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Die Hexe muss sterben.
‚Bald kommt der Morgen’, denkt sie und schaut aus dem Fenster. Die Äste der Kastanie vor dem Haus heben sich vor dem grauen Himmel ab. Wolken gewinnen an Form.
‚Bald! Bald ist alles vorbei’, fügt sie hinzu und lauscht auf die langsamen, röchelnden Atemzüge aus dem Bett hinter ihr.
Sie dreht sich nicht um. Vielleicht macht die alte Hexe sonst die Augen auf.
Und sie will sie nie wieder ansehen müssen.
Dieses selbstzufriedene Lächeln, die gefärbten, stets hochtoupierten Haare, den Lippenstift auf ihren Zähnen, die abgekauten lackierten Fingernägel, sie will es nie wieder sehen. Allein bei dem Gedanken daran krampft sich ihr Inneres schmerzhaft zusammen. Ihr Herz ist ganz kalt vor Hass.
Und dann diese Stimme, die sagt: „Früher war alles viel schöner. Als wir alle noch zusammen gewohnt haben. Warum der Junge nur ausgezogen ist, ich weiß es gar nicht, er hatte doch alles. Alles haben wir für ihn gekauft. Einen Fernseher, eine Musikanlage... Alles hat er gehabt... Und hat immer oben in seinem Zimmer gesessen. Ganz zufrieden. Hat sich nie über irgendetwas beklagt. Alles hatte er...“
Nein, den Mund hat er nie aufgemacht. Das war nicht seine Art. Bis heute nicht. Er hatte immer nachgegeben, immer getan, was als guter Sohn von ihm erwartet wurde.
Bis zu dem Tag, als sie ihn überredet hatte, mit ihm zusammen zu ziehen. Nachts waren sie zu ihm nach Hause gefahren und hatten einen Koffer gepackt und waren klammheimlich wieder verschwunden. Und dann hatten sie zusammen in ihrem winzigen Studentenzimmer gehaust. Das war wohl ihre glücklichste Zeit gewesen.
Bis der gute Sohn wieder nachgegeben hatte. Bis er sich wieder mit seiner Mutter versöhnte. Und das Schlimmste war, sie selbst hatte ihm noch gut zugeredet, weil er doch sonst keine Verwandten mehr hatte.
Dabei war sie nie gut genug für seine Mutter gewesen. Allein schon ihre Herkunft! „Das machen doch nur die dummen Bauern!“ Das war einer ihrer Sprüche, wohl wissend, dass die Eltern der Schwiegertochter einen Bauernhof bewirtschaftet hatten.
Und bei ihrer Hochzeit spitze Bemerkungen hinter vorgehaltener Hand. „Der Brautstrauß sieht ja aus wie selbstgemacht! Und dieses Kleid...“
Und immer kamen neue Vorwürfe.
„Der Junge ist doch so talentiert! Und jetzt kommt er mit dem Studium nicht weiter.“ „Was will er nur von dir!“ „Du willst ihn doch nur ausnehmen!“ „Ich kenne solche wie dich!“ „Herzlos bist du, eiskalt!“ „Du hast so gar kein Mitgefühl, wenn ich mich mal nicht gut fühle!“
Sie schnaubt leise durch die Nase, als sie daran denkt, während sie die Dohlen in den Bäumen beobachtet. Fast klingt es wie ein Lachen.
Und das von jemand, der ihnen zum fünften Hochzeitstag eine selbstgebastelte Krone mit einem Ochsen drin geschenkt hat. „Ochsenhochzeit!“ weil immer noch keine Kinder da waren. Und dabei wünschten sie sich nichts sehnlicher.
Nicht einmal da hatte der gute Sohn etwas gesagt, als seine Mutter selbstgefällig mit der Krone herumspielte und darauf wartete, dass er sagte, wie schön sie die doch gemacht hatte. Als seine Mutter gegangen war, hatte er die Krone wortlos, aber mit Tränen in den Augen in den Müll geworfen.
Wie hatte sie nur jemals so naiv sein können, zu glauben, es würde besser, wenn sie ein Kind bekämen.
Als sie endlich, endlich schwanger war, war der erste Kommentar ihrer Schwiegermutter gewesen: „Das kostet aber eine Menge Geld! Glaubt ja nicht, dass ich euch was gebe!“ gefolgt von: „Mit fünfunddreißig bist du doch eigentlich schon viel zu alt für ein Kind.“
Ihre kleine Tochter wurde vergöttert, weil sie dem Vater so ähnlich sah. „Genau wie der Junge früher!“ Die Kleine wurde geherzt und gedrückt, geschaukelt und in die Höhe geworfen, bis sie endlich weinte. „Der Junge mochte das immer so gern! Komisch, dass sie weint! Das Empfindliche, das hat sie wohl von dir.“
„Lass Mutter!“ hatte ihr Mann gesagt. „Sie hat doch sonst niemanden!“
Sie hatte niemand am Muttertag, da mussten Sohn und Enkeltochter sie besuchen. Sie hatte niemand zu Weihnachten. Da saß sie bei ihnen im Wohnzimmer und begutachtete den Baum. „Naja, wir hatten früher immer einen bis zur Decke!“
An jedem anderen Feiertag saßen sie bei ihrer Schwiegermutter ihre Zeit ab. Es kam nicht darauf an, was sie bei ihrem Besuch taten, nur, wie lange sie da blieben. Die Nachbarn sollten nur das Auto vor der Tür sehen.
Als sie vor ein paar Jahren vorsichtig angedeutet hatte, dass sie wegen der Arbeitslosigkeit ihres Mannes dieses Jahr außer für die Kleine keine Weihnachtsgeschenke kaufen könnten, kam die spitze Bemerkung: „Früher hat der Junge mir immer was geschenkt, das war ihm das Allerwichtigste! Seiner Mutti ein schönes Geschenk zu machen.“
Als sie etwas erwidern wollte, hatte sie nur die Hand ihres Mannes auf ihrem Arm gespürt und seinen Blick gesehen. Da hatte sie geschwiegen und hatte ein Geschenk besorgt.
Sie hatte immer nur geschwiegen und getan, was von ihr erwartet wurde. Auch als die Schwiegermutter krank wurde. Vor ein paar Jahren fing es ganz schleichend an.
Anrufe, in denen sie ihrem Sohn dreimal ein und dieselbe Geschichte erzählte. Termine, die sie nicht einhielt, Treffpunkte, an die sie sich nicht mehr erinnerte. Ihre Brille, die sie in den Kühlschrank legte. Lange Zeit wollten sie es nicht wahrhaben, aber dann kam die Diagnose: Demenz.
Als es noch nicht so schlimm war, hatte es ausgereicht, einmal am Tag in ihrer Wohnung nach dem Rechten zu sehen. Zu Anfang hatten sie sich abgewechselt, ihr Mann und sie, dann war wieder alles allein an ihr hängen geblieben. Schließlich hatte sie ja keine Arbeit und daher Zeit.
Sie hatte ihrer Schwiegermutter immer etwas zu essen mitgebracht, um zu verhindern, dass sie wieder vergaß, nach dem Kochen den Herd auszustellen. Sie war zum Arzt mitgegangen und zur Bank. Damit war allerdings Schluss, als ihre Schwiegermutter ihr unterstellte, ihr Portemonnaie gestohlen zu haben.
Dann, vor ein paar Wochen hätte die Hexe beinahe ihr Haus angezündet. „So kann es nicht weitergehen,“ hatte ihr Mann zu seiner Mutter gesagt. „Du wirst zu uns ziehen. Wir machen dir das Gästezimmer zurecht.“
Zum ersten Mal hatte die gute Schwiegertochter protestiert.
„Ich kann sie doch nicht in ein Heim stecken!“ war seine Antwort gewesen. „Egal wie sie ist, schließlich ist sie meine Mutter.“
Da hatte sie geschwiegen. Sie hatte sogar darüber nachgedacht, das Kind zu nehmen und wegzulaufen. Aber sie hatte nicht den Mut dazu.
Denn sie liebt ihren Mann, trotz allem und immer noch liebt sie ihren Mann. Ihn jetzt zu verlassen, hätte gehießen, seine Mutter hätte am Ende doch noch gewonnen. Da kam ihr der Gedanke.
Sie wusste genau, wie sie es anstellen musste. Nur eine große Ampule Insulin und eine Spritze brauchte sie. Und eine Nacht, in der sie niemand überraschen würde. Geduldig hatte sie gewartet, bis sich die Gelegenheit ergab.
Es ist hell geworden. Ein grauer, trüber Morgen im Winter. Ganz still ist es, kein Vogel singt. Das röchelnde Luftholen hat aufgehört.
Sie betrachtet die tote Frau im Pflegebett. Die struppigen Haare, die eingefallenen Wangen, die pergamentene Haut. Es tut ihr nicht leid.
Sie geht zum Telefon und wählt die Handynummer ihres Mannes, der auf Geschäftsreise ist.
„Du solltest nach Hause kommen", hört sie sich selber sagen. "Ich glaube, deine Mutter ist tot...“