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Der Lauf
Obwohl ein paar ihrer roten Haarsträhnen an der Stirn klebten und die Schweißtropfen in den Augen brannten, fehlte Merle kaum etwas zum Abheben. Sie fühlte sich fit, der Waldboden flog unter ihren weißen Joggingschuhen dahin. Es war Ende Mai, der Wald roch nach Sommer, nach warmer Erde und schon nach Beeren. Der Bruch der Kniescheibe, die Operationen und monatelangen Physiotherapien nach dem Autounfall, das alles lag weit hinter ihr. Sie war wieder da. Auf ihrer großen Runde, in ihrem Leben! Dabei hatte kein Arzt einen Pfifferling darauf gewettet, dass sie je wieder so laufen würde, schon gar nicht kilometerweit. Merle lächelte in sich hinein und einem Fuchs hinterher, der ihr zu dieser frühen Stunde über den Weg lief. Dies war ihr Triumph! Über sich und über all die anderen, die ihr zur Vernunft und zum Stillhalten geraten hatten. Es war sogar ein Sieg über Michaels sorgenvollen Gesichtsausdruck: „Musst du wirklich schon wieder so weit laufen? Was ist, wenn du dich übernimmst? Oder dich jemand belästigt, so allein wie du da unterwegs bist? Da ist doch neulich erst was am Waldparkplatz passiert, fahnden die nicht nach einem dicken Blonden?“
Der weltbeste Joggingpartner - Jakob, Nachbars Großpudelmix – war inzwischen fünfzehn Jahre alt und nicht mehr bereit, sie auf weiten Strecken zu begleiten. Aber sie selbst fühlte sich viel zu stark und viel zu jung, um auf Momente wie diesen zu verzichten. „Ich hab' mein Handy Mick, und überhaupt, da soll sich mal einer trauen“, lachte sie seine Bedenken weg.
Während der vielen Monate, in denen sie die 14-Kilometer-Strecke durch den Wald und die angrenzende Heide nicht hatte laufen können, war manches anders geworden. Es gab neu angelegte Teiche, über ihrem sandigen Lieblingspfad lag eine umgestürzte Birke - sie musste wie ein Eichhörnchen durch das Geäst klettern, um weiterzukommen – und gleich nach dem Schotterweg führte ein neuer Pfad seitlich durch dichtes Gestrüpp. An dieser Stelle hatten zuvor ein paar Findlinge gelegen, irgendwer musste sie weggeräumt haben. So war ein kleiner Weg entstanden, den vielleicht Wildschweine ins Gebüsch getrampelt hatten. Der Pfad sah mit seinen am Rand blühenden Maiglöckchen idyllisch aus, war aber voller Wurzeln, Schlammpfützen und niedrig hängender Fichtenzweige. Merle hatte diesen Abzweig gerade passiert, als sie weit vor sich den Military-Typen sah, mit dem sie früher schon einmal aneinander geraten war. Natürlich hatte er diesen Pitbull dabei, der auf den niedlichen Namen Killer hörte. Manchmal. Ob der Hund diesmal einen Maulkorb trug, war aus der Entfernung nicht zu erkennen. So oder so, es erschien ihr sicherer, zurückzulaufen und den kleinen, schlammigen Weg zu nehmen. Killer und sein Begleiter sahen sie nicht. Doch ihr Abtauchen blieb nicht unbemerkt.
Der Trampelpfad erwies sich tatsächlich als schwierig, sie musste etliche Gehpausen einlegen, um nicht zu stolpern. Hin und wieder war das Blätterdach so dicht, dass das Tageslicht Mühe hatte, den Boden zu erreichen. Der Untergrund war feucht, einmal sank sie bis zu den Knöcheln ein – die Farbe ihrer Schuhe hatte sich schnell in ein undefinierbares Graubraun verwandelt, die Socken waren durchnässt. Merle hatte inzwischen völlig die Orientierung verloren, denn der Pfad schlängelte sich in immer neuen Windungen um uralte Bäume, Felsen und Brombeerhecken und der Stand der Sonne war von hier aus kaum zu erkennen. Das Handy erwies sich als unbrauchbar, es hatte weder Empfang noch ließ sich die Offline-Karte laden. Noch nicht einmal Uhrzeit und Datum wurden von dem Teil korrekt angezeigt, die Ziffern flackerten kurz auf, veränderten sich und verschwanden dann ganz. „Es wird Zeit für ein neues“, murmelte sie. Dennoch hatte dieser Pfad etwas, das ihr gefiel. Sehr gefiel. Als wäre er eine Welt für sich. Nur ein, zwei Mal wurde sie unruhig als sie meinte, etwas zu hören, Blicke zu spüren. Doch das musste sie sich eingebildet haben, sie konnte niemanden entdecken. Und so gab sie sich dem Gefühl hin, ganz für sich und völlig frei zu sein.
Unvermittelt tauchte vor ihr ein bekannter Weg auf, der Wanderweg zum Steinbruch. In wenigen Minuten war sie dort und pausierte für einen Moment, um den Gesteinsabbau zu beobachten. Der Lärm war nach der Stille des kleinen Traumpfades schwer zu ertragen, mehrere Schlämmmaschinen bohrten sich laut schmatzend und krachend in eine Flanke des Berges hinein, die Motoren hoch beladener Lastwagen heulten immer wieder auf.
Als sie eine halbe Stunde später zuhause ankam, wartete Michael an der Gartentür. Im Rollstuhl, wie fast immer seit dem Unfall. Er mochte das Hantieren mit den Krücken nicht.
„Da bist du ja endlich!“, sagte er erleichtert, „Wieso warst du so lange unterwegs?“
„Ich musste einen kleinen Umweg machen, wollte mich nicht mit Killer und seinem Herrchen anlegen ...“
„Dieser Typ und sein Mistvieh, gut, dass dir nichts passiert ist! Du solltest da nicht alleine laufen, wirklich, hab' ich dir doch gesagt!“
„Lass' gut sein, ich pass schon auf mich auf.“
„Klar, seit du deinen supertollen Selbstverteidigungskurs gemacht hast, zittert sowieso jeder dicke Frauenmörder oder Killer-Pitbull vor dir“, er wendete abrupt auf dem Kiesweg und rollte zur Eingangstür. Einen Moment später drehte er sich nochmals zu ihr: „Tut mir leid, ich wollte nicht so sein eben. Ich mache mir einfach Sorgen, wenn du allein im Wald bist. Hauptsache, dir ist nichts passiert und, na ja, und du hattest deinen Spaß!“
„Hatte ich ...“, antwortete sie. Leise genug, dass er es nicht hören konnte
Merle verkraftete den Lauf gut, die Spur Muskelkater war schon nach einem Tag verschwunden. Das Laufen wurde wieder zur Routine für sie. Selbst Michael gab es auf, sie davon abhalten zu wollen: „Wenn ich dich nicht laufen lasse, läufst du mir eines Tages ganz davon“, sagte er resigniert - und insgeheim gab sie ihm Recht. Zwar fühlte sie sich ihm seit dem Unfall noch verbundener, doch auf dieses Gefühl der Freiheit wollte sie nicht verzichten.
So machte sie sich auch an diesem Sonntagmorgen auf den Weg. Obwohl es in den letzten Tagen nicht geregnet hatte, war der Boden im Wald noch angenehm weich. Nach einer Weile begann ein Kuckuck zu rufen, sie hörte ein „su-per, su-per“ hinein.
Es war viel los auf der Strecke, immer wieder kamen ihr Spaziergänger und Fahrradfahrer entgegen. Sie wollte für sich sein und tauchte in den kleinen, dämmrigen Pfad ein. Eine Welt nur für sie. Der Boden war diesmal nicht aufgeweicht, das Laufen machte wenig Probleme und der Maiglöckchenduft lag betörend in der Luft.
Sie schaute kurz über ihre Schulter. Auf dem von ihr verlassenen Weg radelte gerade eine Familie vorbei: Vater, Mutter, Kind. Die Mutter würde später aussagen, dass ihr eine Joggerin, zirka 30 Jahre alt, rotes Haar, dunkelblaue Sportjacke, weiße Schuhe, an dieser Stelle aufgefallen war.
Weitere Zeugen gab es nicht.
Aus dem Wallstädter Tagblatt vom 22.6.2017:
Rätselhafter Leichenfund
In der Nähe des Steinbruchs am Felder See wurde vor zwei Wochen die Leiche eines Mannes entdeckt (wir berichteten). Jetzt teilte die Polizei weitere Details mit: Gefunden wurde der zunächst unbekannte Tote von einem Hundehalter auf der Suche nach seinem entlaufenen Pitbull. Durch die ungestümen Aktivitäten des Hundes am Fundort wurden wertvolle Spuren vernichtet - wie sich der Tote den folgenschweren Genickbruch zugezogen hatte, konnte daher trotz intensiver Polizeiarbeit bisher nicht ermittelt werden. Festgestellt wurde allerdings, dass es sich bei dem stark übergewichtigen Mann mit hoher Wahrscheinlichkeit um den gesuchten Triebtäter handelt, nach dem zuletzt auch öffentlich gefahndet worden war. Er wird unter anderem für den Tod eines jungen Mädchens verantwortlich gemacht. Eine Sportlerin, die sich einer Zeugenaussage zufolge zum Todeszeitpunkt in der Nähe aufgehalten hatte, konnte zur Klärung des Falles nichts beitragen. Die Polizei bittet daher die Bevölkerung um Mithilfe: Beobachtungen, die im Zusammenhang mit dem Fall stehen könnten, sollen der örtlichen Polizeidienststelle gemeldet werden.
Merle läuft ihre große Runde inzwischen täglich.
Michael macht sich keine Sorgen mehr.