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Der Besuch
Gewohnheiten schlichen sich in Veras Leben und bauten sich auf wie ein schützendes Haus, bis aus ihnen schlechte wurden, nur noch Ruinen, in denen sie hauste. Als sie die Stellung im Büro antrat, hätte sie nie gedacht, an jedem freien Sonntagnachmittag im Park Enten zu füttern. Vera konnte Enten nicht mal leiden. Sobald sie sich näherte, watschelten sie gruppenweise auf sie zu, reckten die Hälse vor, schnatterten, als wollten sie sich über das Brot beklagen, noch bevor sie es bekommen hatten. Weil die Sonne sich nicht blicken ließ, dachte Vera daran, an diesem Tag nicht in den Park zu gehen, aber dabei knöpfte sie sich bereits im Flur den Mantel zu.
Sonntags war kein Ruhetag für Vera. Das sollte nämlich der Tag sein, an dem sie sich lebendig fühlen wollte. Etwas, das sie Leben nannte, sollte in jede Faser eindringen, sie füllen und sich darin für die Zeit speichern, die kommen mochte. Für die Jahre, in denen sie aufopfernd und fürsorglich wäre, in der sie sich um eine Familie kümmern würde. Mit der Zeit fühlten sich Verabredungen mit Kollegen und Werkstattkunden jedoch wie etwas an, das es sich abzugewöhnen galt, wie das Rauchen oder vor dem Fernseher Kekse zu essen. Schließlich ging sie immer wieder allein spazieren. Eine Tüte mit altem Brot in der Manteltasche.
„Du darfst die Enten nicht füttern.“
Für vorlaute Mädchen hatte Vera genauso wenig übrig wie für Enten. Sie warf den Vögeln eine Handvoll Brot vor die Füße. Rücksichtslos machten sie sich darüber her, hackten den Gefährten ins Gefieder, rissen sich die Brocken gegenseitig aus den Schnäbeln.
„Davon quellen die Bäuche auf und dann sterben die.“
Die Kleine war spindeldürr und gespenstisch blass und Vera kurz davor zu fragen, ob sie das nur sagte, um auch Brot zu bekommen.
„Außerdem kacken die den Teich voll und der stirbt dann auch.“
„Wir alle sterben. – Irgendwann.“ Vera traf eine Ente am Kopf, die augenblicklich zum Teich zurückrannte und mit schlagenden Flügeln über die Oberfläche davonstürzte.
„Ich glaube, du fütterst die Enten nur, weil du keine Kinder hast. Sich um Kinder zu kümmern bedeutet nämlich, dass man Hormone ausschüttet und sich glücklich fühlt.“
„Ich mag Kinder“, sagte Vera und schüttete den gesamten Inhalt der Tüte ins Gras.
„Aber du hast keine.“ Die Kleine zog die Schultern zu den Ohren und Vera wischte mit der flachen Hand über den Saum des Mantels, auf dem sie Krümel vermutete. Gleichzeitig vergrub das Mädchen die Hände in den Taschen ihrer Jacke, reckte das Kinn in die Höhe, dabei umwehte sie stürmisch der Oktoberwind, wirbelte Laub vor ihren Füßen im Kreis herum.
„Du hast wohl keinen warmen Mantel.“
„Und du hast wohl keine Kinder.“
„Wie heißt du überhaupt?“ Im Grunde interessierte sie das Mädchen nicht, dennoch war ihr zumute, als blickte sie in den Spiegel eines Spiegelkabinetts, wie sie der Kleinen gegenüberstand, klein und verzerrt.
Immer zum Herbstanfang gab es einen kleinen Jahrmarkt hier im Park. Es wurden Holzbuden aufgebaut, in denen Schausteller kandierte Früchte verkauften, geröstete Maronen und gebutterten Mais. In einem der Wagen waren die Spiegel aufgebaut. Vera und ihre Geschwister sprangen davor herum und konnten sich an sich selbst nicht sattsehen. Und während der jüngere Bruder am liebsten vor dem Spiegel stand, der ihn klein und rund aussehen ließ, dabei rückwärts durch seine eigene Beine blickte, um kurz darauf übermütig die kleine Schwester zu schubsen, die kerzengerade vor einem derer posierte, in dem sie übermäßig lang aussah, stand Vera am liebsten vor dem, der eine große Erscheinung aus ihr machte.
„Mama nennt mich Puppa.“ Ihre Zähne klapperten bereits aufeinander. Ein Püppchen aus Knochen mit Kniestrümpfen und die Haut darüber schimmerte lila, wie der Himmel über ihnen. Scheinbar von einer Minute zur anderen war es dunkel geworden. Überrascht suchte Vera eine Weile das sternlose Universum ab, als erwartete sie die Sonne noch in dieser Nacht zurück.
„Es ist spät. Musst du denn gar nicht nach Hause gehen? Deine Familie ist sicher beunruhigt.“ Das Satzende flatterte hinter ihr her, denn sie lief zügig Richtung Ausgang. Zu Hause nahm sie stets Tee, sobald sie vom Entenfüttern zurück war. Auch Gebäck. An besonderen Tagen, an denen sie beispielsweise fror, noch ein Glas Portwein oder einen Cognac. Heute war sie wegen der Kleinen spät dran. Sie würde die Naturdokumentation im Fernsehen nicht von Beginn an sehen können. Puppa eilte ihr nach. Vor der Haustür fiel Vera der Schlüssel aus den Händen und schlug zwischen ihnen auf die Stufe. Mit geweiteten Augen sah sie das Mädchen an, als würde sie erwarten, dass sie ihr sagte, was nun zu tun wäre. Doch das Kind war außer Atem, jetzt fast blau vor Kälte und starrte auch bloß auf den Schlüssel. Auf keinen Fall konnte man die Kleine als hübsch bezeichnen. Die Augen wirkten riesig in dem schmalen Gesicht und ohne bedeutende Farbe, genau wie die Haare. Durch ihre helle Haut zeichneten sich die Adern ab.
„Wo ist dein Mann?“
Um den Schlüssel vom Boden aufzuheben, musste Vera viel Kraft aufbringen. Schwerfällig bückte sie sich hinunter.
„Wichtiger ist doch: Wo ist deine Familie? Am besten, du gehst jetzt augenblicklich zu ihnen“, brachte sie keuchend hervor. Ihre Hände zitterten, als sie die Tür aufschloss.
„Mama sagt immer, ich brauch keinen Mann. Ohne bin ich unabhängig und muss auf niemanden Rücksicht nehmen. Und irgendwann sind sie sowieso weg. – Darf ich mit hochkommen. Zum Aufwärmen? Du könntest mir einen Kakao kochen.“
Geistesabwesend rührte Vera im Tee, dem sie weder Milch noch Zucker zufügte, und inhalierte tief den Rauch ihrer Zigarette. Für eine lange Weile waren das die einzigen Geräusche im Zimmer und vor dem Fenster zog lautlos der Wind, trug welkes Laub mit sich. Ein Blatt blieb an der nassen Scheibe kleben. Das Kind umfasste die Tasse und blies Wellen auf die Oberfläche. Vera bemerkte die spinnenbeinartigen Wimpern, die unruhig zitterten.
„Wenn du ausgetrunken hast, gehst du, verstanden!“
Die Kleine pustete heftiger in die Tasse.
„Sind das deine Kinder?“, fragte sie und blickte über den Tassenrand auf die glänzende Anrichte.
„Nein.“
„Wie heißen die?“
„Robert und He … – Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass man Leute nicht ausfragt?“
„Mama sagt immer, wenn ich nicht frage, bekomme ich keine Antwort. Wo sind Robert und Helene?“
Veras Augenlider begannen zu flattern und sie klopfte sich mit den Fingerspitzen aufs Dekolleté, bis es fleckig wurde.
„Tot. Sie sind alle tot. – Jeder stirbt irgendwann.“
Als Puppa die Zunge in den Kakao steckte und wie eine Katze darin zu schlabbern begann, schlug die Uhr zur halben Stunde.
„Kannst du den Kakao nicht ordentlich trinken?“ Mit einer Serviette tupfte Vera auf dem Marmortisch herum.
„Darf ich bei dir übernachten?“
Reflexartig flog Veras Hand zum Mund, aber der Tee sprühte durch die Finger hindurch auf das Makrameedeckchen. Beim Aufspringen fiel dann auch die Keksschale um und die Kleine nahm sich einen von dem Stoff, während Vera in die Küche eilte.
„Du isst zu viele Kekse. Du wirst dick“, murmelte Puppa kauend und konnte nicht sehen, wie Vera sich an die Spüle lehnte und ein großes Glas Cognac hinunterstürzte, sich nachschenkte.
„Trinkst du eigentlich jeden Tag Alkohol?“
Deutlich waren den Schritten die Empörung anzuhören, als sie ins Wohnzimmer zurückkam und abrupt vor der Kleinen stehenblieb. Sie stemmte auch die Fäuste auf die Hüften und sah auf sie herab.
„So. Jetzt hör mir mal gut zu, junge Dame …“ Der Rest des Satzes blieb ihr im Hals stecken. Puppas Augen glitzerten, das zitternde Kinn wie transparentes Porzellan, an dem bereits eine Träne hing und herabzufallen drohte. Einem General gleich drehte sich Vera auf dem Absatz um, marschierte in den Flur, riss den Mantel vom Haken und verließ die Wohnung, nicht ohne die Tür lautstark ins Schloss fallen zu lassen.
Dichter Nieselregen hatte eingesetzt und legte sich wie Morgentau im Spinnennetz über Veras Haare, denn sie blieb vor der Haustür stehen, unschlüssig, den nächsten Schritt zu gehen. Die Straßenlaternen beleuchteten den Gehweg und Vera steuerte schließlich unsicher durch die Pfützen, als wäre Glatteis. Schließlich eilte sie doch durch die Pforte zum Park, als hätte sie ein Ziel zu erreichen und die Zeit drängte wie das Wasser in ihre Schuhe. Nur wenige Menschen kamen ihr mit hochgeschlagenem Mantelkragen und gesenktem Kopf entgegen. Die meisten führten einen Hund an der Leine, einen Schirm in der anderen Hand. In wenigen Minuten würde der Park schließen. Veras Mantel flatterte hinter ihr her, sie hatte ihn nicht einmal zugeknöpft.
„Wieso läufst du jetzt wieder so schnell?“ Puppa verfiel in Trab.
„Geh nach Hause! Hörst du? Verschwinde endlich!“, flüsterte Vera.
„Hallo! Sie! Gehen Sie bitte zum Ausgang. Wir schließen in fünf Minuten.“
„Hast du den Mann nicht gehört? Es ist spät, Vera. Fünf vor.“
Alles hing herab. Die Arme pendelten, das Haar klebte am Kopf, vom Mantelsaum troff Wasser. Der Regen war stärker geworden und übergoss die Wege, verwandelte sie in flache Bäche, die zum Ausgang strömten. Die Enten hatten sicher längst Unterschlupf gefunden und steckten schläfrig ihre Schnäbel ins Gefieder, warteten auf einen neuen Tag.
„Es ist ja noch nicht zu spät.“
Mit beiden Handflächen wischte sie über das Gesicht, die Haare zurück, atmete tief ein und lange aus, stand mit beiden Beinen im seichten Wasser.
„Es tut mir so leid, Puppa. Ich war einfach feige … und überheblich. Ich glaubte, ich hätte viel mehr Zeit für … alles.“ Ob die Tropfen in ihren spinnenbeinlangen Wimpern sich mit Tränen vermischten, war nicht auszumachen.
„Komm. Wir gehen nach Hause.“