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Der letzte Akkord
Sein Herz erwachte wieder zum Leben. Der schlimmste Schmerz war vorüber. Noch fiel ihm das Atmen schwer. Er fühlte sich unsäglich schwach. Langsam klärte sich sein Blick und er sah direkt in ihre großen, dunklen Mandelaugen. Sie schauten ihn sorgenvoll an. Mühsam versuchte er sich aufzurichten. Sofort hielten ihn mehrere Händepaare vorsichtig aber bestimmt zurück. In der Ferne waren Sirenen zu hören.
Auf der pelzigen Zunge schmeckte er schal den letzten Whiskey. Ihm war schlecht. Er lag zwischen umgestoßenen Hockern auf dem schmierigen Boden der Bar. Seine Gitarre mit gebrochenem Hals neben ihm. Vor vielen Jahren hatte er sie einem Pfandleiher abgekauft. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Schon damals war die Gitarre ziemlich ramponiert gewesen. Der Lack vom vielen Spielen stumpf und abgewetzt. An manchen Stellen schaute schon der blanke Holzkorpus hervor. Brandflecken ausgeglühter Zigaretten markierten die Kopfplatte. Gürtelschnallen hatten über die Jahre auf der Rückseite tiefe Furchen geschlagen. Überall trug sie Kratzer und Macken. Das Griffbrett war rund um die mittleren Lagen völlig heruntergespielt gewesen. Die Mechaniken und der Steg, verrostet vom Schweiß der Jahrzehnte. Man hatte sie wirklich nicht gut behandelt. Aber als seine Finger zum ersten Mal den kräftigen Hals entlang glitten, passte einfach alles. Es fühlte sich auf Anhieb so vertraut, so richtig an. Ihr Klang war absolut phantastisch, richtig schön fett und so schmalzig warm. Sie hatte ein schier endloses Sustain. Seit diesem Tag hatte die Gitarre ihn auf all seinen Reisen begleitet.
Dies war überhaupt das Beste an seinem Beruf als Pilot gewesen: das Reisen, die Langstreckenflüge. Alle paar Tage eine andere Metropole, ein anderer Kontinent. Nach der Scheidung, auch immer eine andere Frau. Seine kleine Tochter hatte es geliebt, Geschichten über fremde Welten und seine Erlebnisse dort zu hören. Wie er zum Beispiel auf einem Zwischenstop in Brasilien gemeinsam mit Indianern des Amazonasbeckens den Regenwald auf der Jagd nach Riesenschlangen durchwandert hatte. Gut den Panther hatte er dazu gedichtet und die Schlangen hatten sich schnell wieder in das brackige Wasser der Sümpfe zurückgezogen. Auch die Indianer waren Angestellte des Tourveranstalters, bezahlte Touristenattraktion. Oft sah er noch vor sich, wie sie ganz gebannt mit ihren großen blauen Augen und roten Wangen seinen Erzählungen lauschte. Durch die Trennung, hatte er nicht nur seine materielle Basis verloren.
Das Fliegen war sein Kindheitstraum gewesen. Und die Erinnerungen daran waren noch stets präsent, wenn er zum Himmel schaute. Die Faszination für die Technik. Das sich Tonnen von Stahl und Aluminium überhaupt in die Luft heben konnten. Das unbeschreibliche Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit aber auch Demut, wenn man nach dem ersten Start am Morgen durch die geschlossene Wolkendecke brach. Alles Triste und Verregnete weit zurück lassend. War unten noch alles dunkel und grau, wurde man oben schlagartig von der gleißenden Morgensonne empfangen. Oder, der weite Blick über ganze Kontinente. Nie wird er den einen Flug von Asien zurück nach Europa vergessen. Dreizehn Stunden lang konnten sie frei von Wolken und jeglichem Dunst auf die Erde schauen, die unter ihnen vorbei zog. Über Indien strahlte glänzend der weiße Marmor des Taj Mahal in den Himmel. Trotz mehr als zehn Kilometern Höhe schien es beinahe zum greifen nahe. Siedlungen und größere Städte wechselten mit stundenlanger Leere. Ewig flogen sie über die Gebirge und kargen Wüstenlandschaften der vielen Istans. Es schien als atmete die Welt ruhig und entspannt vor sich hin. Ganz friedlich. Unvorstellbar, das zur gleichen Zeit dort unten heftige Kriege tobten und Menschen starben.
Doch am Ende zermürbte auch ihn die Öde der immer gleichen Routine stückweise. Begeisterung wurde von Frust verdrängt. Alles hunderte Male gesehen und erlebt. Immer wieder die gleichen Hotels. Das gleiche minderwertige, durchgegarte Essen an den Buffets, dieselben nichts sagenden Gespräche. Dieselben nervigen Typen. Ein ewiger Rhythmus von zwei bis drei Wochen Absenz und einer Woche "Heimat". Jegliches soziale Leben verdorrte dabei unweigerlich. Natürlich hatte seine Frau das Sorgerecht zugesprochen bekommen. Sein Kind hatte er Jahre nicht mehr gesehen. Schichtpläne eines Langstreckenpiloten vertrugen sich nicht mit den vereinbarten Besuchszeiten. Irgendwann kündigte er sein kleines 1-Zimmer Appartement und lebte auch zuhause nur noch im Hotel. Die letzten persönlichen Dinge gammelten in einem Übersee-Container vor sich hin. Es war nicht nur billiger so.
Manche hatten es ihm prophezeit. Wäre er den Erwartungen und der Tradition gefolgt, säße er jetzt im Handelskontor der Familie in vierter Generation am Schreibtisch. Nun führte der Sohn von Vaters zweiter Frau das Unternehmen. Er stattdessen, lag hier auf dem harten und kalten Holzboden. Der Gestank von Erbrochenem stieg in seine Nase. Die Deckenscheinwerfer blendeten unsäglich. Wieder schoben sich ihre dunklen Augen in sein Blickfeld, in der Hand ein Glas Wasser. Traurig und sorgenvoll schaute sie auf ihn herab. Wieso konnte er sich nicht erinnern? Vorsichtig fuhr sie mit einer Hand hinter seinen Nacken. Ganz leicht hob sie seinen Kopf ein stückweit an. Er trank einen Schluck. Ihm war immer noch speiübel.
Am Ende hatte er nur noch für die nächste Destination seiner Routen gelebt. Die nächste Nacht. Ständig suchend nach Gleichgesinnten zog er durch die Clubs der jeweiligen Stadt. Begleitet von seiner Gitarre. Bis früh am Morgen spielten und tranken sie. Im diffusen Licht auf der Bühne stehend, tief versunken in Harmonien. Beinahe Zufriedenheit, beinahe Befriedigung empfindend - zumindest für einige Stunden. Dies war eine andere Welt, dies wurde seine Welt. Er wollte nur vergessen und doch kam mit jedem Schluck, mit jedem Ton die Erinnerung zurück. Immer stärker. Klar feuerten sie ihn bald. Aber dieser eine Moment damals war es - beinahe - wert gewesen. Mit beiden hatte er vorher noch nie zusammengespielt, und doch entstand an diesem Abend etwas Magisches zwischen ihnen. Sieben Stunden standen sie auf der Bühne, bis fünf Uhr früh. Am nächsten Tag brauchte er gar nicht mehr zum Dienst erscheinen. Das Telex mit der fristlosen Kündigung fand er unter der Tür durchgeschoben auf dem abgewetzten, stinkenden Teppich seines Hotelzimmers. Der örtliche Stationsleiter der Fluggesellschaft hatte im Publikum gesessen. Das war vor nun vier Jahren.
Gestrandet im östlichen Teil der Welt, zog er weiter von Bar zu Bar und von Bett zu Bett. Noch immer lebte er in dem schäbigen Hotelzimmer, dass er nach seiner letzten Ankunft bezogen hatte. Weite Reisen erlaubte seine Börse nicht mehr. Am Ende genügte ihm das Trinken. Nur wenn die aufgelaufene Zeche zu hoch war und der spärliche, monatliche Scheck seines Stiefbruders auf sich warten lies, mühte er sich ein paar Stunden. So lautete die Vereinbarung mit dem Besitzer. Alkohol gegen Töne, Rausch gegen Musik. Die Sirenen wurden lauter, schienen nun ganz nah. Er schaute in ihre Augen. Liebe und Sorge verbanden sich darin. Er empfand Liebe. Stechend fuhr der Schmerz erneut durch ihn durch, löschte schlagartig alles Licht. Jegliches Geräusch erstarb.