- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Der Flohmarkt
An der Hand seiner Mutter erreicht der kleine Junge am späten Nachmittag den Flohmarkt. Es ist einer der beliebtesten in der Stadt, dessen Anblick den Jungen überwältigt. Er ist der Meinung, noch nie zuvor so viele Menschen an einem Ort gesehen zu haben. Durch die schwül-warme Luft klebt das hellblaue T-Shirt an dem kleinen Körper, während sich Mutter und Sohn einen Weg durch die Menschenmenge bahnen. Es ist beinahe unerträglich heiß, doch die Frau liebt Flohmärkte und hegt große Hoffnungen, an diesem Tag ein Schnäppchen zu machen. An der kleinen Hand zieht sie den Jungen hinter sich her, bis sie den ersten Stand erreicht. Trödel so weit das Auge reicht. Die Suche beginnt. Der kleine Junge trottet gemächlich neben seiner schlendernden Mutter her. Hie und da bleibt sie stehen, um ihre Suche schließlich fortzusetzen. So vergehen mehrere Stunden. Das eine oder andere Mal fragt sie einen Verkäufer nach dem Preis einer alten Vase oder eines vergilbten Buches, um anschließend empört den Kopf zu schütteln und den Stand zu verlassen. In diesen Situationen muss der Junge sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten. Seine Hand hält sie schon lange nicht mehr. Es hat den Anschein als hätte die Frau ihren Sohn über die ganzen alten Bücher, Vasen, Gläser, Uhren, Teller und was sonst so herumsteht völlig vergessen. Der Knabe bleibt jedoch wachsam und lässt seine Mutter nicht aus den Augen. Auf diese Weise kämpfen sie sich von Stand zu Stand. Der kleine Junge trottet.
Plötzlich verirrt sich ein köstlicher Duft in seine Nase. Gebratene Würstchen. Nachdem er sich suchend hin und her gedreht hat, fallen ihm die appetitlichsten Bratwürstchen, die er je gesehen hat ins Auge. Unbewusst bleibt er stehen. Der nun plötzlich wieder anwesende feste Griff seiner Mutter reißt ihn vorwärts, fort von der Würstchenbude. Ihm bleibt nichts, als die Erinnerung des Duftes. Alles ist wieder wie zuvor. Sie stöbert, er trottet. Die Luft wird immer drückender. Der Blick des kleinen Jungen bleibt an einem alten Feuerwehrauto, dessen Farbe völlig verblichen ist, hängen. Er macht einen Schritt darauf zu, betrachtet es und träumt. In seinen Vorstellungen kniet er in dunkelblauen Stoffhosen auf der Wiese im Garten, auf den kühlen Fliesen in der Küche oder auf dem fusseligen Teppich in seinem Zimmer. Das Kind in seiner Vorstellung lässt das Spielzeugauto mit kleinen Händen durch die Wohnung und den Garten fahren. Die Sonne lacht am blauen Himmel, es ist angenehm mild und die Amseln sind emsig damit beschäftigt, ihren Nistplatz im alten Nussbaum auszubauen. Der Junge auf dem Flohmarkt formt die Lippen zu einem tonlosen „Tatütata“.
Eine dunkle Stimme reißt ihn aus seinen Träumen: „Na Kleiner, die Feuerwehr hat es dir wohl angetan?“ Der Knabe erschrickt so sehr, dass er den Standbesitzer mit angstverzerrten Gesicht anstarrt, kehrt macht und läuft. Stolpernd prallt er gegen etwas Hartes und stürzt. Staub des trockenen Erdbodens wirbelt auf und er blickt in die Augen eines ärgerlichen alten Mannes mit einem bedrohlich wirkenden Schnauzbart. „Hey Kleiner, pass doch auf, wo du hinläufst!“ Suchend blickt der Junge panisch in alle Richtungen. Wo ist seine Mutter? Nichts. Während er im Dauerlauf den Weg absucht, wird er von allen Seiten geschubst und getreten. Er befürchtet keine Luft zu bekommen. Da steht sie. Er läuft auf die Frau zu, zupft ihr am Rock. Als sie sich ihm zuwendet, blickt er in das fremde Gesicht einer schrecklichen Frau. Sie lacht ihn aus, wodurch sie ein gelbes pferdeähnliches Gebiss enthüllt. Er fährt zurück und sie lacht. Sie lacht nun sehr laut, wirft ihren Kopf nach hinten, woraufhin der kleine Junge in ihre gewaltigen Nasenlöcher blicken kann. Er läuft. Furchterfüllt. Der plötzlich wieder gegenwärtige Geruch von Bratwürsten bereitet ihm Übelkeit. Dann bleibt er stehen und beginnt zu weinen. Die Kräfte haben ihn verlassen. Weinend steht er mitten auf dem Weg. Stumme Tränen laufen an den erröteten Wangen des Kindes hinunter. Passanten schenken ihm keine Beachtung. Die Sonne neigt sich langsam gen Westen und er fröstelt. Der Flohmarkt leert sich. Er steht da und weint bis seine Mutter ihn auf den Arm nimmt und den Flohmarkt verlässt.