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Der Mann, der in eine Garage ging und aus einem Flugzeug herauskam
Als ich auf die Dreißig zuging, baute sich der Vater meiner Freundin die Garage zum Flugsimulator um. Achttausend Euro und mehr, so erzählte mir seine Ehefrau, habe Walter schon in die Garage gesteckt. Seit langem habe sie schon Probleme mit ihm, er sei immer unleidlicher geworden und maulfauler, nachts gar nicht mehr ins Bett gekommen, habe dann immer längere Zeit in der Garage verbracht, immer größere Pakete bestellt, und nun verabschiede er sich regelmäßig vom abendlichen Esstisch mit dem Hinweis, er fliege die nächsten acht Stunden Frankfurt – New York, und sie solle nicht auf ihn warten.
Am Abendessen, so erzählte sie weiter, habe er ohnehin kaum noch Interesse. Er rühre das Brot nicht mehr an, auch die geliebten Senfgurken gefielen ihm nicht länger, er schiebe nur lustlos ein paar Cocktail-Tomaten auf dem Teller hin und her. Sie habe ihn dann darauf angesprochen, und er habe geantwortet, das sei wegen der Verdauung. Er könne ja wohl kaum einen Zwischenstopp machen bei Frankfurt - New York, am Ende noch irgendwo in der Karibik notwassern, um aufs Klo zu gehen. Dem Auto-Piloten vertraue er einfach nicht. Wenn sie sich denn wirklich Sorgen um so etwas mache, dann sei das sehr lieb, aber nicht weiter notwendig.
Da ich nicht im eigentlichen Sinne zur Familie meiner Freundin gehörte, fand ich, dass es nicht an mir war, mich dort einzumischen. Aber die Mutter meiner Freundin konfrontierte mich wieder und wieder mit diesen Dingen. Sie dachte, ich müsse mich doch auskennen, immerhin wäre ich in der Stadt gewesen, zum Studium. Sicher seien mir auch höhere Dinge nicht fremd und ein Mann in den späten 60ern, der sein Geld dafür ausgibt, in der Garage nach New York zu fliegen, falle in mein Gebiet.
Ich sagte. immerhin wisse sie ja, wo er sei. Da brauche sie sich keine Sorgen machen. Andere Männer, sagte ich, würden ihre Abende ganz anders verbringen und viel mehr Geld ausgeben. Ich sagte, das sei eine Skurrilität, ein interessanter Spleen, etwas, um das man Walter beneiden würde. Andere hätten ihren Garten, sagte ich, Walter habe nun mal New York. Daran sei überhaupt nichts auszusetzen.
Eines Tages jedoch kam ich von der Arbeit nach Hause und fand meine Freundin am Esstisch vor, sie hatte ihre Arme unter der Brust zusammengefaltet und als sie mich sah, tat sie bedrückt. Sie stand etwas schnippisch auf und ging noch schnippischer an den Kühlschrank, holte schnippisch einen Joghurt hervor und stellte den schnippisch auf den Tisch. Dann schnippte sie in meine ungefähre Richtung und sagte: „Joghurt.“
Ich sagte Vielen Dank.
Sie fand das nicht sehr komisch. Ich müsse doch merken, dass sie etwas bedrücke, sagte sie. So etwas müsse mir doch auffallen, mir fiele doch sonst alles auf. Für alles hätte ich eine Theorie, behauptete sie, nichts würde mir entgehen. Bei diesen Filmen, die wir immer sähen, sei ich unausstehlich, könne gar nicht aufhören, darüber zu quatschen, was die Figuren empfänden. Sei allgemein ein furchtbar anstrengender Besserwisser und Reinquatscher, ein nervender Übererklärer und Empfindling.
Empfindling sei kein Wort, sagte ich, und probierte von dem Joghurt.
„Für mich schon“, sagte sie, und jetzt solle ich mich mal zusammenreißen, aufhören hier an dem Joghurt herum zu neiseln und ihr mal ins Gesicht schauen. „Seh ich glücklich aus?“, fragte sie.
Ich verneinte.
„Warum seh ich nicht glücklich aus?“, fragte sie.
Ich überlegte, ihr eine Reihe von plausiblen Gründen anzubieten, entschied mich jedoch dagegen und bot ein „Hm“ an.
„Wegen meiner Mutter“, sagte sie.
„Wegen deines Vaters, meinst du?“, fragte ich.
Sie nickte.
Ich nickte auch.
Ich solle dann noch was vom Chinesen mitbringen, sagte sie und klang wie eine selbstzufriedene Frau, die genau weiß, wie sie ihren Freund zu allem kriegt. Sie koche heute nicht. Sie habe heute schon genug getan.
Als wäre es jetzt eine große Leistung gewesen, mich zu manipulieren, und als sei damit schon alles getan, um das Problem aus der Welt zu schaffen, nur weil man mal den Freund manipuliert hat.
Chinesisch, sagte ich, mal gucken, ob es das in New York so gibt. Das sagte ich, während ich schon die Tür aufgemacht hatte, um das letzte Wort zu haben.
„New York war gestern“, rief sie mir noch hinterher. „Heute ist der Rückflug dran. Er zieht das total durch, du musst dich wirklich darum kümmern, Mutter sagt, er isst schon gar nichts mehr, das ist ernst.“ Das rief sie mir noch nach, als ich schon die Treppe hinunterging, nur damit sie das letzte Wort haben konnte. Sie ist so, da darf man sich nichts vormachen. Sie seufzte dann erschöpft und schloss die Tür hinter sich und ich dachte bei mir so: Wenn Mädchen wie ihre Mutter werden, hätte ich es schlechter treffen können. Immerhin sorgte sich die Mutter meiner Freundin ja liebevoll um ihren Ehemann, außerdem hatte sie ein angenehmes Wesen und eine bemerkenswerte Figur für ihr Alter.
Während der Fahrt fiel mir aber ein, dass ich einmal gehört hatte, dass sich Mädchen ihren Freund auch so suchen, dass er sie an ihren Vater erinnert, und ich dachte lange darüber nach, ob mir das gefallen würde.
Als ich am Haus angelangt war, brannte noch Licht in der Küche und ich sah das Gesicht meiner designierten Schwiegermutter, gedankenverloren strich sie über einen Teller und lächelte mir zu.
Ich achtete nicht darauf, sicher hätte es ihr gefallen, mich noch mit letzten Anweisungen zu instruieren, mir ihre Gedanken und gute Wünsche mit auf den Weg zu geben, um das Problem zu lösen, von dem ich immer noch nicht wusste, ob es denn eins war.
Ich öffnete die Tür zur Garage, zu einem Ort, den ich noch nie betreten hatte, und schon blickte ich auf den Himmel über dem atlantischen Ozean. Walter hatte das Geld in einen Panorama-Bildschirm investiert, etwa acht Meter davor saß er in einem Pilotensessel und vor einem Cockpit, er hatte ein Head-Set auf, so dass ich ihn kaum erkennen konnte.
Das ganze wirkte von außen wie in den Spielhallen, wenn Jugendliche ein Rennspiel spielen, nur sind bei diesen Automaten die Bildschirme nur eine Armeslänge vom Gesicht des Spielers entfernt, bei Walter waren es mehrere Körperlängen. Über ein Dolby Surround Soundsystem flüsterte aus allen Ecken der Garage ein weißes Rauschen, ich versuchte ein Muster zu erkennen, vielleicht das Schreien von ein paar Möwen, aber es waren nur die Triebwerke zu hören. Vielleicht, dachte ich, stottert mal eins oder irgendwas, aber es war nichts zu hören.
Walter hatte mich indessen bemerkt und zeigte mit der rechten Hand energisch an, ich solle mich verpissen. Er wedelte mich regelrecht aus der Garage hinaus, doch ich schloss nur die Tür hinter mir, lehnte mich dann gegen eine Wand und lauschte dem Summen der Triebwerke, und wenn ich auf den Monitor schaute, sah ich dort die immer gleichen Polygon-Wolken vor sich hinziehen. Ich zog es vor, mich am Rande der Garage aufzuhalten, kam mir wie ein Eindringling vor, immerhin hatte er deutlich gemacht, dass ihn niemand hier besuchen durfte. Seine Frau, so hatte sie mir erzählt, habe es am Anfang wiederholt versucht, aber er habe sie überhaupt nicht wahrgenommen, was sie dann so verärgert hatte, dass sie ihn mehrmals später darauf angesprochen, aber nur ausweichenden Antworten erhalten habe.
Ich fragte mich, während ich im Halbdunkeln der Garage den Triebwerken lauschte, was meine Freundin nun wohl treibe. Ob sie es sich vielleicht mit einer Tüte Chips im gemeinsamen King-Size-Bett bequem gemacht habe und dort nun alles vollkrümelte, dabei sich vielleicht die Zehen pink lackierte, es sich ganz mollig machte, ihre Haut ganz weich, und sich beim Gedanken daran totlachte, dass ich hier in einer öligen Garage säße auf einer aussichtslosen Mission.
Und während sie sich mein Kissen noch unter das Kreuz legte, statt wie durch mich bei einigen Gelegenheiten vorgeschlagen, einfach ein weiteres zu kaufen, musste ich hier klamm an der Tür lehnen und dabei zusehen, wie jemand nach New York fliegt.
Nach einer Weile wurden die Triebwerke leiser, ich schreckte hoch aus meinen Überlegungen und glaubte nun, ein Stottern zu vernehmen, vielleicht eine Stichflamme aus irgendeiner Ecke der Garage lodern zu sehen, doch statt dessen hörte ich Walter sprechen: „Hör mal, Junge, ich weiß schon, aber du kannst ihnen doch sagen, mit mir ist alles okay. Du kannst ihr sagen, dass du mit mir geredet hast und dass mit mir alles in Ordnung ist.“
Jetzt erst erkannte ich, dass Walters Stimme aus den vier Ecken der Garage kam. Er musste dasselbe System benutzen, um wichtige Durchsagen an die Passagiere zu tätigen.
Ich sagte: Walter, die werden mir nicht glauben. Die machen sich Sorgen um dich. Ich hab keine Wahl, die wollen das verstehen.
„Dann erklär's Ihnen doch“, sagte Walter.
Dazu muss ich aber erst mal so tun, als hätte ich dich lange angeschaut und es verstanden, sagte ich.
Und er fragte: „Wie lange?“
Und ich fragte, ob ich ihn denn störe.
Und er sagte: „Ja.“ Ganz immens störte ich ihn, ich ruinierte alles, machte den ganzen Spaß kaputt, er könne meine Anwesenheit unmöglich ausblenden und ob es mir denn gefalle, fragte er noch.
Wisse ich nicht so Recht, sagte ich, käme mir alles ein wenig eintönig vor, so ganz ohne Luftkampf oder Möwen oder Brände oder so richtiger Aussicht.
„Ja“, sagte er.
„Wie Arbeit“, sagte ich.
„Ja“, sagte er.
Ich sagte dann nichts mehr. Ich schaute ihm noch ein bisschen dabei zu, wie er flog. Fünf Stunden hab ich ihm dabei zugesehen und als er dann zur Landung ansetzte, bin ich aufgestanden, hab die Garagentür geöffnet, bin nach draußen gegangen und hab die kalte Luft eingeatmet. Draußen sind die ersten Wagen losgefahren. Man kennt das ja, wenn eine Straße aufwacht, wenn die Menschen ihren Schlaf abschütteln und zur Arbeit gehen. Der Nachbar fährt, der andere Nachbar fährt, und im Haus der Eltern meiner Freundin brannte kein Licht.
Ich spürte Walters Hand auf meiner Schulter, er ging wortlos an mir vorbei, öffnete die Haustür, drehte sich noch einmal um und nickte mir zu.