Hallo Echnaton!
Ich fürchte, ich kann zu diesem Thema nicht viel Konstruktives beitragen, da es mir an geeigneten literarischen Beispielen fehlt. Ich lese kaum Gegenwartsliteratur und speise meine Erfahrung dem gemäß aus Literatur vergangener Jahrzehnte.
Was fehlt Euch konkret in der neuen Literatur?
Ich möchte da für die Phantastik-Literatur sprechen, und zwar jene, die wir auf KG.de vorfinden. Mir fehlt der Mut zum Risiko! Fast jede Geschichte hier ist nach einer bestimmten Schablone gepresst, mitunter sogar deutlich an die Gussform ("liest sich wie King") erinnernd. Wir - und da nehme ich mich nicht aus! - schreiben meist mit der Angst im Hinterklopf, den Leser zu verstören, ihn mit etwas Unbekanntem zu konfrontieren. Dabei lieben wir es bequem: Wie schön, in der Horrorgeschichte läuft ein Werwolf rum, die Fantasy-Geschichte handelt von Zauberern und in der SF durchleben wir das zehn Millionste Zeit-Paraxoxon.
Dazu passend:
Gut, wie sollten wir wahrnehmen? Was sollten wir tiefer wahrnehmen, empfinden? Liegt es an der ständigen Bombardierung mit Werbung, Lärm, Nachrichten, Bildern?
In den USA gab es die berühmten "angry young Men", die sich einen Scheiß um Vorbilder scherten, um gut abgehangene Klischee-Plots, um moralische Zeigefinger, etc.
Ich würde mir wünschen, dass wir den Mut aufbrächten, das Bekannte hinter uns zu lassen und in den dunklen Wald zu schreiten. Möglich, dass wir mit etwas Verwirrendem konfrontiert werden und verändert daraus hervor gehen. Aber einen Versuch wäre es doch wert, denke ich. Ansonsten - ich spreche hier wirklich nur von "meiner" Schiene! - drehen wir uns munter im Kreis.
Ich denke da zB an Ira Levin ("Rosemary´s Baby", "Boys from Brazil") bzw. Will Friedkin ("Exorzist"), die vor etwa dreißig Jahren auf radikale Weise die Phantastik-Literatur umkrempelten, wie ein Wirbelwind hineinfuhren und keinen Stein auf dem anderen ließen. Ganz frech verbanden sie uralte Motive - Hexen, Dämonen, Exorzizien - mit gegenwartsbezogenen Elementen und schufen so den Nährboden für King&Co.
Ich könnte mir gut vorstellen (ist aber reine Mutmaßung), dass ihre Manuskripte dutzendfach abgelehnt wurden mit dem Hinweis, so etwas könne man doch dem Leser nicht zumuten und niemandem würde so etwas Abgefahrenes interessieren.
Das müsste uns auch gelingen: Den Leser zu überraschen. Ihn nicht sanft in den Schlaf wiegen, sondern ins Gesicht schlagen und anbrüllen. Etwa das, was die Splatterpunker vorhatten, aber woran sie scheiterten, da sie ihre Radikalität auf ein Element - den Ekel - beschränkten, wo es doch mehr bedarf, um Menschen aufzuwühlen.
All zu verlockend wäre es, auf die neuen Medien, den Stress, den technischen Fortschritt hinzuweisen und festzustellen, dass wir überfordert sind von der schieren Masse an Eindrücken.
Dem würde ich jedoch gerne mal widersprechen: Ich bin hundertpro davon überzeugt, dass JEDE Generation seit etwa 200 Jahren (auf ein Datum will ich mich festlegen; aber ich würde sagen, so etwa industrielle Revolution herum) sich dieser Situation ausgesetzt fühlt. Drehen wir das Rad hundert Jahre zurück: Autos, Flugzeuge, Radio, Telefon,... Wie atemberaubend muss all dies gewirkt haben auf die Generationen?
Ich abstrahiere jetzt einfach: Ist es verwegen zu behaupten, dass Handys, Internet, Computer, Herzschrittmacher, etc. im Grunde die selben verstörenden Faktoren sind? Dass sie "ältere Generationen" stumm vor Ehrfucht hinterlassen und jüngere begeistern?
Ich bin kein Historiker, aber vermutlich haben auch damals viele den Kopf geschüttelt und den viel zu raschen Wandel bejammert und befürchtet, künftige Generationen würden heillos überfordert von ihren eigenen Erfindungen werden. Heute fahren wir Autos, jeder hat ein Telefon, hört nebenher Radio und fliegt in den Urlaub.
Mit ist es deshalb zu billig, auf die Technisierung mit all ihren gesteigerten Elaboraten hinzudeuten, als wäre es etwas vom Himmel herab gestiegenes, das uns geistig überfordert.
Die subtilen Wahrnehmungen sind immer noch da: Der Lärm der Straßen, der Gestank der Städte, der Smog, die Neon-Reklamen können es nicht verdecken!
Warum sonst sind Lovecrafts Erzählungen, Frankenstein, Vampire, etc. immer noch beliebt, ja, beliebter denn je? Weil wir Menschen geblieben sind. Selbst wenn du dir einen Smoking anziehst, teure Ringe trägst und in der First Class im Flugzeug sitzt, bist du ein Mensch, gesteuert von deinen Instinkten. Wenn das Flugzeug plötzlich in ein Luftloch sackt, wirst du Grün im Gesicht und siehst dich bereits an die Flugzeugwände verteilt.
Oder haben wir wirklich "zu wenig" erlebt? Ich denke, wahres Erleben findet im Kopf statt.
Für die meisten von uns sicher. Wir müssen uns nicht mit Hungersnöten herumschlagen, Stammesfehden, Bürgerkriegen, etc. Anstatt uns zu fragen, ob wir im Winter genug zu essen haben werden, ob das Dach über dem Kopf dem Sturm stand hält und ob unser Kind heil vom Krieg nach Hause kommt, sorgen wir uns um unsere Pensionen, die Telefonrechnung und ärgern uns über unfähige Politiker.
Es gibt - falls es sie je gab! - keine großen Abenteuer für uns, wie sie in Hollywood-Filmen suggeriert werden. Statt dessen müssen wir sie "erfinden".
Ich gehe mal von mir selber aus: Ich staune immer wieder, welche Erlebnisse andere Menschen hatten, welche Erfahrungen sie sammelten. Mein Leben ist dermaßen öde, dass ich nur in Büchern und Filmen Zuflucht finde. Nicht, dass ich mich danach sehne, in einem Schützengrab mir die Hosen vollzupissen oder mich dem Herrn der Unterwelt zu stellen. Aber um ein Gefühl von Lebendigkeit zu bekommen, strecke ich immer wieder meine Hände nach dem ältesten unserer Gefühle aus: Der Angst.
Vielleicht hat die Jetztzeit einfach nichts mehr zu bieten?
Oberflächlich betrachtet mag das so scheinen. Und tatsächlich beziehen viele ihre Motive aus alten Stoffen. Deshalb die vielen Holocaust-Geschichte, Erinnerungen an Hiroshima und Stalingrad, Nacherzählungen alter Sagen wie Merlin oder die Nibelungen, nostalgisches Träumen von einer Welt voller Dinosaurier, etc.
Ich denke aber, man muss nur die Augen offen halten: Stell dir vor, irgend so ein Irrer entführt ein Flugzeug und lässt es in Temelin reinkrachen. Unwahrscheinlich? Vor drei Jahren hätte man die Ereignisse von 2001 als absurd abgetan. Und doch ist es geschehen. Es waren ganz normale Menschen, die ganz normale Flugzeuge entführten! Keine Aliens mit ihren Laserstrahlen vom Planeten XYDFDKLJF haben das WTC vernichtet - Menschen waren es.
Vielleicht haben die Leute Recht, die behaupten, Handys könnten Tumore erzeugen? In 30 Jahren vielleicht wird man zurückblicken und sich darüber wundern, wie fahrlässig wir mit dieser Gefahr umgingen, genau so wie die am. Regierung, die ihre eigenen Soldaten munter verstrahlte um zu sehen, was geschieht.
Oder die als Globalisierung getarnte Verschwörung der mächtigsten Konzerne der Welt. In ein paar Jahren wird es vielleicht nur noch drei, vier große Autokonzerne geben, zwei große Computererzeuger und zehn alles beherrschende Pharma-Konzerne.
All dies sind Entwicklungen, die nicht über Nacht statt finden. Da stecken Geschichten dahinter, kleine und große Triumphe und Tragödien. Wir müssen sie nur erkennen.
Was meint Ihr, sollten wir in der Schreibe ändern?
Ich für meinen Teil muss lernen, radikaler zu werden, gewissermaßen "darauf zu scheißen", ob eine Geschichte vielleicht gut ankommt, wenn ich dies und jenes streiche, dieses oder jenes Wort weg lasse. Bei den Plots mehr Risiko nehmen, bei den Charakterisierungen realistischer werden.
Jedenfalls nehme ich mir das schon länger vor. Keine Ahnung, ob´s gelingt.
Was ich als "guten Rat" für alle anderen Bereit halten möchte: Schreibt so, dass es eure Geschichte ist, hinter der ihr voll und ganz steht.