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Die Kontur eines Hirsches
Ich stelle mir Carlo mit langen, schwarzen Haaren vor. Er stammte aus dem Tessin und half Großvater auf dem Hof. Heute ist er alt, damals war er schön. Er wohnte in einem Zimmer im oberen Stock, gegessen hat er stets mit der Familie.
Großvater starb an Schuppenflechte. Meine Mutter war noch klein, die Geschwister versperrten ihr den Weg zur Scheune.
An Schuppenflechte stirbt man nicht, doch das Jucken kann schrecklich sein. Ich frage mich, ob Großvater das Wasser schon im Mund hatte, als er die Scheune betrat. Nein, er wird es in einem Glas mitgebracht haben. Ich stelle mir die Kontur eines Hirsches vor, mit Diamantstift in das Glas geritzt. Ich stelle mir vor, wie sich Großvaters Wangen blähen, die Lippen den Lauf umschließen.
Drei Onkel und meine Tante standen im Kreis um den Eimer. Wo meine Großmutter war, weiß ich nicht. Wenn ich mir den Eimer vorstelle, hat er eine dunkelgrüne Farbe. Der Pfarrer traf ein. Er schaute in den Eimer und sagte, auf den Friedhof kommt euer Vater nicht. Später ging Carlo mit Geld vorbei und Großvater erhielt ein Begräbnis.
Ich stelle mir vor, wie meine Tante vor dem dunkelgrünen Eimer steht. Auf Großmutters Drängen hin nahm sie Carlo zum Mann. Sie wollte wegziehen, doch das erlaubte meine Großmutter nicht. Carlo arbeitete weiterhin auf dem Hof, meine Tante im Kindergarten unten im Dorf.
Großvater hatte Schuppenflechte, er ging nie zum Arzt deswegen, so schlimm war es nicht. Das Glas holte er aus der Küche, darauf war ein Hirsch graviert. Ich stelle mir vor, es war das Glas, aus dem sonst Carlo trank. Carlo war ein schöner Mann. Ich stelle mir vor, wie Großmutter morgens am Fenster sitzt und wartet, bis meine Tante das Haus verlässt.