das Physische (Blut, Spliter etc.) ist das, was man sich am besten vorstellen kann.
Noch weniger verstehe ich zweitens den motivischen Kern des Textes, also die Sache mit dem Glas. Ursprünglich wollte ich in meinem Kommentar nur folgende Frage stellen:
Warum spielt es eine Rolle, ob der Großvater das Wasser schon im Mund hatte oder ob er es in einem Glas mitgenommen hat?
Da finde ich auch nach drei Tagen Nachdenken keine Antwort drauf. Das ist doch im Rahmen des ganzen Geschehens vollkommen belanglos, oder?
Ich verstehe diese Frage in ihrer tragenden Funktion für den Text, ich verstehe, welche Möglichkeiten sie dir als Autor geboten hat und ich verstehe auch die Wirkung, die sich dann für den Leser entfaltet durch die Bilder und Gedanken über das Glas.
Aber ich verstehe nicht, warum diese Frage wichtig ist.
Ich verstehe auch nicht, warum der Erzähler nicht eine andere Fragen stellt, an der sich der Text aufhängt. Da sind doch objektiv betrachtet viel näherliegende Fragen, die sich stellen. Zum Beispiel:
Warum haben all diese Leute in den Eimer geguckt?
Das wäre für mich zum Beispiel eine Frage, die sich aus dem Geschehen heraus stellt und bei der ich direkt verstehen würde, warum sie den Erzähler beschäftigt. Stattdessen sagt er nichts zu dieser grausamen und kuriosen Szene, wo sich alle um den Schädelbrei versammeln.
Noch eine bessere Frage, weil sie irgendwo genau die Absurdität der aktuell gestellten Frage mit dem Wasser beinhaltet, aber eben aus dem Geschehen heraus viel stärker abgestützt ist, fände ich:
Ob sie den Eimer später weiter benutzt haben?
Das ist eine Frage, die sich einfach stellt, nachdem, was passiert ist.
Wie schon angemerkt, bin ich dieses Mal nicht meinem ersten Impuls gefolgt, sondern habe ein paar Tage über die Story nachgedacht. Und ich habe diesen Kern des Textes nicht verstanden.
Aber vielleicht is it just me und du hast genau so einen Grund für die Frage, der sich nicht aus der Textkonstruktion, sondern wirklich aus dem Szenario heraus ergibt, und ich habe ihn nur nicht gesehen.
Um noch einmal den ganzen Bogen zu fassen: Ich denke, der Stoff ist stark, Stil und Form passen auch, ich würde mir den Text nur expliziter wünschen, weil man ihn so auch direkt versteht – zumindest auf den Suizid bezogen. Nur so hat das für mich Wucht. Wenn ich den Bang nicht verstehe, ist es kein Bang mehr. Der Suizid an sich ist ja auch klar wie sonst was passiert. Das war keine Vergiftung, kein selbst initiierter Autounfall. Klarer kann man sich ja gar nicht umbringen. Warum hier also kryptisch schreiben? Das Kryptische sollte sich in meinen Augen auf die Hintergründe beschränken, finde ich. Da ergibt das für mich Sinn, das sich das erst entfaltet beim Leser und da hat man dann erneut eine Wucht in dem Moment, wo sich die ersten leisen Vermutungen bestätigen. Und eben: Das Kernmotiv mit dem Glas, das ist für mich bislang willkürlich, ergibt sich nicht aus der Logik des Szenarios und den naheliegenden Reaktionen darauf.
Ich bin gespannt auf deine Antwort und hoffe, dass der raue Wind bald abflaut.
Freundliche Grüße
HK