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Die Kontur eines Hirsches

Monster-WG
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18.06.2015
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Die Kontur eines Hirsches

Ich stelle mir Carlo mit langen, schwarzen Haaren vor. Er stammte aus dem Tessin und half Großvater auf dem Hof. Heute ist er alt, damals war er schön. Er wohnte in einem Zimmer im oberen Stock, gegessen hat er stets mit der Familie.
Großvater starb an Schuppenflechte. Meine Mutter war noch klein, die Geschwister versperrten ihr den Weg zur Scheune.
An Schuppenflechte stirbt man nicht, doch das Jucken kann schrecklich sein. Ich frage mich, ob Großvater das Wasser schon im Mund hatte, als er die Scheune betrat. Nein, er wird es in einem Glas mitgebracht haben. Ich stelle mir die Kontur eines Hirsches vor, mit Diamantstift in das Glas geritzt. Ich stelle mir vor, wie sich Großvaters Wangen blähen, die Lippen den Lauf umschließen.
Drei Onkel und meine Tante standen im Kreis um den Eimer. Wo meine Großmutter war, weiß ich nicht. Wenn ich mir den Eimer vorstelle, hat er eine dunkelgrüne Farbe. Der Pfarrer traf ein. Er schaute in den Eimer und sagte, auf den Friedhof kommt euer Vater nicht. Später ging Carlo mit Geld vorbei und Großvater erhielt ein Begräbnis.
Ich stelle mir vor, wie meine Tante vor dem dunkelgrünen Eimer steht. Auf Großmutters Drängen hin nahm sie Carlo zum Mann. Sie wollte wegziehen, doch das erlaubte meine Großmutter nicht. Carlo arbeitete weiterhin auf dem Hof, meine Tante im Kindergarten unten im Dorf.
Großvater hatte Schuppenflechte, er ging nie zum Arzt deswegen, so schlimm war es nicht. Das Glas holte er aus der Küche, darauf war ein Hirsch graviert. Ich stelle mir vor, es war das Glas, aus dem sonst Carlo trank. Carlo war ein schöner Mann. Ich stelle mir vor, wie Großmutter morgens am Fenster sitzt und wartet, bis meine Tante das Haus verlässt.

 

Lieber @dotslash

Ein schöner Kommentar, danke dir sehr dafür! Ja, ich dachte, der Text wäre was für dich, frisch vom Hof gewissermassen. :)

weshalb bringt er dann nicht seine Frau oder deren Liebhaber um? Aber eben, vielleicht liebte er seine Frau zu sehr
Das ist eine Frage, die mich ebenfalls umtreibt. Wie ich das einschätze (mir vorstelle), war es nicht die Liebe, sondern das Ansehen im Dorf, die Schmach, im eigenen Haus betrogen zu werden, die den Ausschlag gegeben hat. Ich weiss es nicht.
Rechtschreibungstechnisch zwar korrekt, aber wie wär es "Meine zwei/drei/... Onkel und meine Tante" zu schreiben?
Guter Vorschlag. Ich habe gleich "Drei Onkel und meine Tante" daraus gemacht.
Aber das wurde deinem Erzähler wohl so berichtet: "Wir standen alle um diesen Eimer herum und dann kam der Pfarrer ..."
Ja.
Genau, er stellt sich das vor, weil er nun die Wahrheit zu kennen glaubt. Das wurde ihm nicht erzählt. So lese ich das.
Ja, ich habe versucht, die Fakten den Vorstellungen gegenüberzustellen, die Grenzen aber fliessend zu gestalten.
Wahnsinn, welch grausames Spiel die Grossmutter da trieb.
Das finde ich auch.
Ein grossartiges und zugleich intimes Stück ist dir da gelungen
Danke dir sehr für diese Einschätzung! Mir hat es ein wenig den Ärmel reingezogen und ich bin gerade dabei, den Text zu erweitern und daraus ein grösseres Stück zu gestalten, bzw. ein Mosaik ähnlicher Kürzesttexte zu erstellen.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Lieber @Peeperkorn,
dieser Text ist eine Wucht. Solch ein dichtes Gewebe. Jeder Satz hat Gewicht, jeder Satz wirkt, kein Wort lungert herum, ich habe beim Lesen die Zahnräder hinter meiner Stirn arbeiten hören. Ich habe nichts weiter anzumerken, außer einem beeindruckten Dankeschön.
Gruß
bvw

 

Lieber @brudervomweber

Eine schöne Überraschung hast du mir bereitet, danke dir dafür. Ja, ich habe versucht, maximal zu verdichten. Wobei "verdichten" in gewisser Hinsicht der falsche Begriff ist. Wenn ich über mein Schreiben nachdenke, glaube ich zu erkennen, dass bei mir der dichte Text eher am Anfang eines Prozesses steht. So auch hier: Das Thema hat sich für mich nicht erledigt und ich habe inzwischen eine deutlich längere Version verfasst, die ich allenfalls irgendwann hier einstellen werde.
Deine wohlwollende Rückmeldung kommt in einer Zeit, in der ich den rauen Wind der literarischen Welt ausserhalb dieses Forums gerade wieder ein bisschen spüren darf. Auch deshalb habe ich mich über deinen Kommentar besonders gefreut. Danke dir!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Peeperkorn,

nachdem der Text hier jetzt noch einmal aufgepoppt ist, obwohl seine Hauptbesprechungsphase wohl schon vorbei ist, und nachdem du jetzt eine längere Version ankündigst, will ich auch noch etwas zu ihm sagen. Allerdings habe ich ein wenig die Sorge, dass ich wieder als Miesepeter wahrgenommen werde. Bisher finden sich ja unisono fast nur sehr lobende Worte für den Text und auch ich finde ihn prinzipiell sehr gut. Indes bin ich einfach ein kritischer Geist, der zwanghaft nach Schwächen und Ungereimtheiten sucht, und wenn er sie nicht findet, sie vielleicht auch erst (für sich) erschafft.

Wie dem auch sei, ich schicke das vorweg, um klarzumachen, dass es mich gerade Überwindung kostet, mich von der Mehrheitsmeinung abzusetzen, zumal du jetzt auch noch den rauen Wind der literarischen Welt ansprichst.

Zunächst einmal ist das – ich weiß gar nicht, was hier der richtige Begriff ist: Plot? Stoff? Geschichte? – ist das einer dieser Stoffe, die wie Gold sind. Man braucht sie eigentlich gar nicht "zu erzählen" und sie machen schon Eindruck, weil sie so viel Wucht in sich tragen. Man hört sie einmal und merkt sie sich, erzählt sie vermutlich weiter. Meine Mutter hat vor einiger Zeit auch mal etwas über eine Bekannte von ihr erzählt, in vielleicht zehn Sätzen beim Abendessen, und ich dachte: Alter, das ist schon ein Roman, man braucht es nur auszuschmücken.

Du gehst hier jetzt natürlich genau den anderen Weg und verdichtest bis zum Gehtnichtmehr, im Wortsinne. Knapper wäre es kaum noch gegangen. Dabei triffst du aber ein paar Entscheidungen, die ich nicht ganz nachvollziehen kann, wenn ich wirklich nur Leser des Textes bin, und nicht auch noch in die Rolle eines Autors springe, oder den Text im literarischen großen Ganzen verorte und mich frage, wo er sich dort wie von was absetzen muss, um Eigenständigkeit zu demonstrieren. Ich habe darum eigentlich keine Kritik, sondern eher Rückfragen.

Die erste wäre, warum du die Dinge so im Unklaren lässt. Das Wasser im Mund, aber auch der Eimer. Mir ging es hier wie auch schon jemand in den Kommentaren, dass ich beim ersten Lesen Verständnisprobleme hatte. Ich habe dann leider den Fehler gemacht, nach dem ersten Lesen die Kommentare zu lesen, also nicht noch einmal mit dem Text auf Sinnsuche zu gehen. Aber anyway – warum spricht der Text hier nicht aus, was mit dem Kopf passiert und was im Eimer ist (no pun intendend)?

Ich frage mich das als Leser, aber auch, wenn ich mir die Sprechsituation des Textes anschaue. Graut dem Erzähler so vor dem Inhalt des Eimers, dass er es sogar vor sich selbst nicht aussprechen kann? – Denn in meinen Augen spricht er den Text für sich selbst. So erzählt man ja nicht anderen Leuten eine Geschichte, weder solchen, die das Szenario schon kennen, noch Unbeteiligten. Warum also kaschiert er vor sich die nackte Wahrheit? Da komme ich nicht ganz hinter. Gerade das Grausame ist doch für gewöhnlich das Eindrücklichste, das Physische (Blut, Spliter etc.) ist das, was man sich am besten vorstellen kann.

Noch weniger verstehe ich zweitens den motivischen Kern des Textes, also die Sache mit dem Glas. Ursprünglich wollte ich in meinem Kommentar nur folgende Frage stellen:

Warum spielt es eine Rolle, ob der Großvater das Wasser schon im Mund hatte oder ob er es in einem Glas mitgenommen hat?

Da finde ich auch nach drei Tagen Nachdenken keine Antwort drauf. Das ist doch im Rahmen des ganzen Geschehens vollkommen belanglos, oder?

Ich verstehe diese Frage in ihrer tragenden Funktion für den Text, ich verstehe, welche Möglichkeiten sie dir als Autor geboten hat und ich verstehe auch die Wirkung, die sich dann für den Leser entfaltet durch die Bilder und Gedanken über das Glas.

Aber ich verstehe nicht, warum diese Frage wichtig ist.

Ich verstehe auch nicht, warum der Erzähler nicht eine andere Fragen stellt, an der sich der Text aufhängt. Da sind doch objektiv betrachtet viel näherliegende Fragen, die sich stellen. Zum Beispiel:

Warum haben all diese Leute in den Eimer geguckt?

Das wäre für mich zum Beispiel eine Frage, die sich aus dem Geschehen heraus stellt und bei der ich direkt verstehen würde, warum sie den Erzähler beschäftigt. Stattdessen sagt er nichts zu dieser grausamen und kuriosen Szene, wo sich alle um den Schädelbrei versammeln.

Noch eine bessere Frage, weil sie irgendwo genau die Absurdität der aktuell gestellten Frage mit dem Wasser beinhaltet, aber eben aus dem Geschehen heraus viel stärker abgestützt ist, fände ich:

Ob sie den Eimer später weiter benutzt haben?

Das ist eine Frage, die sich einfach stellt, nachdem, was passiert ist.

Wie schon angemerkt, bin ich dieses Mal nicht meinem ersten Impuls gefolgt, sondern habe ein paar Tage über die Story nachgedacht. Und ich habe diesen Kern des Textes nicht verstanden.

Aber vielleicht is it just me und du hast genau so einen Grund für die Frage, der sich nicht aus der Textkonstruktion, sondern wirklich aus dem Szenario heraus ergibt, und ich habe ihn nur nicht gesehen.

Um noch einmal den ganzen Bogen zu fassen: Ich denke, der Stoff ist stark, Stil und Form passen auch, ich würde mir den Text nur expliziter wünschen, weil man ihn so auch direkt versteht – zumindest auf den Suizid bezogen. Nur so hat das für mich Wucht. Wenn ich den Bang nicht verstehe, ist es kein Bang mehr. Der Suizid an sich ist ja auch klar wie sonst was passiert. Das war keine Vergiftung, kein selbst initiierter Autounfall. Klarer kann man sich ja gar nicht umbringen. Warum hier also kryptisch schreiben? Das Kryptische sollte sich in meinen Augen auf die Hintergründe beschränken, finde ich. Da ergibt das für mich Sinn, das sich das erst entfaltet beim Leser und da hat man dann erneut eine Wucht in dem Moment, wo sich die ersten leisen Vermutungen bestätigen. Und eben: Das Kernmotiv mit dem Glas, das ist für mich bislang willkürlich, ergibt sich nicht aus der Logik des Szenarios und den naheliegenden Reaktionen darauf.

Ich bin gespannt auf deine Antwort und hoffe, dass der raue Wind bald abflaut.

Freundliche Grüße

HK

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey @H. Kopper

Danke dir sehr für deinen Kommentar. Ohne kritische Rückfragen deinerseits fehlt einfach was unter einem Text, wie ich finde.

Wie dem auch sei, ich schicke das vorweg, um klarzumachen, dass es mich gerade Überwindung kostet, mich von der Mehrheitsmeinung abzusetzen, zumal du jetzt auch noch den rauen Wind der literarischen Welt ansprichst.
Keine Sache. Erstens sehe ich mich selbst immer häufiger in der Rolle des Miesepeters und mein Vorgehen ist oftmals nicht so umsichtig wie deines. Zweitens ist das im Forum eine ganz andere Sache. Hier kommt es zum Dialog, wohingegen im rauen Wind draussen du oftmals mit einem "Njet" dastehst oder einem "Meh!" ohne irgendwelche Begründung und ohne die Möglichkeit, nachzufragen und ins Gespräch zu kommen. Drittens war es jetzt gerade nur ein Windstoss, der zugegebenermassen geschmerzt hat, aber ich weiss auch, dass es wieder sanfte Brisen und warme Lüfte geben wird.

Deine Fragen finde ich spannend, ich versuche sie der Reihe nach zu beantworten.

Die erste wäre, warum du die Dinge so im Unklaren lässt. Das Wasser im Mund, aber auch der Eimer. Mir ging es hier wie auch schon jemand in den Kommentaren, dass ich beim ersten Lesen Verständnisprobleme hatte. Ich habe dann leider den Fehler gemacht, nach dem ersten Lesen die Kommentare zu lesen, also nicht noch einmal mit dem Text auf Sinnsuche zu gehen.
Drei Punkte. Erstens wurde mir die Geschichte (über meinen Grossvater) genau so erzählt. Das Wasser im Mund, der Eimer. Für mich ist auch klar, dass sie so erzählt werden musste, ich hätte es als pietätlos empfunden, wenn sie mit mehr Realismus angereichert gewesen wäre. So habe ich es versucht, in diesen Text zu übertragen. Zweitens - und dem ersten Punkt ein Stück weit zuwiderlaufend - finde ich, dass gerade die Aussparung die grösste Wirkung haben kann. Ich bin kein Horrorspezialist, aber es wird doch häufig gesagt, dass der Stoff am besten einfährt, wenn man von der Gefahr, dem Monster nur Andeutungen sieht und der Rest wird der Fantasie überlassen.
Das bedeutet aber drittens, dass zumindest klar werden muss, was eigentlich geschieht. Und das habe ich falsch eingeschätzt. Ich dachte, Wasser im Mund gehöre zum suizidalen Allgemeinwissen (vielleicht weil ich die Story schon als Kind gehört habe). Und ich dachte, das mit dem Eimer sei sofort einsichtig. Da habe ich mich geirrt. In der erweiterten Fassung mache ich das daher expliziter, ich habe den Text gerade nicht vor mir, aber ich glaube, das Wort "Schädelstücke" kommt vor. Insgesamt: Ja, das ist eine gute Frage und ich habe bereits entsprechend angepasst.
Ich frage mich das als Leser, aber auch, wenn ich mir die Sprechsituation des Textes anschaue. Graut dem Erzähler so vor dem Inhalt des Eimers, dass er es sogar vor sich selbst nicht aussprechen kann?
In meinen Augen ist es wie gesagt eher eine Frage der Pietät. Wenn ich jemandem vom Tod eines Angehörigen erzähle, dann erwähne ich vielleicht den Hirnschlag, aber nicht den Speichel, der aus dem Mund tropfte - ausser der Sterbeprozess als solcher wäre das Thema.
Gerade das Grausame ist doch für gewöhnlich das Eindrücklichste, das Physische (Blut, Spliter etc.) ist das, was man sich am besten vorstellen kann.
Das sehe ich anders, siehe oben, Punkt 2. Oder anders gesagt: Ja, du musst es dir vorstellen, ich will es dir nicht unter die Nase reiben.
Warum spielt es eine Rolle, ob der Großvater das Wasser schon im Mund hatte oder ob er es in einem Glas mitgenommen hat?
Das sollte eine der Fragen sein, die sich mir zumindest aufdrängen, wenn ich mit solchen Nachrichten konfrontiert werde. Details, die nicht relevant sind, ich weiss. Und doch frage ich mich: Wie genau hat er das gemacht? Hat er zuvor noch gegessen? Hat er Schuhe angezogen oder ist er in Pantoffeln zur Scheune? Also für mich ist die Sache mit dem Wasser eine Frage, die sich mir stellt. Ich kann es nicht so recht erklären, aber vielleicht hofft man darauf, dass die Antwort auf eine solche Frage hilft, das Ganze besser zu verstehen. Anders gewendet: Ich wollte gerade zeigen, dass sich Menschen angesichts solcher Nachrichten eben nicht hinsetzen und eine Liste von Fragen geordnet nach ihrer Relevanz erstellen. Die Fragen schiessen durch den Kopf und gehen auch nicht mehr weg, wenn man darüber nachdenkt, ob sie relevant sind.
Warum haben all diese Leute in den Eimer geguckt?
Haben sie nicht. Nur der Pfarrer tut das. Sie standen darum herum, so hat man mir das erzählt. Ja, das hat etwas Surreales, Absurdes und genau deshalb habe ich das Bild in den Text genommen. Diese Hilflosigkeit: Der Vater im Eimer (wörtlich) und was nun?
Ob sie den Eimer später weiter benutzt haben?
Das ist doch genau eine Frage derselben Kategorie! Wie kommt man denn auf so eine irrelevante Frage? :D Tatsächlich habe ich in der erweiterten Version daran gedacht, den Eimer nochmal ins Spiel zu bringen, habe aber keine nicht plakative Stelle gefunden. Deine Frage scheint mir anzuzeigen, dass wir gar nicht so weit auseinanderliegen bezüglich der Details, die in einen solchen Text reingehören. Du hast bloss an andere gedacht als ich. Aber ja, ich sehe, dass der Text und du nicht ganz auf der gleichen Spur sind, und das liegt glaub schon daran, dass der Suizid ein kleines bisschen zu verklausiert dargestellt ist.

Danke dir sehr für die Auseinandersetzung mit dem Text und deinen Input!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Vielen Dank für deine rasche Antwort, @Peeperkorn.

Hier hast du völlig recht:

Irgendwie zeigt mir genau diese Frage, dass wir glaub gar nicht so weit auseinanderliegen bezüglich der Details, die in einen solchen Text reingehören. Du hast bloss an andere gedacht als ich.

Ich finde es nur etwas schade, dass die Frage des Erzählers so ganz kontingent ist. Der Eimer war da - das Glas stellt er sich nur vor. Heißt: Irgendwie wird hier eine Kette von Assoziationen geschaffen, die nur auf einer Annahme beruht. Das nimmt dem Ganzen etwas Zwingendes in meinen Augen, und gerade das Zwingende ist irgendwie so sehr im Inhalt drin: Der Opa sah sich zum Selbstmord gezwungen.

Oder um es wie ein Philosophie-Nerd auszudrücken: Die Kette, die du da erschaffst, ist gültig, aber nicht unbedingt schlüssig. Unter der Annahme der Prämisse (Es gibt diese Frage und dann gibt es ein Glas), ist der Rest (Hirsch, Verbindung zu Carlo) folgerichtig, also nachvollziehbar. Aber die Prämisse, diese Frage, ist in meinen Augen nicht wirklich fest in der Psychologie des Erzählers oder im Text selbst verankert.

Ich muss natürlich jetzt aber auch noch einschränken, dass ich ja nicht wusste, dass es sich um deinen Großvater handelt. Damit wird eine so nüchterne Betrachtungsweise des Textes irgendwo direkt hinfällig. Es macht eben doch einen Unterschied, ob jemand von seinem eigenen Erleben spricht oder eine fiktive Figur bzw. ein fiktives Szenario erschafft. Im zweiten Fall kann man fragen: Ist das schlüssig? Ergibt das Sinn? Im ersten Fall muss man hinnehmen, was der Betroffene sagt, auch wenn man es persönlich vielleicht nicht nachvollziehen kann. Dieses Sich-Ausmalen von Details und Ausfantasieren von Situationen mache ich zum Beispiel im echten Leben gar nicht. Ich sehe diffuse Bilder und dabei bleibt es. Das heißt, ich wäre nie auf diesen Gedankengang mit dem Glas gekommen. Beim Eimer, den man nachher vielleicht noch benutzt, ist das irgendwie anders: Da schmücke ich nicht für mich ein Szenario bildlich aus, da suche ich nach Rückschlüssen auf die beteiligten Personen. Was würde das über sie aussagen, wenn sie den Eimer weiter benutzt haben? Was wären das dann für Leute? Und was heißt es, wenn sie ihn entsorgt haben?

Aber ich sehe, du hast das alles für dich klar, und so soll es ja auch sein! Wie gesagt, persönlichen Erinnerungen und Gefühlen kann und soll man ja gar nicht "widersprechen". Das wollte ich auch nicht.

(Natürlich in diesem Zuge auch mein Beileid, wenn man das so nennen kann: Es war sicher schwer, im Schatten so einer Tragödie und mit so einer verqueren Familiensituation zu leben!)

Freundliche Grüsse und spätestens bis zum nächsten kritischen Einfall ;-)

HK

 

Die Kette, die du da erschaffst, ist gültig, aber nicht unbedingt schlüssig.
Ha, letzte Woche besuchte ich einen Praktikanten, der mit seiner Klasse genau an diesem Thema arbeitet. :)

Ja, genau! Das ist ja ein wesentliches Merkmal des Textes, dass das, was sich der Erzähler zusammenreimt zum einen aus Prämissen zusammensetzt, von denen er annimmt, dass sie wahr sind (weil es ihm so erzählt wurde), zum anderen aus Prämissen, die er aus der Fantasie ergänzt. Daher das ständige: "Ich stelle mir vor". Mit dieser Formel wird stets auf eine Prämisse verwiesen, deren Wahrheitswert ihm unbekannt ist. In der "extended version" habe ich noch sehr viel mehr damit gespielt - zum Beispiel werden Sachverhalte, die zunächst unter "Ich stelle mir vor" eingeführt werden, vom Erzähler später auf einmal als Tatsache dargestellt. Das soll zeigen, dass sich unsere Erinnerung zusammensetzt aus Wissen und Vermutung, sodass wir am Ende allenfalls eine gülltige Kette haben, die in sich stimmig ist, bei der aber dennoch offen bleibt, ob sie der Wahrheit entspricht. Erinnerung als Konstrukt, das war für mich so der Kern des Textes.

Ich muss natürlich jetzt aber auch noch einschränken, dass ich ja nicht wusste, dass es sich um deinen Großvater handelt. Damit wird eine so nüchterne Betrachtungsweise des Textes irgendwo direkt hinfällig.
Ne, finde ich nicht. Ich habe das auch nicht als Rechtfertigung anbringen wollen, sondern nur als Erklärung (Philo-Nerdisch: Lediglich die Genese, nicht die Geltung wollte ich darlegen.) Und sei ein Thema noch so persönlich: Wenn man darüber schreibt, entäussert man die Thematik und macht sie damit der nüchternen Betrachtungsweise zugänglich. Insofern finde ich deine Fragen weiterhin berechtigt.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

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