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Der rote Teil des Meeres
Hinter dem Sicherheitsglas und der grauen Masse des Mittelmeeres wird es Tag, blutrot und kitschig.
Ich starre über den weiten Balkon hinaus nach draußen, und hinter mir erklingt aus den Lautsprechern ein Lied über Rosen. In meinem Kopf toben Gedanken wie ein Gewitter, doch körperlich fühle ich mich seltsam entrückt. Mir kommt ein sehr seltsamer Einfall: Der rote Teil des Meeres, so denke ich, verschluckt das Morgen.
Keine fünf Minuten später steht Mallorca-Gerd mir so nahe gegenüber, dass man ihn küssen könnte, und seine Augen sind weit und blutunterlaufen. Er murmelt etwas Unverständliches, und ein letztes Mal bläst er mir seinen sangriafruchtigen Atem entgegen.
Dann seufzt er, taumelt und fällt rücklings zu Boden, wobei sein Hinterkopf beim Aufschlag auf die dunkelroten, sündhaft teuren Marmorfliesen ein derartig dumpfes Knirschgeräusch verursacht, dass er mir für einen Augenblick beinahe leid tut.
Wie paralysiert bleibe ich stehen, starre weiterhin in den Sonnenaufgang und muss mich nach einer Weile dazu zwingen, in die Realität zurückzukehren.
Er atmet noch; sein Bierbauch ragt empor wie ein wankender Vulkan, der aus der Stichwunde unablässig Lava spuckt; ich glaube zwischen all der weißen, braunen und roten Flüssigkeit sogar einen grünlich schimmernden Farbton zu entdecken, traue mich aber nicht, näher hinzusehen, wie sich sein Kaschmirpullover mit ihm voll saugt. Ich fürchte, mich übergeben zu müssen.
Man singt immer noch von Rosen, die ganze Scheibe scheint von nichts anderem zu handeln. Malle-Gerd mag sie sehr, diese stachligen Pflanzen, hinter der Villa blühen sie zu Dutzenden.
Gerade als die Boxen gesagt bekommen wollten, wo die Blumen sind, stach ich ihm das Messer in den Wanst.
Ich drehte mehrmals am Griff, bis er schlüpfrig wurde, und als ich das Messer herauszog, fiel er um wie ein gefällter Baum.
Ich bin mir sicher, dass er nicht überleben wird. Nicht in seinem Zustand, nicht mit einer derartigen Verletzung, nicht ohne sofortige Versorgung.
Nun liegt Mallorca-Gerd also vor mir, hilflos und schwach, mit viel Weiß in den Augen und einem Zittern im aufgedunsenen Gesicht, und ich stehe im Abendkleid und mit Mordwaffe da und lasse mir die ersten, schwachen Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen...
Wie pietätlos.
So knie ich mich neben ihn auf eine unbesudelte Stelle des kalten Marmors um ihn herum, versuche zu lächeln und beuge mich über ihn, so gut es geht.
Meine Haare fallen ihm entgegen und rahmen sein immer bleicher werdendes Gesicht ein, auf dem der Tagesanfang malt wie ein Kind.
I wanna lie in a bed of roses, behaupten die Lautsprecher.
Er atmet immer noch, flach aber beständig, hört man genau hin und achtet nicht auf die Musik.
Ich hasse dieses Rasseln seiner verschleimten Kehle. Für einen Augenblick habe ich den Impuls, sie ihm zu zerfetzen. Ihn zu würgen oder sein Gesicht zu zertreten, all das geht mir in diesem kleinen Zeitsplitter durch den Kopf, Bilder, so wie man sie aus den kurzgeschnittenen Gewaltszenen mancher Horrorthriller kennt.
Doch mir fehlt die Kraft.
Stattdessen hauche ich ihm ein „Schwein“ ins Gesicht und bade einen Moment in seiner Hilflosigkeit.
Er hebt eine Hand, ich erschrecke, aber sie sinkt sofort darauf kraftlos zu Boden. Willst mich anfassen, Schwein? Nie wieder, nie wieder.
Dann reiße ich mich von seinem Gesicht ab und wische das Messer an seiner Chino-Hose ab.
Es kommt mir immer schwerer vor, dieses Messer, und es braucht ein wenig Mühe, überhaupt wieder aufzustehen. Länger als ich dachte muss ich neben ihm gekniet haben, denn das in meine Beine zurückströmende Blut verursacht ein widerliches Kribbeln.
Mallorca-Gerd zuckt leicht, als ich ihn verlasse. Noch einmal fängt er an, kraftlose unverständliche Satzfetzen zu stammeln. Ich nehme sein kleines silbernes Mobiltelefon vom Glastisch. Meister, Meister, gib mir Rosen, Rosen auf mein weißes Kleid, verlangt die Musik noch, dann schließe ich die Tür hinter mir und werfe das Motorola zusammen mit dem Messer in eine Mülltonne neben seiner Hauseinfahrt.
Mir ist nicht einmal kalt, obwohl es noch so früh ist. Ich wende mich, an der schlecht ausgebauten Straße angekommen, nach rechts, werfe meine hochhackigen Schuhe hinter einen der vertrockneten Büsche und gehe talwärts.
Den ersten Kilometer denke ich gar nichts. Mein Gehirn ist abgestellt, kein Gedanke existent. An – aus. Funkstille. Ich würde jetzt wirklich gerne irgendwas einschmeißen, ganz egal was.
An einer scharfen Kurve kommt mir ein klappriger Pritschenwagen mit Friedenstaube auf dem Tankdeckel entgegen und hupt wild, während der zahnlückige Fahrer versucht, gleichzeitig zu lenken und eindeutig zu gestikulieren.
Ich lächele ihm nach und hoffe, noch während ich diese Grimasse schneide, an einen Unfall. Erst dann wird mir bewusst, dass meine rechte Hand noch von Malle-Gerds Körperflüssigkeiten beschmutzt ist. Augenblicklich wird mir schlecht und ich erbreche mich haltlos im Straßengraben, wobei ich mir die Beine an einem Dornengeflecht zerschneide.
Ich wische alles mit einem nett geschnittenen Zipfel des Kleides ab, bevor ich weiter gehe.
Der Wind küsst das Blut auf meiner sorgfältig enthaarten Haut, und die Gedanken kommen wieder.
Vom Flieger aus betrachtet liegt diese Insel im Meer wie eine gebrochene Frau auf den Laken. Wie weit war alles gekommen. Ich musste meine Tränen unterdrücken, während wir zum Landeanflug übergingen. Also setzte ich meine Sonnenbrille auf, die ohne Rahmen, und die urbane Fratze Palmas spiegelte sich darin.
Mallorca-Gerd war ein hässlicher, lärmender Mensch mittleren Alters, der zu schnell an zu viel Geld gekommen ist. Mit seinen Immobiliengeschäften finanzierte er sich ein paar abartige Neigungen, draußen in der kahlen Einöde, in der Villa mit Blick auf das Meer.
Der Taxifahrer wusste sofort, wohin er fahren musste, und der Senior beglich großzügig den überteuerten Fahrpreis, nachdem wir angekommen waren.
Meine Gedanken fließen ineinander und verrühren sich zu einer dickflüssigen Masse, welche die Zeit vertreibt.
Junge Frauen. Er wollte junge Frauen, die das Geld brauchten und abschalteten, stillhielten.
Sein Pech, mein Pech: Er ging zu weit, es ging nicht.
Zuhause wohnte ich nahe einer Hundeschule. Eines Tages ließ man wieder alle neuangekommenen Hunde auf die Wiese, damit sie um die Rudelfolge balgten.
Wie immer stürzte sich die ganze Meute unter höllischem Gebell aufeinander. Bis auf einen Husky, der seelenruhig auf einem nahen kleinen Hügel im Gras saß und den Kampf betrachtete.
Erst nachdem sich ein Schäferhund den ersten Platz im Rudel erkämpft zu haben schien, griff er das kräftige, aber ausgelaugte Tier an und besiegte es.
Mallorca-Gerd war so wie der Husky gewesen, irgendwie.
Einen Schritt vor den anderen. Der oftmals brüchige Asphalt ist noch kühl von der Nacht, aber die Sonne wird immer stärker. Ich habe die Brille vergessen, verdammt. Sicherlich habe ich schon Schweißflecken. Meine Fußsohlen tun höllisch weh, aber irgendwann legt sich der Schmerz.
Vor mir liegt der nächste Ort, ein kleines heruntergekommenes Dorf, das sich in den Schatten des kahlen Berghanges krallt und dort wohl oft übersehen wird.
Ich streiche durch meine Haare. Ich habe sie rot gefärbt und mir Rastas machen lassen.
„Wie Napalm“, hat Mallorca-Gerd gesagt, als er es mit seinen Fettfingern berührte, und dabei lachte er ekelhaft und ich lächelte.
Inzwischen bin ich nicht mehr als ein Körper. Schaue nach innen.
So gehe ich weiter, ohne zu wissen wohin. Vielleicht zum Flughafen. Aber ich habe kein Geld. Mal sehen, ist doch scheißegal erst mal.
In den Gassen längs der Straße kommt mir eine alte Frau entgegen, starrt mich an, ich starre zurück, ihr zerfurchtes Gesicht tritt aus dem Schatten hervor, die Sonne malt darauf, ihr Gesicht quillt auf, ihre Augen werden groß, ihre Haare fallen zu Boden.
Mallorca-Gerd grinst mich böse an und lacht höhnisch, sein fetter Kopf auf den schmalen, gebeugten Schultern der Alten, unnatürlich weit herumgedreht, mich zu verspotten...
Ich taumle weiter, stoße gegen irgendetwas, verliere das Gleichgewicht, stürze nach vorne, Grün empfängt mich.
Ich greife in Pflanzen, unter mir zerspringt etwas, eine Welle von Schmerz, lautstarkes Gezeter, mein Bauch fühlt sich komisch an. Meine Hände greifen umher, stoßen um, ich krümme mich zusammen und schreie, schreie, bin nur noch Schrei, mein Bauch schmerzt, fremde Stimmen, wo, was und warum splittern durch meinen Schädel...
Ich bin mitten in einen der kleinen Stände hineingelaufen, von denen aus man vorbeifahrenden Touristen Blumen verkaufen möchte. Die Verkäuferin, ich sehe sie nicht, aber höre sie keifen, jemand greift nach mir, ich schlage nach ihm; um mich herum Blüten und Blätter, Schmutz und Tonscherben, was ist mit meinem Bauch, ich rudere ziellos mit den Armen, als drohe ich zu ertrinken, die Welt ist ein Schrei, mein Schrei, den nur die heranjaulenden Sirenen übertönen.