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- Anmerkungen zum Text
Alles, was in der Welt von Walx und Bryyogh stattfindet, ist wissenschaftlich nicht abgesichert.
Morucha: Die englische Information über dieses Fleisch entstammt der Speisekarte des Zürcher Restaurants ‚Smith and the Luma’ und ist Auslöser dieses Textes. Viel Spaß!
Delikatessen
Der Ober umfasst die Karaffe mit der Serviette und schenkt einen Probeschluck ein. Côte Rôtie, 2015. Erhardt beugt sich vor und schnuppert genießerisch, hebt das Glas gegen das Licht, strahlt wie der Wein und sagt: „Schau dir das an! Himbeere, Aubergine, Rubin – eine Farbe aus dem Paradies. Und der Duft!“
Auch Mc Dull ist vom Farbspiel gefesselt – er liebt Weine, deren Rot mit Lila und Violett changiert. Dann nippt er und hält einen Augenblick inne. „Gutes Zeug“, sagt er anerkennend und nimmt einen größeren Schluck.
„Oh ja, wirklich großartig. Wenn die Küche auch so ist ... Was nimmst du denn heute?“
„Na, ‚Beyond Meat’ bestimmt nicht.“
„Davon hab ich schon gehört, hab aber keine Ahnung, was das genau sein soll.“
„Na ja“, sagt Mc Dull, „eben kein Fleisch, sondern pflanzlich. Soll aber Fleisch sehr ähnlich sein.“
„Interessant. Die jungen Leute reden oft davon.“
„Stimmt, die haben’s ja mehr mit dem Vegetarischen als unsereiner. Jedenfalls ist mir heute nach richtigem Fleisch.“
„Kobe?“
„Eher nicht, das gibt’s nur zum Geburtstag. Aber Morucha vielleicht?“
„Kenn ich nicht. Black Angus kenn’ ich, Wagyu natürlich, aber das ...“
„Morucha. Hör mal, was hier steht: ‚From Birth to Slaughter: They get 12 months and while they grow they live 5 – 6 months with the mother ... Klingt doch gut, oder?”
„Good and tender, yes Sir.“
“Na, ich probier’s. Schön medium rare. Ich nehm die größere Variante, da spar ich die Beilagen.“
„Jetzt sag nicht ‚Fleisch ist mein Gemüse’, das ist ’n alter Hut.“
„Ist aber so“, beharrt Mc Dull. „Außerdem nehm ich noch ’n Dessert.“
„Wenn wir sauerstoffresistent wären, würde ich da landen und mir so viele Schenkel und Oberarme einverleiben, bis ich kollabiere. Und Brüste, besonders Brüste!“ Walx formt mit den Enden seiner Tentakel diese Delikatessen liebevoll nach, ploppt mit dem Schlund und zappelt vor Vergnügen.
„Vielfraß“, erwidert Bryyogh und wischt übers Auge. „War ein echter Glücksfall – das muss mit dem Wasser zusammenhängen. Alle anderen Styppohs sind trocken und du findest nur Staub und Steine, aber auf 16G34 laufen die Leckerbissen milliardenfach herum und werden immer mehr.“
Walx schwebt um die Cerium-Nadel und zoomt die neue Kolonie heran. „Sie werden bald weniger, wenn du mich fragst. Die neuen Sauger schaffen das Mehrfache der jetzigen Serie; die ziehen ein paar Tausend von denen aus ihren Löchern“.
"Und was schließen wir daraus, mein Freund?"
"Wir werden unglaublich viel zu essen haben, würde ich sagen."
"Und was noch?"
„Zu viel ist so problematisch wie zu wenig.“ Walx merkt jedoch schon beim Sprechen, dass seine Antwort nicht ins Schwarze trifft und lässt die Tentakel sinken.
Dafür kann Bryyogh auftrumpfen: „Kann keine Probleme erkennen. All die wundervollen Mahlzeiten werden ein Riesengeschäft, mein Lieber. Das sehe ich alles vor mir. Die Ware muss transportiert und bearbeitet werden, wir brauchen neue Ports, jede Menge Personal und und und ... “
Das elektrisiert seinen Freund: „Eins zu Null für dich. Bin mit dabei!“ Seine Tentakel straffen sich. Das Auge blitzt, er schlingt einen Saugarm um die Säule, rotiert immer schneller werdend, lässt dann plötzlich los und düst sinnlos, aber voller Freude über diese neuen Aussichten durch die Sphäre.
Mc Dulls Gesicht sieht gut durchblutet aus, als er das Messer ansetzt. Er schneidet so, dass an jedem Bissen ein Teil der gebräunten Fettschicht bleibt. Etwas Fleischsaft läuft aus der Schnittstelle und sizzelt auf der heißen Eisenplatte, ein betörender Duft steigt den beiden in die Nase.
„Na, zufrieden?“, will Erhardt wissen. Undeutlich kommt die Antwort: „Wahnsinn! Fantastisch. Ich versteh die Veggies nicht. Und deins?“
Erhardt hat – wie er sagt – nicht aus Kostengründen, sondern zur Unterstützung der Hausphilosophie ‚From Nose to Tail’ Brisket bestellt, ein etwas derberes Stück aus der Ochsenbrust. Ganz glücklich ist er damit nicht. Vielleicht hätte er Kalbsfilet nehmen sollen. So ein fünf oder sechs Monate altes Tier ist doch wesentlich zarter.
Zur Eröffnung gibt’s ein Lichtspektakel der Superlative, besonders schön ist das schwarze Licht mit Jadeglimmer. Walx bedient den Stick und ist in seinem Element.
Bryyogh hält eine launige Rede, schlägt einen großen Bogen von 16G34 zum eigenen Planeten und sinniert über universelle Gerechtigkeit, weil immerwährender Mangel endlich beseitigt wird durch das Abernten der neuen, paradiesischen Kolonie. „Um Ihnen, werte Anwesende, einen Überblick zu ermöglichen, erlauben wir uns, Ihnen Kostproben aus unserem Sortiment zu servieren.“
Ein Schwirren setzt ein, kleine Tabletts bringen die Köstlichkeiten zu den Gästen. Walx hat die Licht-Show beendet, jetzt informiert er über die Energiebilanz der neuen Nahrung. „Auf 16G34 gibt es unglaublich viele Arten. Zwar sind die geschmacklichen Unterschiede gering, doch für die Gourmets unter Ihnen vielleicht hochinteressant. Doch lassen Sie uns zuerst das Standard-Programm probieren. Hier haben wir Schwarz, Braun, Weiß und Gelb, klassifiziert nach Fettgehalt als Low, Medium und High Energy Supplier.“
Die Happen sind klein, man dippt und nascht, stippt und diskutiert mit ausgefahrenen Augen und erregt fuchtelnden Tentakeln.
„Oh, ich sehe, Sie greifen beherzt zu, das freut mich und ich darf annehmen, dass es konveniert.“ Weil Bryyogh bei den letzten Worten die Stimme senkt, meinen die Geladenen, die Vorstellung sei damit vorüber.
Unruhe kommt auf, man grapscht sich noch ein paar Skin-Chips und Augen in Aspik für unterwegs, doch er hat die Situation schnell im Griff.
„Halt, halt, meine Lieben, nicht so schnell! Ich hoffe, Sie können noch ein paar Augenblicke erübrigen, damit ich Ihnen zum Abschluss ein paar Delikatessen vorstellen kann.“
Wieder surrt es ganz leise, wunderbare Häppchen streben zu ihrem Ziel und Bryyogh fährt fort: „Hier zum Beispiel Polarmensch. Dichtes Fleisch, kompakte Fettschicht. High Energy – allerdings stark limitiert.
Der nächste Flyer bringt Ihnen Polynesier. Weiches, fettes Fleisch, bedingt durch begrenzte Bewegungsmöglichkeiten auf den winzigen Inseln – aber ein Genuss mit geriebener Manganknolle und Graphitcrème.“
Nach dem offiziellen Teil finden sich Walx und Bryyogh mit der Hautevolee zur Abschiedsrunde ein. Nach all den Kostproben ist niemand mehr wirklich hungrig, doch das Highlight des Abends steht noch an: Es ist ein Schachbrett aus den unterschiedlichen Arten; es hat nicht nur Unterhaltungswert, weil man diskutieren kann, welches Fleisch man gerade am Saugnapf hat, sondern es toppt die vorausgegangenen Kostproben durch ausschließliche Verwendung zartesten Fleisches von sehr jungen Menschen, nicht älter als ein Jahr.
Mc Dull bestellt sein ‚Grand Dessert’. Erhardt begnügt sich mit einem Sorbet. Der Ober verteilt den Rest in der Karaffe auf ihre Gläser. Sie stoßen nochmals an, Erhardt sagt: „Auf der richtigen Seite des Planeten zu leben ist gar nicht so schlecht.“
Mc Dull antwortet mit einem zufriedenen Grunzer und fügt hinzu: „Aber unsere Seite ist jetzt so gefährlich wie die ärmere. Gestern in Barcelona! Ich kann’s einfach nicht glauben, dass so mir nichts dir nichts Leute verschwinden. Das ist doch Bullshit.“
„Und wo sollen sie hin sein?“, grübelt Erhardt. "Oder glaubst du an dieses Ufo-Gesülze? Ist doch lächerlich, Ufos mit Riesenrüsseln!“
Das Sorbet kommt schlicht, aber stilvoll in einem Silberschälchen daher, von Shisoblättern umkränzt. Mc Dulls Bestellung hat künstlerischen Anspruch: Auf gleißendem Porzellan vermählen sich Formen und Farben, über allem strebt steil und erhaben ein Segel aus karamellisiertem Mandelstaub dem Himmel entgegen und lässt den Gast die Luft anhalten. Grandios, einfach grandios! Zu schön, um ... – für einen Augenblick erlöschen alle Lampen, ein störendes Geräusch kommt auf. Es wird stärker, das Segel wippt. Dann fliegt es davon.
Die Kleidung der beiden beginnt zu flattern, auch die Tischdecke. Es dröhnt grauenhaft, wie tausend Turbinen, wird zu einem infernalischen Brüllen. Ein mächtiger Sog entsteht. Erhardts üppiges Haar steht schräg nach oben, dann verlässt er seinen Stuhl. Mc Dull ist schwerer und sitzt noch, plötzlich schwebt auch er. Sein Griff nach Erhardt geht ins Leere. Dem flattern Geldscheine und Papiere aus der Jacke, er rudert hilflos mit den Armen. Panisch schreiend segelt er über die Tische, kollidiert und verhakelt sich mit anderen Fliegenden.
Mc Dull versucht, sich an Kronleuchter zu klammern, an eine Säule. Die unheimliche Kraft reißt an ihm, er verliert den Halt. Möbel krachen ineinander, Schreie gellen, Glas splittert. Der Sog wird immer stärker, Röhren, Tosen, Apokalypse. Mc Dull wirbelt davon und überschlägt sich mehrere Male in der Luft, die Schokomousse holt ihn ein und klatscht ihm samt Mintfüllung ins Gesicht. Er sieht nichts mehr, fuchtelt und strampelt, verliert die Schuhe und verschwindet im Tumult.