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Der Mann ohne Gehirn
Unter der linken Achsel des Mannes mit dem hängenden Kopf klemmte ein offenes Glas Bockwurst und mit jedem Schritt plätscherte ein wenig Wurstwasser auf die frisch gebohnerten Kaufhausfliesen. Er schob den Einkaufswagen mit schlurfenden Schritten an Petras Käsetheke vorbei. Sein Hemd hing in Zipfeln aus der Hose, die Haare waren fettig, der Hinterkopf kahl. Kurz hinter der Käsetheke hielt er an, griff in das Glas, angelte eine Bockwurst heraus, steckte sich die Spitze in den Mund und kaute genüsslich. Er schluckte und hielt das angebissene Würstchen nach vorne, zum Kindersitz. Der kleine Knirps mit dem grünweiß karierten Baseballkäppchen biss nach kurzem Zögern davon ab.
Petra sah während ihrer täglichen acht Stunden Käsetheke zwischen zwei und drei solcher Kandidaten vorbeigehen. Meistens vormittags, dann, wenn vernünftige Menschen arbeiteten, und meistens mit Kind im Einkaufswagen. Solche Kandidaten, das hieß Kunden, die ihre Einkäufe bereits im Laden öffneten, aßen und tranken.
Selbstverständlich hatte Petra nicht vor, sie daran zu hindern. Die Dinge, wie sie waren, waren gut so, wie sie waren. Klare Fronten. Zuständigkeiten und Nichtzuständigkeiten. Da war einmal die Käsetheke und auf der anderen Seite der Supermarkt. Und Petra arbeitete nicht für den Supermarkt. Petra arbeitete für Job&Sicher. Ein Tochterunternehmen der Käserei Jakobs mit Sitz in Luxemburg. Und ihre Aufgabe war es, Käse der Käserei Jakobs zu verkaufen, nicht, Kunden auf Punkt 7a der Hausordnung oder Paragraph 242 des Strafgesetzbuches hinzuweisen.
Jutta aus der Schuh-Abteilung, mit der Petra mittags manchmal Kaffee trank, konnte ein Lied von leeren Coladosen, zusammengeknüllten Chipspackungen und aufgerissenen Süßwarentütchen singen, die sie versteckt zwischen Socken, Badelatschen oder in Sneakern vorfand, Artikel, die von ihren »Käufern« ganz oder teilweise verzehrt worden waren und die es nicht mehr bis zur Kasse geschafft hatten. Dieser Mann mit dem Bockwurstglas war ein Paradebeispiel, ein Lexikoneintrag eines solchen Kunden.
»Keine Bewegung!«
Nanu. Petra sah interessiert auf. Eine Frau, hinten bei den Tiefkühltruhen. Sie stützte die Hände auf die Knie, als hätte sie gerade einen Dauerlauf hinter sich.
Petra veränderte ihre Haltung und verlagerte das Körpergewicht auf den linken Fuß. So war es besser.
»Halt, verdammt«, rief die Frau und rannte los. Sie rannte wirklich schnell. Es dauerte nur wenige Sekunden, da war sie auch schon an Petras Käsetheke vorbeigewetzt und packte, noch halb im Lauf, den Mann mit dem Wurstglas und riss ihn herum. Das Glas knallte auf den Boden und zerschellte. Uringelbes Wurstwasser ergoss sich über die weißen Fliesen, drei verbliebene Bockwürstchen hüpften über den Boden.
»Du Scheißkerl«, schrie die Frau.
Geil, dachte Petra. Endlich ein wenig Action. Die letzte zünftige Schlägerei vor der Käsetheke war schon eine Weile her.
»Lass meinen Sohn in Ruhe!«
Die Frau schlug mit der flachen Hand nach dem Gesicht des Mannes. Er wich aus, machte einen Ausfallschritt zur Seite und brachte damit etwas Abstand zwischen sich und die Angreiferin.
»Geh von dem Einkaufswagen weg.«
Der Mann bewegte sich nicht. Er gaffte die Frau an, öffnete langsam den Mund und biss von seinem Würstchen ab.
»Jetzt hau schon ab da!« Die Frau breitete die Arme aus wie ein angriffslustiger Sumoringer.
Als der Mann sich immer noch nicht regte, sah sie sich gleichsam grimmig und hilfesuchend um. Ihr Blick fiel auf Petra und ein ungläubiger Ausdruck legte sich über ihre Miene, ehe sie mit einem Mal wieder wütend wurde.
»Nun helfen sie mir doch, verdammt.«
Petra rührte sich nicht. Sie hatte nicht vor, sich in diesen Streit hineinziehen zu lassen. Sie wandte sich von der Szene ab, zog ihr Handy und wählte die Durchwahl der Geschäftsführung.
»Frisch- und Kompetenzmarkt GmbH«, meldete sich Hans-Peter, der stellvertretende Marktleiter.
»Hier die Käsetheke. Ich habe eine Familienstreitigkeit vor Ort. Glas ist zu Bruch gegangen.«
»Ach scheiße«, sagte Hans-Peter nasal, »gut, ich schick' jemanden.«
Er legte auf. Petra wandte sich wieder den beiden zu.
»Es kommt je-«
Sie brach mitten im Satz ab.
Der Mann hatte den Jungen im Genick gepackt und hielt ihn mit zappelnden Beinchen über der Pfütze mit den Glasscherben.
»Bitte geben Sie ihn her, ja«, sagte die Frau, »der Junge hat Ihnen doch nichts getan, oder?«
Der Mann schien sie nicht zu hören. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der Wurstwasserpfütze zu seinen Füßen.
»Geben Sie mir doch bitte meinen Sohn«, sagte die Frau verzweifelt, »bitte ... ja?«
Er löste sich aus seiner Erstarrung, bückte sich langsam herunter und fischte ein Bockwürstchen vom Boden. Er richtete sich wieder zu voller Größe auf, in der einen Hand der Junge, in der anderen das Würstchen, und stand einen Moment so da, als wüsste er nicht, was er als Nächstes tun sollte. Schließlich führte er die Hand mit der Bockwurst zum Mund.
Schnelle Schritte näherten sich.
Eine Frau – mittleres Alter, langes, wallendes Haar – kam aus der Regalreihe Haushaltswaren und Backwaren.
Sie blieb in der Flucht stehen. Ihr Blick glitt über das Durcheinander. Im ersten Moment schien sie geschockt, ja überfordert. Dann kam sie langsam herbei. Die letzten Schritte machte sie ganz vorsichtig, offenbar bedacht, keine lauten Geräusche mit ihren Absatzschuhen zu machen. Sie blieb hinter dem Mann stehen, zögernd, dann legte sie ihre Hand auf seine Schulter.
»Liebling«, sagte sie ruhig und als wäre es das Normalste der Welt, »wir müssen langsam los. Du verpasst noch deinen Arzttermin.«
»Arzt ... termin?«, fragte der Mann in monotoner Stimmlage. Er ließ den Jungen sinken, sodass dessen Fußspitzen den Boden berührten.
»Ist ... der heute?«
»Ja, Liebling«, sagte sie und deutete auf das Kind in seinen Händen, »was hast du denn mit dem Jungen vor?«
Der Mann betrachtete ihn und zuckte mit den Schultern.
»Weiß nich'«, sagte er.
»Dann lass ihn doch bitte los, ja?«
»Mhm«, machte er, »vielleicht eine gute Idee.«
Er setzte ihn vorsichtig auf den Boden neben der Pfütze und machte sich dann, einfach so, und ohne dass er dazu aufgefordert worden wäre, davon. Er steuerte auf die Regalreihe zu, aus der die Frau mit den langen Haaren gekommen war.
Diese sah ihm einen Moment lang nach, dann wandte sie sich der Mutter des Kindes zu, öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen – ihrem Gesichtsausdruck nach etwas wichtiges – aber, als fände sie nicht die richtigen Worte, nickte sie nur, drehte sich auf dem Absatz um und lief dem Mann hinterher.
Petra atmete aus und verlagerte das Gewicht wieder zurück auf den rechten Fuß. Ihr Puls jagte hoch bis zum Hals und sie konnte das Blut in ihren Ohren rauschen hören. Sowas Spannendes hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Fast Mittag.
Einige Jahre nach diesem Vorfall las Petra während der Mittagspause einen Artikel in der Zeitung über einen Mann ohne Gehirn. Der Artikel war reißerisch und Petra hatte ihn schließlich zur Seite gelegt und den Kopf geschüttelt. Denn einen Mann ohne Gehirn, den konnte es ja schließlich gar nicht geben.
Sieben Monate später
In der Mitte des Raumes lag ein Mann in einem Krankenhausbett, angeschlossen an Schläuche und Kabel. Eine künstliche Lunge blähte sich abwechselnd auf und fiel wieder in sich zusammen.
Lana saß im Halbdunkel am Rande des Raumes, direkt neben der Tür, und dachte nach. Über sich, ihn, die gemeinsame Zeit, die sie miteinander hatten, in guten wie in schlechten ...
Ein Klopfen.
Die Tür öffnete sich und ein Mann in weißem Kittel ging durch ihr Sichtfeld, nahm auf dem Stuhl neben ihr Platz.
Nachdem sie einige Sekunden lang still so dagesessen und die reglose Gestalt im Bett betrachtet hatten, brach der Arzt das Schweigen.
»Haben Sie eine Entscheidung getroffen?«
Lana schwieg. Als sie ein kleines Mädchen war, hatten sich unangenehme Dinge oftmals von alleine erledigt, wenn sie sie nur lange genug ignoriert hatte.
»Ich sehe, worauf das hinausläuft«, sagte der Arzt, »und das ist Ihr gutes Recht, aber ich bitte Sie trotzdem, sich die Sache noch einmal gut durch den Kopf gehen zu lassen. Ich weiß, es ist schwer, aber ...«
»Er bleibt.«
Der Arzt seufzte und legte die Stirn in Falten.
»Ihr Mann war wirklich tapfer. Er hat so viele Monate gegen die Wucherung gekämpft, aber am Ende hat er verloren. Sie müssen akzeptieren, dass er nie wieder aufwachen wird. Rein unter medizinischen Standpunkten gesehen, ist Ihr Mann tot. Mit Ihrem Einverständnis veranlasse ich alles, damit er in Ruhe und vor allem in Würde ...«
»Gehen Sie.«
»Wie bitte?«
»Ich möchte mit meinem Mann allein sein.«
Der Arzt erhob sich und besah sie nachdenklich, dann nickte er und verließ mit leisen Schritten den Raum. Als er die Tür hinter sich schloss, hatte die Stille etwas Tröstliches. Lana fand fast augenblicklich in den Gedanken zurück, den der Arzt, diese Person, die in allem nur das Schlechte sah, so unwirsch unterbrochen hatte. Die Menschen hatten vergessen, dass auf Tiefen irgendwann auch wieder Höhen folgten. Das war ganz unweigerlich so.
Der Mann dort in dem Bett, Lanas Mann, würde aufwachen. Egal was der Doktor sagte, ja, egal was alle Doktoren sagten, meinten oder davon hielten. Es würde womöglich dauern, aber am Ende, ganz am Ende, würde er aufwachen und alles wieder so sein, wie immer.
Einunddreißig Monate später.
»Nein, nein ... Scheiße«, schimpfte er und knüllte die Karte wütend in den Händen zusammen.
Lana steuerte den Wagen zum dritten Mal an der Autobahnauffahrt vorbei. Sie wartete einen Moment, bis er sich äußerlich beruhigt hatte. Dann stellte sie ihre Frage erneut.
»Also nicht auf die Autobahn?«
Er sah sie verärgert an.
»W-was weiß ich denn, verdammt«, sagte er und pfefferte die Karte in den Fußraum.
»Es ist d-deine scheiß Karte.«
Lana schwieg. Wenn er wütend war, war es besser, wenn sie ihn einfach reden ließ. Einen Moment saß er so da. Etwa zehn, vielleicht auch zwanzig Sekunden vergingen. Dann sagte er:
»Die Karte, die du gekauft hast, ist scheiße.«
»Du hast die Karte gekauft«, antwortete sie knapp und hätte sich im selben Moment dafür ohrfeigen können. Sie musterte einen Punkt irgendwo am Ende der Fahrbahn und bemühte sich um einen gedankenversunkenen Gesichtsausdruck. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie sein Kopf sich langsam zu ihr drehte. Ihr Puls beschleunigte sich.
»W-wie war das?«, fragte er leise.
»Ach nichts.«
»D-die Karte«, sagte er, »du hast von der Karte gesprochen.«
»Ist nicht so wichtig.«
Einen Moment war er still und betrachtete sie stumm. Während er sie beobachtete, kam es ihr so vor, als würde er körperlich wachsen. Dann sah er ruckartig zur Fahrbahn.
»Fotze.«
Lana erschrak.
»Was?«
Sie hielt den Wagen an einer roten Ampel und wandte sich ihm zu.
»Was hast du eben gesagt?«
Er schwieg. Lana versuchte, ihre Gefühle zu ordnen. Allen voran die Wut, die sich Gehör verschaffen wollte. Aber sie schaffte es, sie zurückzudrängen.
»Ich weiß ...«, ihre Stimme versagte. Sie räusperte sich.
»Ich weiß, dass du in den letzten Monaten viel durchgemacht hast, aber denkst du, ich hatte es leicht?«
Er schwieg. Lana deutete das als Zeichen, dass er zuhörte.
»Wie auch immer«, sagte sie, »was ich auf keinen Fall dulde, ist ...«
»F-fahr«, sagte er.
»Was?«
Ein Auto hupte.
»Fahr doch, verdammt.«
Lana drückte aufs Gas und reihte sich wieder in den fließenden Verkehr ein.
Sie fuhren ein paar Sekunden so. Dann sagte – vielmehr nuschelte – er leise:
»D-deine Karte, deine Schuld. Beschwer dich also nicht bei mir.«
Fünfzehn Monate früher.
»Aus diesem Grund wird der Angeklagte in allen Anklagepunkten freigesprochen.«
Als der Richter diese Worte ausgesprochen hatte, stemmte der alte Mann sich mit dem Krückstock in die Höhe.
»Freigesprochen?«, fragte er mit ungläubiger Stimme.
»Wie kann jemand für ... so etwas ... freigesprochen werden?«
»Beruhigen Sie sich.«
Der Mann in der schwarzen Anwaltsrobe, der eben noch neben dem Alten saß, hatte sich erhoben und tätschelte seinem Mandanten die Schulter.
Aber der Alte ließ sich nicht beirren, seine Stimme klang schrill, er schrie fast, als er weitersprach.
»Wie ist es möglich, dass so jemand-«
»Ich bin noch nicht fertig«, der Richter erhob das Wort und der Anwalt nutzte die Chance, um seinen Mandanten mit sanfter Gewalt zurück in den Stuhl zu drücken.
»Aufgrund der besonderen Schwere der Tat, hätte das Gericht normalerweise dem Antrag der Staatsanwaltschaft stattgegeben und zwei Jahre Freiheitsstrafe verhangen. Die Höchststrafe für diese Art von Sachbeschädigung.«
Der Alte fuhr in die Höhe und reckte seinen Stock gen Richter.«
»Sachbeschädigung? Der Boppie war mein bester Freund.«
»Hören Sie ...«, sagte der Anwalt versöhnlich.
»Lass mich«, der Alte schlug die Hand seines Anwalts weg, »der Boppie war alt und müde, eine liebe Seele ... Abends hat er gezittert, obwohl ich die Heizung aufgedreht habe.«
»Ich verstehe Ihre Situation«, sagte der Richter, »aber das Urteil ist gefällt. Aufgrund des Gutachtens des Doktors kann Schuldunfähigkeit ausgeschlossen werden. Außerdem wird der Angeklagte sich erneut in Therapie begeben«
»Therapie?«, schrie der Alte, »der Boppie hat doch nicht mal in seine Richtung geschaut. Der Kerl kam einfach daher, von der Seite, und trat ihm in den Rücken, immer wieder und wieder, bis der Boppie sich nicht mehr bewegt hat. Und auch dann noch.«
Er reckte seinen Gehstock in die Richtung des Angeklagten.
»Du Teufel«, schrie er, »du bist ein Teufel, ein verdammter.«
Der Angeklagte, der die gesamte Verhandlung über reglos einen Fleck an der ihm gegenüberliegenden Wand betrachtet und sich nicht mal geäußert hatte, als er vom Richter dazu aufgefordert wurde, drehte seinen Kopf nun zu dem Alten.
Er verzog dabei keine Miene. Sah den Alten an, als wäre er ein Gegenstand.
Der Alte verstummte, schien verunsichert, und sah wieder zum Richter.
»Der Boppie war doch das einzige, was mir noch geblieben ist auf dieser Welt.«
Man sah dem Richter an, dass es ihm schwerfiel, nicht ein wenig aus seiner autoritären Rolle herauszufallen.
Er räusperte sich.
»Es gibt eine Anlaufstelle für auf diese Weise Geschädigte. Ihr Anwalt wird sie dazu beraten.«
Er klappte das Mäppchen vor sich zu.
»Die Verhandlung ist geschlossen.«
Gegenwart
Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel auf den von Tannen umrandeten Parkplatz hinab. Lana und ihr Mann waren die Letzten in der Schlange vor dem Eingang der Tropfsteinhöhle. Ihr Blick wanderte über seinen kahlen Hinterkopf, wo sie ein ausgefranstes Muttermal entdeckte, an das sich ein schweißnasses Haar schmiegte. Sie konnte sich nicht erinnern, dieses Muttermal je bemerkt zu haben.
Die Stelle sah nicht gut aus, er sollte zum Arzt gehen. Einen Moment lang überlegte sie, ihn darauf anzusprechen. Aber sie ließ es. So wie er sich während der Autofahrt verhalten hatte, war nicht abzusehen, wie er auf eine solche Bemerkung reagieren würde. Sie hatte das dumme Gefühl, dass dieser Ausflug eine verdammt schlechte Idee gewesen war. Er war wie ausgewechselt, seitdem er das Haus verlassen hatte. Sie konnte nur hoffen, dass das alles nur eine unangenehme, kurze – und vor allem einmalige – Episode war. Ein Ausrutscher. Mehr nicht. Heute Abend würde sie ins Bett steigen und die Erinnerung daran nicht mit über die Schwelle des neuen Tages tragen.
Während sie so vor sich hingrübelte, landete ein dickliches Insekt auf dem Nacken ihres Mannes. Es saß einen Moment so da und wackelte mit dem schwarz glänzenden Hinterleib, dann drehte es sich behäbig auf der Stelle, erstarrte mitten in der Bewegung und kroch dann zielgerichtet auf das ausgefranste Muttermal zu. Lana erschauderte vor Ekel. Und als sie den fetten Käfer beim Kriechen beobachtete, fühlte sie sich schuldig, weil sie einfach nur glotzte. Sie wollte gerade etwas sagen, da schlug ihr Mann sich unvermittelt an den Hinterkopf. Er besah seine Handfläche, murmelte etwas Unverständliches und wischte die Hand an der Hose ab. Ein ockergelber, schmieriger Streifen blieb auf dem Stoff zurück. Er drehte sich um und sah Lana ausdruckslos an. Sein Mund verzog sich zu einem dünnen Lächeln. Sie konnte sehen, dass er sich dazu zwingen musste.
»Ist was?«, fragte er hohl.
»Nein«, antwortete Lana, »Mistviecher, was?«
»Mhm«, machte er und sein Blick richtete sich auf ihre Umhängetasche.
»Flasche.«
Lana blinzelte, dann öffnete sie den Reißverschluss der Umhängetasche und reichte ihm die Flasche mit dem Mineralwasser. Er griff danach, öffnete den Verschluss und stürzte die Hälfte des Inhalts hastig hinunter. Dicke Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.
»So langsam bekomme ich Hunger«, sagte sie.
Er verschloss die Flasche mit dem Deckel und reichte sie ihr zurück. Er musterte sie, leckte sich flüchtig über die Lippen.
»Hm?«, fragte er.
»Hunger«, sagte Lana und deutete auf den Eingang der Tropfsteinhöhle, »ob es da drin wohl die Möglichkeit gibt, eine Kleinigkeit zu essen?«
Er sah einen Moment so aus, als würde es ihm Schmerzen bereiten, darüber nachzudenken, dann lächelte er humorlos und wandte sich stumm um.
Sie rückten weiter, als die Familie vor ihnen das Drehtürchen zum Inneren der Tropfsteinhöhle passierte. Der Kassierer, ein junger Kerl mit weißem Polohemd und langen, schwarzen Haaren, begrüßte sie freundlich.
Lana öffnete den Reißverschluss ihrer Tasche und zog die Geldbörse hervor.
»Zwei Erwachsene«, sagte sie und reichte ihm einen Zwanziger.
Er nahm den Schein entgegen und als er das Wechselgeld herausgab, lächelte er.
»Viel Spaß.«
Lanas Mann sah den Kassierer verständnislos an.
»Viel Spaß w-wobei?«
Der Kassierer grinste, hielt es offenbar für einen Spaß.
»Na, in unserem Freibad «, er zwinkerte Lana zu, dann ihrem Mann.
»B-bist ein Spaßvogel, was?«
Das Lächeln des Mannes bekam einen leichten Knacks.
»D-denkst, du kannst mich und meine Frau blöd von der Seite anmachen und damit auch noch ungestraft davonkommen. Was?«
Das Lächeln des Kassierers verschwand.
»Einen schönen Tag noch«, sagte er kühl.
»Hältst dich wohl für g-ganz schlau, was?«
Der Kassierer wandte sich an Lana.
»Auch Ihnen einen schönen Tag.«
Lana hörte ein Klicken. Sie sah zu ihrem Mann und machte unwillkürlich einen Schritt zur Seite. Er hielt eine Waffe, einen Revolver oder etwas in der Art, und richtete sie auf den Kopf des Kassierers.
»L-lass meine Frau aus dem Spiel.«
Der Kassierer hob die Hände über den Kopf.
»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
»N-nun«, sagte Lanas Mann, »d-dann entschuldige dich bei meiner Frau.«
»Was tust du denn da?«, mischte Lana sich ein.
Er fuhr herum, richtete die Waffe nun auf sie.
»Du hältst die Fresse«, sein Gesicht verkrampfte sich vor Wut, »d-das hier ist ein Gespräch unter Männern.«
In diesem Moment stürzte sich der Kassierer auf ihn. Ein Schuss löste sich und ein heißer Blitz kratzte über Lanas Schläfe. Ihr wurde schwarz vor Augen, der Schmerz rückte in weite Ferne und die Welt war mit einem Mal ganz leicht.
Neun Monate früher.
»Und das ist der Grund, weshalb ich Sie heute sprechen wollte«, Lana stellte die Tasse auf den Stubentisch und lehnte sich auf der Couch zurück, »mein Mann ist ein denkendes und fühlendes Wesen«, die nächsten Worte sagte sie verächtlich: »Kein Roboter.«
»Aber hören Sie, Gefühle will ihm doch auch niemand absprechen«, sagte der Reporter beschwichtigend, »er ist natürlich ein Lebewesen, so wie Sie, ich und alle anderen Menschen.«
Lana nickte zufrieden.
»Genau«, sagte sie, »er ist so wie Sie und ich. Es ist arrogant, andere zu verurteilen, nur weil man sie nicht versteht.«
»Ganz Ihrer Meinung«, der Reporter hielt das Mikrofon ein wenig höher, »aber was wollen Sie den Menschen sagen, die Angst davor haben, was ihr Mann auch sein könnte?«
»Auch?«
»Na sie wissen schon, Spekulationen, wilde Gerüchte. Dann seine Wutausbrüche. Der Vorfall im Einkaufszentrum oder der mit dem kleinen Hund. Sie haben jetzt gerade die Gelegenheit, das alles zu entkräften.«
»Wieso muss ich irgendetwas entkräften?«
Der Reporter zog eine Augenbraue nach oben.
Lana starrte das Mikrofon an. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie den Mund aufmachte:
»Das ist doch alles Schnee von gestern. Ich habe keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen.«
Der Reporter verzog die Mundwinkel.
»Nun, Sie wollen doch aber nicht bestreiten, worin sich die Ärzte mehrheitlich einig sind.«
»Einig?«, fragte Lana gereizt.
»Na Sie wissen schon ...«
Der Reporter schien innerlich mit sich zu ringen. Dann gewann eine Seite die Oberhand und sein Gesicht bekam eine Härte, die vorher nicht da gewesen war.
»Ich spreche von der Tatsache, dass Ihr Mann lediglich menschliches Verhalten imitiert. Oftmals Negatives. Und das er sich eigentlich gar nicht selbst bewusst ist.«
»Sie meinen«, Lanas Stimme entglitt ins Schrille, »wie ein Tier?«
Der Reporter machte eine abwehrende Geste.
»Hey, das haben Sie gesagt.«
Lana merkte, wie ihre Hände vor Aufregung zu zittern begannen. Sie verschränkte sie ineinander und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall:
»Ich verstehe nicht, wieso alle Welt sich nur für diesen Teil von ihm interessiert. Es ist so viel mehr in ihm.«
Er nickte.
»Natürlich«, er lächelte, aber sein Lächeln wirkte unecht, »und vielleicht ist es das Beste, wenn er sich selbst dazu äußert.«
Lana sah ihn ärgerlich an. Bedingung des Interviews war gewesen, dass jegliches Gespräch mit ihrem Mann von vornherein ausgeschlossen war. Und so falsch wie er lächelte, hatte er das nicht vergessen.
»Ich meine ja nur«, sagte er, »jetzt wo ich gerade schon mal da bin.«
Lana erhob sich.
»Das Gespräch ist zu Ende.«
Sein Lächeln entglitt.
»Ach kommen Sie«, drängte er, »nur ein kurzes Gespräch.«
Er griff in seine Tasche, zückte einen goldenen Umschlag und legte ihn auf den Stubentisch.
»Mein Chef ist wirklich großzügig«, er zwinkerte, »eine Win-Win-Situation ... für Sie, mich und Ihren Mann.«
Als Lana ihn nur fassungslos anstarrte, legte er ein strahlend falsches Reportergrinsen nach.
Und bevor Lana ihn ohrfeigte, grinste sie zurück.
Sie schloss die Haustür hinter ihm und sein wütendes Geschimpfe vermischte sich mit dem gedämpften Rauschen des vorbeiziehenden Güterzuges. Eines musste man dem Blödmann von Reporter lassen. Er konnte verdammt schnell rennen. Sie sah durch das Küchenfenster nach draußen. Er reckte ihr vom Fußweg aus den Mittelfinger entgegen. Was für ein Schwachkopf, Lana ließ die Rollläden herunter.
Ihn sprechen? Hah. Auf keinen Fall. Lana ging durch die Stube in die Küche, stellte auf dem Weg die Teetasse in die Spüle. Die wenigen Male, als die Presse mit ihm gesprochen hatte, war es schlimm gewesen und nur immer noch schlimmer geworden.
Ein renommiertes Ärzteblatt bezeichnete ihn sogar als ›Mann ohne Gehirn‹. Lana lief es eiskalt den Rücken herunter. Sie konnte nicht verstehen, wie Menschen so grausam sein konnten.
Bevor sie den Hobbyraum betrat, klopfte sie.
»Schatz?«, sagte sie, »ich bin es, deine Frau.«
Keine Antwort. Wie immer.
Als sie eintrat, schallte ihr laute Wild-West-Orchester-Musik entgegen. Die Jalousien waren unten, die einzige Lichtquelle des Raums war der Fernseher. Sie drückte den Lichtschalter neben der Tür.
Er griff nach der Fernbedienung.
Der Western pausierte.
»Licht«, sagte er hohl.
»Aber Schatz«, antwortete Lana, »das ist ungesund für deine Augen.«
Einen Moment sagte er nichts, dann wiederholte er:
»Licht«, sagte er und fügte dann grobmotorisch hinzu, »Schatz.«
Lana lächelte. Sie konnte ihm einfach keinen Gefallen abschlagen.
Sie löschte das Licht. Der Western lief weiter.
Wenn er sich auf seine Filme konzentrierte, ruhte er tief in sich selbst. Es war schön, dass er nach allem, was er durchmachen musste, dem Hass, der ihm entgegengeschlagen war, etwas gefunden hatte, das ihm wirklich Freude bereitete.
Sie betrachtete die Rückseite des Sessels und fragte sich, ob er sich wohl ausmalte, ein Cowboy zu sein. Oder vielleicht ein Indianer? Sie musste grinsen. Nein, mit Sicherheit war er der Sheriff. Ja, der Sheriff.
Gegenwart
Lana war eisig kalt. Als sie die Augen öffnete, breitete sich vor ihr der Parkplatz aus. Es war bereits Abend geworden. Sie saß mit dem Rücken an einem Baum am Waldrand. Auf der Mitte des Parkplatzes stand ein Wagen mit laufendem Motor und abgeschalteten Scheinwerfern.
Die Erinnerung war sofort da. Nervenzusammenbruch. Sein schlimmster bisher. Irgendwas musste der junge Mann in ihm ausgelöst haben. Vielleicht seine Haare. Vielleicht die Art, wie er lächelte oder sprach. Was auch immer. Und dann die Pistole. Fast ein Jahr, nachdem Lana alle seine Waffen aus Vereinszeiten zusammengesucht und abgegeben hatte.
Was für ein Schlamassel.
Sie betastete ihre Schläfe, spürte unter den Fingern Bündel miteinander von Blut verklebter Haare. Toll, dachte sie. Klasse, gut gemacht, Lana. Sie tastete weiter, stieß dabei mit dem Ellenbogen gegen etwas weiches. Sie drehte sich um. Neben ihr, ebenfalls am Baum lehnend saß eine reglose Gestalt mit hängendem, auf der Brust liegendem Kopf und langen Haaren. Trotz der Dunkelheit konnte Lana sehen, dass das weiße Hemd mit dunklen Lachen übersät war.
Sie saß einige Zeit so da und betrachtete die leblose Gestalt. Sie vergaß dabei, zu atmen. Als ihre Brust zu drücken begann, verdrehte sie die Augen vor Schmerzen und wandte den Blick ab. Der Wagen stand immer noch unverändert in der Mitte des Parkplatzes. Der Motor schnurrte leise in der kalten Nachtluft.
Sie raufte die Haare. So ein Schlamassel. So ein verdammtes Schlamassel.
Dabei war er auf dem besten Weg gewesen, wieder ganz normal zu werden. Wieso hatte sie ihn nur zu diesem Ausflug gedrängt. Wieso nur? Wieso, verdammt?
Weil du es wolltest, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Weil du es nicht mehr ertragen hast.
Ein Ausflug, Liebling. Nur wir zwei.
Schöne Scheiße.
Darauf bedacht, nicht noch einmal an die am Baum lehnende Gestalt zu stoßen, stemmte sich Lana in die Höhe und streifte dabei Blätter und Zweige ab.
»Liebling«, rief sie in Richtung des Fahrzeugs.
Keine Reaktion.
»Alles in Ordnung, Liebling«, sagte sie, »mir geht es gut, ich komme jetzt und dann fahren wir nach Hause.«
Sie ging langsam, einen Schritt nach dem anderen. Behielt den Wagen dabei fest im Blick. Als sie ihn fast erreicht hatte, hörte sie das markante Geräusch der Zentralverriegelung.
Ohne noch irgendeinen der etwa ein Dutzend nicht zu Ende gedachten Gedanken zu Ende zu denken, öffnete sie die Fahrertür und setzte sich vors Lenkrad.
Sie saßen beide einen Moment so da, dann brach er das Schweigen.
»Hab mich halt aufgeregt.«
Lana antwortete nichts.
»Scheißdreck«, schimpfte er, »der langhaarige Arsch mit seiner blöden Fresse.«
Er holte hörbar Luft, wohl um erneut auszuholen und weiter zu fluchen, doch dann schwieg er überraschend, schloss den Mund für ein paar Sekunden.
»Tut mir aber trotzdem leid«, sagte er mechanisch, »auch das mit dir, meine ich.«
»Mhmm«, machte Lana, aber hörte eigentlich gar nicht, was er sagte. Sie war sieben Jahre alt, saß an einem verschneiten Sonntagmorgen am Küchentisch und teilte sich mit ihrem Vater ein Erdnussbutterbrot mit Marmelade.
»Mama hat gesagt, du hast eine Vier in Mathe geschrieben.«
Er sagte das auf diese Papa-Art, die Lana immer so an ihm gemocht hatte. Wertfrei, keine dummen Fragen, keine Schuldzuweisungen.
»Ja«, Lana kaute bedächtig, »ich glaub', ich bin doch zu blöd, um Tierärztin zu werden.«
Er nickte, so als stimme er ihr zu, aber mittendrin wurde das Nicken zu einem Kopfschütteln.
»Quatsch, Große«, er biss ein Stück von seinem halben Erdnussbutterbrot mit Marmelade ab und sprach mit vollem Mund weiter, »wenn du etwas wirklich willst, dann kann dich niemand davon abbringen.«
Er schluckte geräuschvoll.
»Und eine Vier in Mathe schon gar nicht. Denk immer daran, es gibt Höhen im Leben und es gibt Tiefen. Beide sind wichtig. Ohne das eine würde es das andere nicht geben.«
Lana musste unvermittelt grinsen. Rückblickend waren seine Worte natürlich ein bisschen kitschig. Nichtsdestotrotz hatte er mit seinen Weisheiten jedes Mal recht behalten. Und hiermit würde es nicht anders sein. Das alles hier, der heutige Tag, und was an ihm passiert war, würde schon morgen Vergangenheit sein. Lana legte den ersten Gang ein und der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Es würde womöglich dauern, aber am Ende, ganz am Ende, würde alles wieder so sein, wie immer.