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Der Adler
Früher hatte ich Arne Adler bewundert. Seinen Mut. Seine Entschlossenheit. „Gegenwind gibt mir Auftrieb“, pflegte er grinsend zu sagen. „Was soll ich machen – ich bin der Adler! Ich breite einfach meine Flügel aus und hebe ab.“
Inzwischen tat er mir beinahe leid.
Arne öffnete erst nach dem dritten Klingeln. „Jetzt schicken sie also dich“, sagte er und starrte mich einige Sekunden lang an. Dann wandte er sich um und ging in sein Wohnzimmer zurück. Dass er die Tür offen ließ, nahm ich als Erlaubnis einzutreten.
„Willst du 'n Bier?“, fragte er über die Schulter.
„Es ist doch gerade mal eins“, antwortete ich.
„Eben. Essenszeit.“ Er sah mich an. „Ich kann dir auch noch 'n Stück Pizza anbieten, aber die ist kälter als das Bier.“
Im Fernseher lief der Abspann irgendeiner Seifenoper, der Ton war kaum hörbar.
„Ich lass mal Luft rein.“ Arne öffnete die Balkontür, schlurfte zum Sofa und ließ sich auf das Polster fallen. Der kalte Luftzug trug einen scharfen Geruch herein. Für einen Moment fragte mein Gehirn, wer wohl Ende November noch grillte. Ich schob ein paar Kleidungsstücke vom Sessel und setzte mich Arne gegenüber.
„Also?“ Er hielt eine Dose hoch. Ich nickte, und er warf sie herüber. Nachdem ich sie vorsichtig geöffnet hatte, prosteten wir uns schweigend zu.
Ich fröstelte trotz Pullover und Jacke. Arne saß im T-Shirt da, scheinbar entspannt. Unter dem dünnen Stoff zeichneten sich die Muskeln ab. Seine Oberarme waren immer noch so dick wie meine Beine. Nur der sich andeutende Bierbauch passte nicht dazu.
„Willst du mich sezieren?“ Er hob fragend die Augenbrauen.
„Sorry“, sagte ich. „Hab nur gerade dran gedacht, wie wir uns kennengelernt haben.“
„Die Jungs, die dir nach der Schule aufgelauert haben.“
„Die beiden haben nie wieder irgendwem das Taschengeld abgeknöpft.“
„Ich weiß nicht.“ Arne runzelte die Stirn. „Hab gehört, der eine leitet jetzt 'ne Sparkassenfiliale.“ Wir grinsten beide, dann tranken wir weiter und schwiegen erneut. Im Fernsehen kam jetzt Werbung.
Irgendwann fasste ich mir ein Herz. „Wir brauchen dich, Arne.“
„Nee!“ Er lachte höhnisch auf. „Mich braucht keiner! Das weiß doch wohl niemand besser als du.“ Sein Blick senkte sich. „Na ja. Fast niemand.“
„Hör mal, wir wissen alle, was gewesen ist. Aber … wer soll uns helfen, wenn nicht du? Mensch, du bist doch der Adler!“
„Adler am Arsch.“ Arne nahm einen großen Schluck. „Du redest wie Tanja.“
„Und was macht die so?“
„Keine Ahnung. Ist vor 'n paar Monaten gegangen.“ Er sah mich prüfend an. „Aber das hast du schon gewusst, oder? Klar hast du.“ Er drehte die Bierdose in seiner Hand. „Die hat mich auch damit genervt. Wie sie mich immer bewundert hätte und dass ich doch was Besonderes wär.“ Sein Kopfschütteln wirkte hilflos. „Ich will nichts Besonderes sein, ich will auch mal 'n normales Leben führen. Ist das zu viel verlangt?“
„Was willst du denn machen? BWL-Studium nachholen und dann 'nen kuscheligen Bürojob? Mach dich nicht lächerlich!“
„Muss ich mir noch überlegen.“
„Du überlegst seit anderthalb Jahren! Vegetierst in diesem Loch und versteckst dich vor der Realität! Normal willst du sein?“ Ich sprang auf und lief im Raum hin und her. Sah die vergrauten Gardinen, die Löcher im Wandverputz, die braunen Flecken auf dem alten Teppichboden. Die Nachrichtensprecherin im Fernsehen blickte ernst. Ich deutete aus dem Fenster über die Stadt. „Was ist denn für dich normal?“
Arne antwortete nicht, er starrte ins Leere.
Ich setzte mich wieder hin und atmete tief durch. „Friederike lässt dich grüßen.“
Arnes Schläfenmuskel zuckte. „Lass Rike da raus.“
„Tut sie wirklich“, beeilte ich mich zu sagen. „Sie hat mich hergeschickt.“
Seine Schultern sackten nach vorn, aber seine Linke spannte sich um die Bierdose. „Wie geht's ihr?“
„Unverändert. Die äußeren Wunden sind ja längst verheilt. Alles andere … dauert wohl noch.“
Die Dose in Arnes Faust verformte sich. Er schien nicht zu merken, wie ihm das Bier über den Arm rann.
„Sie weiß, dass du nicht überall zugleich sein konntest. Immerhin hast du die Typen ihrer gerechten Strafe ...“
„Das ist nicht gerecht!“, brüllte Arne. Die Dose war jetzt ein formloser Klumpen Aluminium. „Der Tod war zu gut für die drei!“ Er atmete heftig. Ich spürte, welche Anstrengung es ihn kostete, seine Stimme wieder zu senken. „Ich versteh nicht, wie du das so locker nehmen kannst. Sie ist deine Schwester, verdammt!“
„Locker?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nee, du. Ich könnte heulen, wann immer ich dran denke. Tu ich auch manchmal. Aber da draußen sind noch mehr Leute, die auch kleine Schwestern haben.“ Ich sah ihm in die Augen. „Ihre Worte, nicht meine.“
Begleitet von Arnes urtümlichem Schrei pfiff das Aluminiumgeschoss an meinem Ohr vorbei. Ein paar Bierspritzer landeten auf meiner Wange. Hinter mir klirrte etwas. Doch ich zuckte nicht, sondern blickte ihn unverwandt an. Seine Fäuste gingen auf den Couchtisch nieder, ein Riss breitete sich in der Marmorplatte aus. Bierdosen und Pizzareste flogen durch den Raum.
Dann war Arne plötzlich still. Er betrachtete den Riss. „Kacke“, murmelte er. Sein Blick wanderte durch den Raum. „Kacke“, wiederholte er. Der Fernseher zeigte brennende Autowracks, blutüberströmte Menschen, Einsatzkommandos mit Wasserwerfern. „Kacke, Kacke, Kacke.“ Arne stand auf und verließ den Raum. Eine Zimmertür knallte.
Nach einer Weile ging ich auf den Balkon. Im Wind war es eisig, ich zog meine Handschuhe aus den Jackentaschen und blickte über die Stadt. Im Süden stieg eine Rauchsäule auf, Sirenen klangen verzerrt aus der Ferne.
Ich hörte nicht, wie Arne neben mich trat, aber der Geruch von Mottenpulver verriet ihn. Ich sah ihn an. Er sah zurück und nickte.
Mit einem mühelosen Satz stand er auf der Balkonbrüstung. Sein Cape flatterte im Wind. Er blickte zum Horizont und sagte: „Ein Sturm zieht auf.“ Dann zog er die Maske mit dem gekrümmten Schnabel von der Stirn ins Gesicht, rückte sie zurecht und stieß sich ab.
Ich sah ihm nach. Auf der Straße zeigte ein Junge in den Himmel und rief: „Da – der Adler! Er ist zurück! Jetzt wird alles gut!“