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Der Killer in mir
Natürlich wirkt das Angebot verlockend: Ein Buch über Telekinetik, Telepathie, Bücher über irgendwelche Rituale etc., selbstverständlich darf man es versuchen, aber die Enttäuschung, wenn man sowas mal ausprobiert hat ist gross. Nichts geschieht.
Ich kenne Menschen, die kaufen sich Unmengen solcher Bücher über magische Kräfte; das hat keinen Sinn. Diese Bücher bleiben, da für die Öffentlichkeit zugänglich, ohne Wirkung. Irgendwelche Sektenpriester, die selbst nicht an ihre Theorien glauben, schon eher aber an das Vermögen, haben immer wieder das Gefühl, das Volk in Versuchung führen zu müssen.
Manche Menschen kaufen diesen Unsinn auch ganz schön ab; sie knien hin und äffen diese Übungen brav nach. Das ist schön und gut, man kann sich vielleicht sogar das Hirn reinwaschen – oder genau das Gegenteil anstellen. Man kann vergessen und träumen. Im Innern mag vielleicht tatsächlich etwas geschehen, aber nach aussen wird man nichts bewirken.
Telekinetik: Die eigenen Hirnzellen krummsteuern.
Aber es gibt ein Ritual, welches durchaus Wirkung zeigt. Natürlich, es ist gefährlich, man sollte es vielleicht besser bleiben lassen. Aber wenn man einmal darüber Bescheid weiss, kann man es dann überhaupt jemals wieder vergessen? Ich weiss es nicht.
Die richtigen Rituale findet man in keinen Büchern. Sie müssen von innen kommen.
Es geht darum, den Kern des eigenen Ichs zu isolieren. Er ist der mächtige Teil in uns, jener, den wir nicht kontrollieren. Aber er beherrscht uns auf eine sonderbare Art. Er bildet den grössten Teil des Unterbewusstseins. Wenn du eine Entscheidung triffst und dann von einer inneren Stimme davon abgehalten wirst, ist er das. Er verfügt aber auch zu grossen Teilen über deinen Willen, lenkt deine Befürchtungen und bestimmt die Logik, nach der du lebst. Wenn er wollte, könnte er dich dazu bringen vor Schmetterlingen und harmlosen Fliegen Angst zu haben. Das ginge noch. Aber er könnte dich Salzsäure trinken und dich deinen eigenen Daumen aufessen lassen. Nun, das tut er aber nicht, denn damit würde er sich selbst zerstören. Ein Kern kann nicht lange alleine bestehen. Ausserdem ist er ein Bestandteil des Menschen. Also handelt dein Kern für gewöhnlich sinnvoll. Ausser im Traum. Dann muss er sich austoben. Da spielt er dir die verrücktesten Szenen vor. Nun, so verrückt sind diese Szenen nicht. Sie sind eine zweite Realität. Die Realität deines Kerns.
Manchmal träume ich, dass ich auf einem Felsen stehe und ich Schritt für Schritt immer näher an den Abgrund gehe. Ich will stehen bleiben und kehrt machen, aber das geht nicht. Der Kern lenkt mich. Und dann falle ich die Felswand hinunter.
Oder als ich ein Kind war, habe ich oft geträumt, dass ich mich an einen von zu Hause entfernten Ort befinde. Ich will heimkehren, doch ich finde den Weg nicht mehr. Ich entferne mich immer mehr und der Weg wird immer verwirrender, immer dunkler.
Wenn man vermehrt auf seine Träume achtet, stellt man fest, dass sie zum Teil so abwegig sind, dass man sie unmöglich selbst hat erfinden können. Zumindest nicht mit dem bekannten Selbst.
Nun gibt es eben dieses Ritual, das gefährlich sein soll. Wenn man es beherrscht, verfügt man über eine grosse Macht. Dann kann man andere Leute lenken. Dieser Kern, den viele einfach Unterbewusstsein nennen, weil sie ihn nicht wirklich kennen, ist viel mehr. Ohne ihn ist der Mensch ein monotoner Brocken mit wenig Willen und wenig Phantasie, der spontan handelt und in der Gegenwart vor sich hinlebt.
Genau so ist es, wenn du dich einen Moment von ihm loslöst. Oder besser gesagt, der Kern löst sich von dir. Dann reist er. Du musst das Ziel aber vorher ausmachen. Du musst deinen Plan in- und auswendig kennen, musst vorher fest an deine Absicht denken und glauben, damit sie sich im Unterbewusstsein verankert und somit auch im Kern ist.
Wenn du ihn losgelöst hast, wird er für dich handeln. Du kannst ihn zu einem beliebigen Lebewesen schicken.
Und dann wird, mit der Absicht, die du ihm mitgegeben hast, das Lebewesen nach deinem Willen geknechtet.
Du kannst Angst vor Schmetterlingen oder Fliegen hervorrufen. Aber du kannst dein Opfer auch zwingen, Salzsäure zu trinken.
Im Normalfall hat der andere Kern keine Zeit zu reagieren, denn er ist zu überrascht. Da er sich im Körper stets in einer permanenten Teilpassivität befindet, hat er gegen einen aktiven, losgelösten und aggressiven Eindringling keine Chance. Erst wenn sich der fremde Kern wieder entfernt, kann der wahre wieder die Kontrolle übernehmen, über das, was noch übrig geblieben.
Ach ja; man sollte auf keinen Fall einen schlafenden Menschen aufsuchen.
Nun, was mich betrifft, ich habe das Wissen über diese Art Ritual im Halbschlaf errungen – nicht aus einem Buch für Scharlatanerie-Fans.
Ich bin mir sicher, dass es kein banaler, selbsterfundener Traum war. Ich schlummerte im Büro vor mich hin. Abschnittweise sah ich mal die Dokumente und den Computer, mal mich. Es war, als ob ich zwei völlig verschiedene, zusammengeschnittene Filme angesehen hätte. Und ausnahmsweise erschienen mir die Traum-Abschnitte viel realer. Das Büro, die Arbeit und das Schwein von einem Chef, das mir immer eine ganze Menge Arbeit gegeben, jedoch nie eine Lohnerhöhung in Betracht gezogen hat, erschienen mir, wie ein böser, kleiner Traum.
Ich sah mich in zwei Schichten. Eine der beiden war unsichtbar. Während ich die beiden Schichten und ihre Funktionen beobachtete, hörte ich eine Stimme, die alles erklärte.
Ich glaube, es war mein Kern, der wie ein Reporter ein Fussballspiel beschrieb. Nach diesem Halbschlaf glaubte ich genau zu wissen, wie man vorgehen muss.
Natürlich fehlte mir noch die Übung.
Bevor ich zur Arbeit gehe, muss ich den Vorgang einige Male ausprobieren.
Die Katze meines Nachbarn hat den Fehler gemacht, sich in meine Wohnung zu schleichen und dort ihren Dünger loszuwerden.
Nicht, dass das eine Todsünde wäre, aber man kann sich einfach nicht alles gefallen lassen. Irgendwo setzt man seine Grenzen – meine mögen ziemlich tief sein und wenn jemand sie überschreitet, dann überschreite auch ich die Grenzen des Anstandes, der Höflichkeit und vielleicht der Gerechtigkeit. Ausserdem ist die Katze lediglich Trainigsmaterial für die eigentliche Vergeltung. Ich habe die Wohnungstüre verschlossen und kann mich nun in aller Ruhe auf die Kernlösung vorbereiten. Die verfluchte Katze steht am Eingang zur Küche, ihren Haufen hat sie unter dem Fenster liegengelassen.
Ich sitze auf meinen Lieblingssessel und löse meinen Kern, während ich im Kopf immer wieder die Absicht wiederhole.
Jetzt, ohne Kern, ist meine Denkfähigkeit knapp. Ich verfolge jedoch genau das Geschehen, warte auf den Moment, meinen Kern zurückzuholen.
Die Katze zuckt zusammen.
Sie setzt sich in Bewegung – in Richtung Kot.
Steckt plötzlich den Kopf in die eigenen Exkremente. Dreht ihn. Zieht ihn wieder raus.
Das Tier zuckt kurz.
Tritt dann mit den Pfoten in den eigenen Dreck. Tritt zurück.
Beginnt sich dann von der Scheisse zu ernähren.
Ich grinse. Geniesse einen Moment lang den Anblick.
Rufe den Kern zurück.
Es ist wirklich erstaunlich – und durchaus ein wenig erschreckend auch – wozu man fähig ist, wenn man über andere gebieten kann.
Ich bin nahe dran, mich wie ein König zu fühlen – habe aber den Zepter noch nicht so fest im Griff.
Gefährlich. So ein Quatsch!
Dieses Machtgefühl ist herrlich und amüsant. Aber gefährlich nicht.
Die Katze, die jetzt irre hin und her springt, hat die Hälfte ihres Kots aufgegessen und zwar in einem Tempo, mit dem sie sonst nicht einmal Whiskas-Kekse verschlingt.
Ich bin zufrieden mit dem Vorspiel. Jetzt muss ich aber meinen Kern nochmals zu diesem Mistvieh schicken, ehe es meine ganze Wohnung verschmutzt.
Ich öffne das Fenster – dann löse ich mich.
Das Tier, wieder ruhig, steht vor dem Kot. Es wird sich meiner Absicht nicht widersetzen.
Ein paar Sekunden vergehen. Die Katze zittert.
Dann springt sie durch das Fenster.
Viertes Stockwerk.
Mein Blick aus dem Fenster: Sie landet, wie ich es vorgesehen habe – auf dem Rücken.
Ich rufe den Kern zurück.
Katzen haben die Fähigkeit, sich im Falle eines Sturzes aus der Höhe, instinktiv ‚auf die Beine‘ zu drehen und so nicht Kopf oder Rücken voran unten anzukommen.
Selbstverständlich habe ich diese Fähigkeit ausgeschaltet.
Ich bin vollkommen zufrieden.
Jetzt ist es Zeit, zur Arbeit zu gehen. Mein Chef hat lange genug seine Machtposition ausgeübt – jetzt bin ich an der Reihe.
Natürlich ist die Mappe normalerweise unabdingbar. Aber heute ändert sich mein Leben. Ich werfe das schwere, schwarze Teil aus dem offenen Fenster – vielleicht begegnet es der Katze. Die Katze war auch schwarz; also sowieso nur ein Unglückstier!
Nachdem ich nun die Mappe verabschiedet habe, werfe ich mir den olivgrünen Mantel über. Der Winter zieht heran und ich habe keine Lust, mir eine Erkältung zu holen; ich brauche meine Konzentration vollständig.
Der Chef hat unter anderem die Grenze überschritten, indem er meine letzten zwei Löhne immer noch nicht bezahlt hat.
Wie gesagt, bei mir überschreitet man schnell einmal die Grenzen. Auf dem Weg zur Arbeit besonders schnell, denn ich will noch ein wenig üben.
Eine Taube fliegt Kopf voran in die Frontwand der Kathedrale.
Zuckend sehe ich sie vor mir am Boden. Wenn es auch grausam ist; ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Mir im Weg zu stehen und dann noch beim Wegfliegen die verarbeiteten Reste der Brotkümmel irgendwelcher Touristen fallen zu lassen!
Irgendwo muss man sich ja auch respektieren lassen.
Zwei Strassen und ein paar Häuser vor meinem Firmengebäude kriecht so ein miserabler Köter vorbei. Ich denke, es ist mehr aus Mitleid, als aus irgedeinem anderen Grund, dass ich den Schachtdeckel hebe und den Strassenköter zwinge, Wasser zu atmen.
Ich denke jetzt führe ich das Zepter sicher in der Hand. Ich gehe ohne Umweg zur Arbeit, lasse mich auf dem Weg von nichts und niemandem mehr ablenken.
Im Flur begegne ich dem Chef. Ansonsten sind an diesem Tag nicht viele Leute im Gebäude. Wahrscheinlich wird er mich gleich anfauchen, aus welchem Grund auch immer.
„Fünf Minuten Verspätung! Und... wo haben sie denn Ihre Mappe, Rominger?“
Ich habs gewusst; eine nette Begrüssung oder ein Herr Rominger wäre wohl schon zuviel des Guten, für meinen lieben Chef.
Wo meine Mappe ist? Bei der Katze und du vielleicht auch bald! Ich denke ab heute werde ich dich duzen, warum auch nicht, es bleibt dir ja nicht mehr so viel Zeit.
„Meine Mappe habe ich gestern dagelassen, Sepp.“, antworte ich. Eine Lüge, die wohl erst dann auffliegen wird, wenn es für Chef Sepp zu spät ist.
„Okay, aber jetzt ran an die Arbeit... Moment! Wie haben Sie mich genannt, Rominger?“
„Herr Denzler.“
Aber warte nur ab, du Hund!
„So, jetzt aber ab ins Büro! Sie können gerade damit anfangen, die Post zu sortieren, aber genau. Anschliessend machen Sie die Buchhaltung und verfassen den Text für die Leuk.ag!“
Ich höre gar nicht erst zu. Heute kann ich mir das erlauben. Habe Mühe damit, mir ein Grinsen zu verkneifen, als ich ihm ins Büro folge. Wenn er wüsste, dass ich in zwei, drei Tagen seine Stellung übernehme!
Ich setze mich und beginne, desinteressiert, die Post zu sortieren, wartend, bis Sepp Denzler Platz genommen hat.
Währenddessen hämmere ich mir die Absicht ein; nichts soll meinem Unterbewusstsein entgehen.
Ich merke mir zusätzlich einige Sprüche – für unser Gespräch.
Dann vollführe ich das Ritual. Beginne ruhig, meine Schichten zu trennen, schliesse die Augen, um mich besser konzentrieren zu können. Langsam entzieht sich mir mein Kern, um das geplante Opfer – Denzler – aufzusuchen.
Mein Chef steht auf.
Ich höre was er sagt.
Genau das was ich will:
„Herr Rominger, wissen Sie, Sie waren schon immer sehr tüchtig und eigentlich hätten Sie viel mehr Lohn verdient...“
„Ja, ich weiss. Jetzt begreifst du es, Hurensohn. Ich befürchte aber, dass es zu spät ist! Antworte ich.
Er zuckt zusammen, aber mein Kern hat alles unter Kontrolle...
„Wenn ich noch könnte, würde ich Ihnen sofort mehr Lohn zahlen, aber da es zu spät ist, bringe ich mich jetzt um – aber zuvor halte ich schriftlich fest, dass Sie, Herr Rominger, alles erben.“
Er hört auf zu sprechen. Ich nicke.
Er nimmt was zum Schreiben, haltet schriftlich fest.
Nach ein paar Minuten öffnet er eine Schublade.
Messer. Wie geplant.
Er rammt sich die Messerspitze unter einen seiner Fingernägel. Schreit auf. Macht weiter.
Schneidet sich ein Ohrläppchen ab.
Zuckt.
Schreit.
Sticht sich mit dem Messer in den Oberschenkel.
Wie geplant.
Zuckt heftiger.
Zitternd hält er sich die Klinge an den Hals.
Los!
Sepp blickt zu mir und hält das Messer vor sich.
Das war nicht geplant!
Hass in seinen Augen.
Das ist nicht mehr mein Kern!
Sepp steht zwischen mir und dem Ausgang.
Ich stehe auf.
Er nähert sich mir, humpelt.
Er versucht, mich mit der Klinge zu erreichen. Pult ist im Weg.
Er fuchtelt in der Luft herum, wenn nur wenig vor meiner Nase.
Mein Denkvermögen ist stark eingeschränkt ohne Kern.
Weiss nur, dass ich entkommen muss.
Der Chef will links am Pult vorbei zu mir. Ich reagiere spät – sein Messer reisst ein Loch in meinen Mantel. Habe ihn immer noch an. Dann fliehe ich rechts am Pult vorbei.
Muss die Türe erreichen.
Er humpelt mir nach.
Kann die Türe gerade noch hinter mir zuschlagen. Halte die Klinke fest.
Er versucht die Türe aufzureissen. Rüttelt, zerrt.
Ich will den Kern endlich zu mir rufen, der muss aber zuerst die Kontrolle zurückerlangen.
Sepp Denzler schlägt auf die Türe ein. Minutenlang.
Dann plötzlich ist Ruhe.
Höre Schritte. Er entfernt sich.
Lärm; ein Krachen, ein Schlag.
Etwas fällt zu Boden.
Wieder Schritte.
Ein Schlag, noch heftiger. Dumpf.
Stille.
Ich warte.
Nichts.
Dann öffne ich die Türe.
Schlaff, den blutigen Kopf noch Gesicht voran an die Wand gestützt, liegt Sepp Denzler da.
Mein Kern hat also doch gesiegt.
Rufe ihn zurück.
Muss eine Weile warten.
Wird’s bald?
So, jetzt! Bin ich froh. Wie ich sehe, hat also der liebe Herr Denzler, mal abgesehen von dem kurzen Zwischenfall, ganz schön nach dem Willen meines Kerns gehandelt; ganz nach meiner Absicht hat er sich das Leben genommen, obschon ich es eigentlich bevorzugt hätte, wenn er es mit dem Messer getan hätte.
Denzler hat sich zu Tode in die Wand gerammt. Am Boden unter seiner halbgeöffneten Hand erkenne ich das Messer.
In der Mitte des Büroraumes liegt ein Stück Ohr.
Irgendwie fühle ich mich jetzt komisch; ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, aber nicht wegen Denzler – wegen mir!
Ich verlasse das Zimmer, auf dem Weg denke ich nach.
Ich habe jetzt wieder das vollständige Denkvermögen, aber es sind...
Es sind nicht meine Gedanken!
Im Flur bleibe ich stehen. Unfreiwillig bin ich plötzlich davon überzeugt, dass es das einzig Richtige ist, mir das Auge auszustechen.
Ich muss bitter feststellen, dass es praktisch unmöglich ist, sich der Absicht eines Kerns zu widersetzten; aus meiner Tasche ziehe ich meinen Schlüsselbund hervor.
Das letzte, was ich mit dem rechten Auge erkenne, ist etwas wie ein greller Blitz aus Schmerz, als der Schlüssel direkt in die Pupille sticht. Ich zucke zusammen, doch schaffe ich es nicht, mich zu wehren. Dann entfällt die Hälfte des Lichtes, während ich vom linken Auge aus sehe, wie ein blutiger Strahl die Höhle des rechten verlässt. Die lähmende Dunkelheit hemmt aber nicht meine Entschlossenheit, tiefer in das Auge zu graben, herauszunehmen, was nicht herausgeflossen ist.
Ich höre meine Schreie, die Schmerz verkünden und zugleich nach meinem Kern rufen. Gleichzeitig kneife ich das nicht mehr vorhandene Auge zusammen, damit der Schlüssel, der nun vollständig im Innern ist, tiefer graben kann.
Ich ziehe den Schlüssel heraus und führe statt dessen Daumen und Zeigefinger in die blutige Höhle. Der Schmerz kann mich nicht daran hindern, Fasern und was ich noch finde herauszureissen.
Dann ist das linke Auge dran. Doch wo ich widerwillig aber gezwungen dem Schlüssel entgegen blicke, überfällt mich Dunkelheit. Einige Sekunden fühle ich nichts, dann scheint mein Kopf zu explodieren.
Ich zucke zusammen.
Zustechen - nicht zustechen.
Aus der rechten Augenhöhle tropft noch Blut und irgend etwas sagt mir, dass es nicht richtig ist, wenn das nur rechts der Fall ist.
Etwas anderes hält es für völlig verkehrt, dass ich überhaupt blute.
Nur wenige Zentimeter trennen den Schlüssel vom Ziel.
Plötzlich habe ich das Gefühl, dass ich mir fest auf die Zunge beissen muss - doch ich kann mich dieser Überzeugung widersetzen.
Weil mein Kern wieder bei mir ist.
Ebenso gelingt es mir, den Schlüssel fallenzulassen.
Der Kern sagt mir, dass ich den fremden Kern austreiben kann, indem ich mir den Kopf an die Wand schlage.
Sofort stellt sich der andere gegen diese Behauptung; ich müsse einfach still sein. Ich weiss es, ich bin nicht Denzler, ich bin nicht dumm. Er hat es meinem Kern geglaubt - ich glaube es seinem nicht.
Ich versuche meinem Kern zu helfen. Konzentriere mich wie für das Ritual, mit dem Unterschied, dass ich dieses Mal etwas Fremdes zu identifizieren habe.
Mein Schädel scheint noch immer zu explodieren. Weiterhin kreisen grässliche Gedanken durch meinen Kopf:
Kratz das Auge aus, beiss die Zunge ab, renn gegen die Wand, entmanne dich und leck die Lache am Boden auf.
Bis plötzlich nur noch: "Besorge einen Verband für unser rechtes Auge".
Ich habe es geschafft!
Ich weiss noch nicht genau, wie es weitergehen soll. Sicher ist mein Plan, die Firma zu übernehmen, Vergangenheit.
Jetzt bin ich ein halber Krüppel, benötige dringend etwas für die Augenhöhle, um den elenden Schmerz zu vertreiben. Und einen Verband.
Ins Spital werde ich nicht gehen, da könnte ich ja geradezu direkt zur Polizei. Irgendwann wird man zwar ohnehin Denzler entdecken, aber der sieht wie ein masochistischer Selbstmörder aus. Und nur, weil ich mich der Hälfte des Lichtes beraubt habe, können sie mich nicht anklagen.
Wenn sie trotzdem kommen weiss ich, was ich sagen werde. Oder eben nicht sagen.
*
Drei Wochen sind nun vergangen, seit ich den Strassenköter getötet habe. Natürlich waren da auch noch Denzler und die Katze, aber jetzt muss ich vor allem an den Hund denken. Ich habe noch den olivgrünen Mantel an; ist ziemlich verschmutzt.
Das Leben ist gar nicht so schlecht, die Leute laufen reihenweise an Bettlern vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, aber bei mir halten sie immer an. Manchmal geben sie mir ihr ganzes Geld.
Wenn ich will.
*
Weitere zwei Wochen sind vergangen.
Fühle mich verdammt schlecht.
Kern ist weg. Hab ihn geschickt, kommt nicht zurück, hat wohl einen besseren Wirt gefunden. Nicht so einen Strassenköter wie mich.
Verräter.
Komm zurück!
Ah da! Ich fühle die angenehme Präsenz wieder in mir - doch... es sind nicht meine Gedanken!
Es sind schönere Gedanken, zwar nicht so reif, aber netter.
Jetzt weiss ich wo mein Kern ist: Bei einem Kind.