Der Zuhörer
Der Zuhörer
Das aufdringliche Klingeln eines Telefons riss ihn aus nächlichen Träumen und alltäglichem Wahnsinn hinein in eine unwirklich scheinende Geschichte. Noch an der Existenz der Realität des Moments zweifelnd stürzte er stolpernd und suchend in die Richtung des penetranten Tons. Eine unbekannte Stimme wirkte verzweifelter als jede der anderen ihm unbekannten Stimmen und kannte seinen Namen. „Sie müssen mir helfen, bitte, Sie sind meine einzige Hoffnung.“ flehte sie und offenbarte ihm eine verworrene Kurzform ihres Lebens. Eine Anzahl komplizierter Gründe und Faktoren die mit ihrer Vergangenheit zu tun hätten zwingen sie dazu ihre Wohnung nicht zu verlassen...
Was ihn betrifft, müssen wir nicht viel wissen. Alles was vorher war ist nicht mehr wichtig. Dass er neben seiner Tätigkeit als Radioseelsorger auch privat ein Ohr für die Probleme seiner Mitmenschen und Freunde hatte und Gefallen daran fand seine eigenen Sorgen durch die anderer zu ersetzen mag helfen zu erklären, warum er sich gleich am morgen nach dem seltsamen Anruf auf den Weg machte, den Besitzer der Stimme zu treffen. Dieser hatte den Körper eines Mannes mittleren Alters und den Namen Daniel Quinn. Ängstlich öffnete er die Tür und ließ seine wie er ihn genannt hatte einzige Hoffnung in die einsam wirkende Wohnung. Quinns blasse Haut bildete einen unheimlichen Kontrast zu der düsteren Atmosphäre seiner Umgebung und liess seinen Besucher schaudern. Nach dem ersten Schreck erholte er sich jedoch bald und freundete sich schnell mit dem schüchternen Quinn an. Seine Geschichte interessierte und faszinierte ihn sehr und er willigte sofort ein ihm zu helfen.
Ob dieser Moment oder ein früherer darüber entschied, dass alles ausser Kontrolle geraten sollte ist schwer zu sagen. Fest steht nur, dass er von nun an all seine Gedanken auf Quinn und seine Sorgen konzentrierte.
Alles was er tun musste, um seinem neuen Freund zu helfen, war eine Frau zu finden um ihr eine glaubwürdige Geschichte über das Verschwinden oder besser den Tod ihres Liebsten zu erzählen. Sophie machte sich scheinbar ernsthafte Sorgen um den verschollenen Quinn. Kein Wunder, denn vor ungefähr einem Jahr hatte er jeglichen Kontakt zu allen Bekannten und Verwandten abgebrochen um sich hier in dieser winzigen Wohnung vor Irgendwem oder Irgendetwas zu verstecken. Doch sie gab die Hoffnung nicht auf, was unzählige Vermisstenanzeigen in diversen Tageszeitungen bewiesen.
Sie zu finden war nicht schwer, auch eine plausible Geschichte über den Tod Quinns zu erfinden fiel ihm leicht. Nur die Vorstellung, dieser Frau eine solch lebensveränderne Lüge zu erzählen und ihr dabei in die Augen sehen zu müssen, liess ihn nicht ruhig schlafen.
Als es soweit war, er vor ihrer Tür stand und in Gedanken noch ein letztes Mal den auswendig gelernten Monolog über Quinns tragisches Schicksal probte, überkamen ihn Zweifel. Was mache ich hier eigentlich, warum helfe ich diesem armen Irren während ich eigentlich an mein Leben denken und versuchen sollte, meine eigenen Probleme zu lösen? Eine Antwort fand er nicht, und als Sophie die Tür öffnete und ihn mit einem atemberaubend fragendem Lächeln ansah, vergass er die Frage und alles andere.
Ein sekundenlanges Schweigen liess ihn hilflos erscheinen. Ein zitterndes „Hi“ brachte er über die Lippen. „Ich kenne ihren Freund.“ Das fragende verwandelte sich in ein ratlos verwirrtes Gesicht.. „Daniel Quinn! ich habe ihre Anzeige gesehen, in der Times. Ich hab ihn vor einem Jahr..ähm, kennengelernt.“ Sie sah aus als würde sie ihn entweder gleich umbringen oder ihm um den Hals fallen wollen. Den Tränen nahe und völlig schockiert. „oh....wirklich?..äh..kommen Sie doch rein, bitte!“
Fragmentartig nahm er ihre Wohnung wahr; an der Wand ein Bild eines Künstlers, den er kannte, dessen Namen ihm aber nicht einfiel, ein grosser roter Sessel vor dem laufenden Fernseher, eine halbleere Weinflasche mit einem einzelnen Glas daneben auf dem Tisch, Bücher, überall im Zimmer verteilt. Nervös starrte sie ihn an, während er auf dem Sofa Platz nahm und anfing, eine neue, nicht zuvor auswenig gelernte Lüge über Quinn zu erzählen. Irgendetwas von einem Flugzeug und Europa und einer Überraschung für seine Freundin. Genau kann er sich später nicht mehr erinnern. Quinn selbst sagte er natürlich alles sei planmäßig gelaufen.
An diesem Morgen geschah etwas mit ihm, besser gesagt begann etwas mit ihm zu geschehen. Liebe? Vielleicht. Sicher. Aber nicht nur, da war noch etwas anderes, undefinierbares. Er fühlte sich so vollkommen anders, ein ganz neues Gefühl überkam ihn, das er versuchte zu ignorieren, weil es ihm Angst machte.
Von nun an besuchte er Sophie jeden Tag, die meiste Zeit redeten sie über Quinn. Sie erzählte ihm alles über ihn, gemeinsam rätselten sie über Quinns Verschwinden, während er sich immer mehr in sie verliebte. Doch fast noch mehr interressierte er sich für Quinn und das was wohl wirklich mit ihm geschehen sein mochte. Da Quinn ihm den wahren Grund für sein Versteckspiel nicht verraten würde, versuchte er es auf eigene Faust herauszufinden. Man könnte sagen er war besessen von Quinns Geheimnis, doch herausfinden sollte er es nie.
Einige Wochen später, immernoch auf der Suche nach einer Lösung und auf dem Weg zu Sophies Haus, traf er in dem Cafe, in dem er jeden Morgen frühstückte, einen alten Freund, dem er so oft ein guter Zuhörer gewesen war. Doch dieser erkannte ihn nicht und meinte das müsse ein Missverständnis sein.
Völlig durcheinander kam er zu Sophie, die ihm die Tür aufmachte, ihn ansah als hätte sie einen Geist gesehen, ihm Freudenstränen weinend um den Hals fiel, und ihn „Daniel“ nannte.