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- 08.07.2012
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Das Spiel der Meister
Johanna Hedlund schlug den Mantelkragen hoch und starrte in die Dunkelheit. Der Mann, der sich dort drüben im Schatten eines Hauseingangs verbarg, war nicht der erste Agent, den der Geheimdienst auf sie angesetzt hatte. Gerüchte behaupteten, dass der Dienst jetzt eine kompromisslose Politik der Beseitigung aller Personen verfolgte, die irgendwie zum Widerstand gehörten. Die Zeiten des Beobachtens und Auskundschaftens waren offenbar vorbei. Man begnügte sich nicht mehr damit, die Kuriere zu überwachen oder hier und dort eine einzelne Zelle hochzunehmen. Die Regierung hatte einen Vernichtungskurs eingeschlagen, und der Dienst tat alles, um diese Strategie ins Werk zu setzen.
Während Johanna weiter die Straße hinunter ging, umklammerte sie den Griff der Pistole in ihrer Manteltasche. Sie spürte das Pochen ihres Herzschlags in den Schläfen, und schluckte, denn es war, als schnürte ihr etwas die Kehle zusammen. Noch zehn Schritte, und der Agent würde aus dem finsteren Winkel treten, seine Waffe heben und ihrem Leben ein Ende setzen. Oder er schoss direkt aus seinem Versteck heraus. Das machte kaum einen Unterschied. Doch jetzt umzukehren hieß nur, diesem Kretin einen sauberen Genickschuss zu ermöglichen. Denn das würde er ohne Zweifel tun. Sie abknallen, wie man Hunderte von politischen Gefangenen in den Zuchthäusern und Lagern liquidierte. Von hinten, aus nächster Nähe, mit einer Kugel in den ersten Halswirbel. War es da nicht besser, dem Unvermeidlichen entgegenzutreten?
Vor dem Hauseingang blieb Johanna stehen. Obwohl sie den Agenten nicht sehen konnte, wusste sie, dass er dort lauerte. Wahrscheinlich richtete er in diesem Augenblick seine Automatik auf sie und genoss den Moment vor dem Schuss.
Johanna stand still da, und bestimmt hörte nur sie das Klicken, als sie den Sicherungshebel ihrer Pistole nach unten drückte. Doch anstatt die Waffe aus der Tasche zu ziehen, sagte sie mit belegter Stimme: »Komm raus. Ich will dein Gesicht sehen.«
Es vergingen ein paar Sekunden, in denen Johanna dachte, sie hätte sich getäuscht, glaubte, sie hätte sich das alles nur eingebildet, weil eben Angst und Paranoia seit einigen Jahren untrennbar zu ihrem Leben gehörten und man wegen der Krankheit, die alle nur die Degeneration nannten, kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Dann sah sie das Glänzen der Laufmündung, und kurz darauf hatte sich die ganze Waffe aus der Dunkelheit in das trübe Licht der Straßenlaterne geschoben.
Johanna schaute auf die Mündung. Von dem Mann, der sie töten würde, war nicht mehr zu sehen, als eine Hand in einem schwarzen Lederhandschuh.
»So wie wir dich gekriegt haben, werden wir euch alle kriegen«, sagte eine Stimme irgendwo hinter der Automatik. »Wir radieren euch aus, einen nach dem -«
Ein Knall peitschte durch die Straße und hallte von den Häuserwänden wider. Die Pistole des Agenten verschwand mit einem Ruck in der Finsternis. Auf der Straße hinter Johanna stieß jemand einen Pfiff aus, und es war, als hätte irgendetwas in ihr das Kommando übernommen, als sie sich umdrehte und losrannte.
»Sie gehen jetzt auf Frontalkurs«, sagte Klara Sundland. Ihre Fingerspitzen trommelten auf ein abgegriffenes Buch mit fleckigem Einband, das vor ihr auf dem Tisch lag. Johanna kannte Sundland von mehreren Treffen her, hatte sie jedoch niemals bei irgendeiner Aktion erlebt. Der Führungsstab achtete darauf, die wichtigen Leute im Hintergrund zu halten. Sundland gehörte zu den Offizieren des Widerstands, und die verheizte man nicht im alltäglichen Guerillakrieg. Trotzdem: Mit ihrer stahlgefassten Brille, dem streng zurückgekämmten Haar und der Pistole, die sie in einem Gürtelholster trug, gab sie die kampferprobte Partisanenbraut.
»Und was bedeutet das für uns?«, fragte Johanna.
Sundland schaute sie nachdenklich an. »Es bedeutet, dass uns die Zeit davonläuft«, sagte sie schließlich.
Johanna strich eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr und fragte sich, ob sie aufgeflogen waren. Dieser Agent hatte ihr hier in der Nähe des Treffpunktes aufgelauert. Das hieß, sie wussten von dem Meeting, oder nicht? Ihr Blick schweifte durch das Zimmer der kleinen konspirativen Wohnung. Der Mann, der ihr das Leben gerettet hatte, stand am Fenster und beobachtete die Straße. Sein blasses Gesicht wirkte wie eine Maske - leblos, kalt, verhärtet. Johanna kannte diesen Ausdruck verbissener Entschlossenheit, die Tag für Tag sinnloser erschien, weil inzwischen kaum noch jemand so richtig verstand, wofür sie alle eigentlich kämpften.
»Bitte, was?«
»Ich sagte, uns läuft die Zeit davon.«
»Hm«, gab Johanna zurück. Seitdem die Degeneration um sich griff, spielte es im Grunde keine Rolle mehr, ob man sich die Kugel eines Agenten fing oder in völliger Verblödung endete. Offenbar konnte nichts den Niedergang aufhalten. So oder so, sie waren Soldaten in einem aussichtslosen Krieg.
»Mach dir wegen des Agenten keine Gedanken, Johanna. Der Dienst hat seit ein paar Tagen überall in der Stadt Männer postiert. Sie schüchtern nachts alle Leute ein, die ihnen über den Weg laufen.«
»Er wusste, dass ich zum Widerstand gehöre.«
»Ach was. Der wollte bloß auf den Busch klopfen.« Sundland wies mit einer Bewegung des Kopfes zu dem Mann, der am Fenster Wache stand. »Gut, dass ich dir Gregor entgegengeschickt habe.«
»Ihr hättet mich warnen müssen.«
»Ich habe es selbst erst vor ein paar Stunden erfahren. Die Regierung führt einen grundlegenden Strategiewechsel durch. Das betrifft alle möglichen Bereiche. Beim Stab geht's gerade chaotisch zu.«
Johanna nickte, obwohl sie nicht begriff, wovon Sundland redete. Der Führungsstab war für die einfachen Kämpfer eher ein Mythos als ein reguläres Kommando. Kaum jemand hatte eine Vorstellung davon, wie der Stab arbeitete oder auf welchem Wege seine Entscheidungen zustande kamen.
»Wie geht es deinem sexy Regierungsfreund, Johanna?«
»Hm?«
»Dir ist doch klar, dass wir diese Beziehung nur dulden, solange sich Adrian für uns als nützlich erweist?«
»Keine Ahnung.«
»Was soll das heißen?«
Johanna hob das Kinn und sah Sundland mit einem harten Blick ins Gesicht.
»Ich weiß nicht, was er macht. Er meldet sich nicht.«
»Hat er eine andere?«
Johanna zuckte die Schultern.
»Sehr bedauerlich«, sagte Sundland.
Die Dielen unter Gregors Füßen knarrten, als seine Hand zur Hüfte ging. Er starrte mit schmalen Augen auf irgendeinen Punkt draußen in der Dunkelheit.
»Wir haben einen Auftrag für dich, Johanna.« Sundland betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Einen wichtigen Auftrag.«
Von unten her war ein Wagen zu hören, der langsam am Haus vorbei fuhr, und Johanna bemerkte, wie alle im Raum den Atem anhielten. Sie warteten einen Moment lang schweigend. Schließlich war es wieder still auf der Straße.
»Es geht um die Degeneration«, fuhr Sundland fort. Sie setzte ihre Brille ab und rieb sich die Stirn. »Mittlerweile ist beinahe der gesamte Widerstand davon betroffen. Wir wissen immer noch nicht, wie sie die Bevölkerung damit infizieren oder wie sie sich selbst davor schützen. Aber wenn es so weitergeht, wird der Widerstand in zwei Jahren nur noch ein Haufen stammelnder Idioten sein.«
Johanna nickte. Sie kannte die Symptome nur zu gut. Vergesslichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Verwirrungszustände, Angst. Es war, als führte man Krieg gegen den Verfall des eigenen Verstandes. Inzwischen nutzten sie alle Listen und Merkzettel, um ihr Leben zu organisieren, doch weil sich das bei Kommandoeinsätzen von selbst verbot, endeten Gefangenenrettungen oder Sabotageaktionen nicht selten in einem Fiasko. Die Kämpfer versäumten, ihre Waffen durchzuladen, Zünder auf die richtige Zeit einzustellen oder handelten einfach zu langsam. Mit dieser Truppe ging es abwärts, das war klar.
»Es gibt ein Mittel gegen die Degeneration«, sagte Sundland, setzte ihre Brille wieder auf und betrachtete Johanna, während ein feines Lächeln ihre Lippen umspielte.
Johanna nickte, doch dann hielt sie inne und sagte: »Was?«
»Ja, es klingt verrückt, aber wir haben Leute, Spezialisten, die eine Menge davon verstehen. Und die meinen, dass es ein Mittel gibt.«
Johanna wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Es klang tatsächlich zu phantastisch.
»Die Sache hat nur einen Haken«, sagte Sundland. »Bei dem Mittel handelt es sich nicht um Medizin, die man einfach schlucken oder spritzen könnte.«
»Sondern?«
»Es ist eine Art Training. Ein Brettspiel, um genau zu sein.«
»Ein Spiel«, sagte Johanna.
Sundland hob die Hände. »Ich weiß, wie sich das anhört.«
»Für so einen Schwachsinn habe ich keine Zeit, Klara.«
»Setz dich hin und hör zu.«
Sundland holte ein Päckchen Look aus ihrer Jacke und schob es über den Tisch. »Bedien dich.«
Johanna nahm sich eine Zigarette. Ein Feuerzeug segelte durch die Luft, und Johanna fing es.
»Gute Reflexe«, bemerkte Sundland. Sie schien einen Augenblick lang den Faden verloren zu haben, blinzelte und sagte dann: »Es soll das komplexeste Spiel der Welt sein. Sehr alt, sehr vielschichtig, überaus schwierig, wenn man es meistern will.«
Johanna rauchte und genoss die Wirkung des Nikotins.
»Offenbar werden beim Spielen Neuronen aktiviert, die in der Lage sind, die Degeneration zu hemmen.«
Johanna zuckte mit den Schultern und sah Sundland an.
»Leider weiß kaum jemand, wie man es spielt. Die Regierung hat alle bekannten Meister des Spiels inhaftieren lassen, und es gibt so gut wie keine Bücher oder Dokumentationen darüber.«
Sundland erhob sich, machte ein paar Schritte durch den Raum und nestelte an ihrer Brille. Johanna schnippte die Asche von ihrer Zigarette.
»Es gibt da allerdings einen Meister, den sie nicht erwischt haben, und dieser Mann lebt in unserer Stadt. Das ist unsere Chance.«
»Okay«, sagte Johanna. »Mal ganz davon abgesehen, dass ich die Geschichte für Blödsinn halte, bin ich bestimmt nicht die Richtige für diesen ... Auftrag. Soll ich das Spiel bei diesem Meister lernen? Ja? Ist das etwa der Plan? Da kann ich nur lachen, Klara.«
»Wieso?«
»Wieso? Weil ich sicher nicht zu den klügsten Köpfen im Widerstand gehöre.«
»Aber zu den hübschesten.«
»Hm?«
Sundland trat wieder an den Tisch.
»Wir haben bereits drei Leute auf den Mann angesetzt, um ihn zu bewegen, uns das Spiel zu lehren. Aber der alte Sack weigert sich.«
Johanna betrachtete die Rauchschwaden, die vor ihr zur Zimmerdecke stiegen.
»Der Mann ist nicht einzuschüchtern und nicht zu bestechen. Er behauptet, das Spiel nicht zu kennen. Aber ich bin mir sicher, bei einer hinreißenden Blondine im zarten Alter von ... wie alt bist du eigentlich?«
»Zweiundzwanzig.«
»Ja, für so eine reizende junge Dame macht er sicher eine Ausnahme.«
Ein paar Augenblicke lang war es so still im Raum, dass man von der Küche her das Ticken der Wanduhr hören konnte.
»Okay«, sagte Johanna schließlich. »Wenn das mein Beitrag sein soll, dann bitte.«
»Gregor wird dich morgen zu dem Mann führen. Der Alte heißt Kjell Nestor und zecht gern in einem Speakeasy, das uns gehört. Verwickle ihn in ein Gespräch. Bring ihn dazu, dich zu unterrichten.«
»Und wie soll ich das tun?«
»Zeig ihm deine Titten«, erwiderte Sundland. »Und spiel ihm die Eingeweihte vor.« Sie klopfte auf das Buch, das auf dem Tisch lag und schob es zu Johanna herüber. »Das ist ein seltenes Exemplar. Ein Lehrbuch über die Eröffnungstheorie des Spiels.«
Johanna klappte das Buch auf und blätterte ein wenig darin herum.
»Aber am wichtigsten ist, dass du ihm deine Titten zeigst.«
Das Leben, in dem Johanna mehr als zwei Kleider im Schrank hängen hatte, war lange vorbei. An diesem Abend fiel es ihr deshalb nicht schwer, eine Auswahl zu treffen, die zur bevorstehenden Mission passte - ein nachtblaues Kleid, so enggeschnitten, dass sie nicht wusste, wie sie darunter eine Waffe verstecken sollte.
Gleich nachdem sie das Speakeasy betreten hatten, schaute sich Gregor um und wies dann mit einer Kinnbewegung auf einen älteren Mann mit Brille, der etwas abseits an einem Tisch saß und ein Whiskyglas in der Hand hielt. Während sich Gregor unter die Gäste mischte, öffnete Johanna ihren Mantel, trat an den Tresen und orderte einen Black Russian.
Im Laufe der folgenden Stunde verbrachte sie eine Ewigkeit mit dem Versuch, einen zufällig wirkenden Blickkontakt zu Nestor herzustellen, aber der Mann schien vollauf damit beschäftigt, über seinem Drink zu meditieren. Scheiß drauf, sagte sie schließlich zu sich selbst, ergriff ihr Glas und trat an seinen Tisch.
»Leisten Sie mir etwas Gesellschaft?«
Nestor hob den Blick. Er betrachtete sie einen Moment lang ohne jede Regung.
»Sie sehen nicht aus, wie eine Professionelle.«
»Das nehme ich mal als ein Ja«, erwiderte Johanna und setzte sich zu ihm. Während sie irgendwas über die Zeiten plapperte, in denen man sich abends legal einen Drink genehmigen konnte, forschte sie in dem Gesicht des Mannes nach einem Anhaltspunkt, einem Hinweis dafür, wie sie vorgehen sollte.
Nestor hörte ihr eine Weile schweigend zu und sagte dann: »Was wollen Sie von mir?«
»Okay, ich will offen zu Ihnen sein«, sagte Johanna. »Eine Freundin hat mir von Ihnen erzählt. Sie sagte, wenn ich ernsthaft lernen möchte, dann sind Sie der beste Lehrer, den man kriegen kann.«
»Was lernen?«
»Das Spiel der Tauben und Raben«, erwiderte sie. Ohne es zu beabsichtigen, hatte sie die Stimme gesenkt.
Nestor lehnte sich zurück und schwieg. Johanna versuchte in den Augen hinter diesen dicken Brillengläsern zu lesen, was er von ihrer Bitte hielt, aber da war nichts als Leere, aus der heraus sie betrachtet, ja gemustert wurde. Dem Anschein nach hatte der Mann seine besten Jahre hinter sich, aber ob er auf die Sechzig oder gar auf die Siebzig zuging, ließ sich unmöglich mit Bestimmtheit sagen. Trotz der Strenge, die in Nestors Zügen lag, gab es da etwas, das diesem Eindruck von Härte und Unnahbarkeit zu widersprechen schien; eine kaum wahrnehmbare Bewegung seiner Mundwinkel vielleicht, so als könnte er jeden Moment in dröhnendes Gelächter ausbrechen. Und plötzlich wünschte Johanna, ohne dafür den Grund zu wissen, das Lachen dieses Mannes zu hören.
»Ist es möglich, dass sich Ihre Freundin für den Widerstand engagiert?«
Johanna hatte schon den Mund geöffnet, aber Nestor hob die Hand. »Nein, bitte tischen Sie mir keine weiteren Lügen auf.«
Er nahm einen Schluck von seinem Whisky.
»Ich nehme an, Sie wissen, dass das Spiel seit Jahren verboten ist.«
Johanna nickte.
»Und Sie wissen auch, dass man Spieler verfolgt und ins Gefängnis wirft?«
»Das weiß ich.«
»Und trotzdem wollen Sie es lernen.«
»Stimmt.«
Nestor leerte sein Glas und setzte es behutsam wieder ab.
»Und wie hatten Sie sich die Bezahlung meines Unterrichts vorgestellt?«
Johanna sah ihm in die Augen und sagte ohne zu zögern: »Was immer Sie dafür verlangen.«
Nestor lächelte. Er schüttelte den Kopf, erhob sich und nahm seine Jacke von der Stuhllehne.
Den Blick auf seine Schuhspitzen gerichtet, sagte er: »Sprechen Sie mich nie wieder an.« Dann nickte er dem Mann hinter dem Tresen zu und verließ das Speakeasy.
Johanna schreckte um sechs Uhr in ihrem Bett hoch, als aus der Kommunikationseinheit der alltägliche Morgengruß ertönte - ein Fanfarenstoß, dem eine motivierende Kurzansprache folgte.
In ihren Schläfen dröhnten Hammerschläge. Sie schleppte sich unter die Dusche und hörte einige Minuten lang den Anklageverlesungen des Tages zu. Mehr als zwanzig Gefangene erwarteten ihre Urteile. Um sechs Uhr dreißig endete die Morgensendung. Selbstverständlich konnte man die Kommunikationseinheit sabotieren, doch das rief nur den Sicherheitsdienst auf den Plan. Die Strategen des Widerstands behaupteten, dass es lediglich eine Frage der Zeit sei, bis man die Kommunikationseinheiten mit umfassender Audio- und Videoüberwachung ausstatten würde.
Johanna saß am Küchentisch und hielt ihre Kaffeetasse in der Hand, als die Wohnungstür mit einem Krachen aufsprang und eine Einheit der Staatspolizei hereinstürmte. Der erste Knüppelhieb traf sie über der linken Augenbraue, ein zweiter Schlag trieb ihr die Luft aus den Lungen. Johanna rutschte vom Stuhl und lag eine Zeitlang keuchend am Boden. Die Männer des Sturmkommandos sicherten die Wohnung und fesselten Johannas Hände mit einem Kabelbinder. Jemand zog ihr eine Kapuze über den Kopf, und dann wurde sie hochgerissen und fortgeschleift.
Während sie auf dem Boden des Einsatztransporters lag, der sie vermutlich zu einem der vielen Verhörzentren bringen würde, dachte Johanna voller Schrecken an die Methoden, die von Staatspolizei und Geheimdienst bei den berüchtigten Gefangenenbefragungen eingesetzt wurden. Nach einer endlosen Fahrt zog ihr jemand die Kapuze vom Kopf. Der Transporter bremste so scharf, dass Johanna mit der Stirn gegen eine Sitzbank des Einsatzwagens schlug. Sie hörte ein raues Lachen und dann kippte sie rückwärts in die Dunkelheit.
»Wissen Sie, weshalb Sie hier sind, Frau Hedlund?«
Johanna brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass die eigenartig geformte Landschaft, auf die sie aus einem sonderbaren Winkel hinabzuschauen schien, ihr eigener, unbekleideter Körper war. Offenbar saß sie auf einem Stuhl, die Arme hinter dem Rücken gefesselt.
»Heben Sie den Kopf und sehen Sie mich an.«
Ja, genau. So war es. Sie saß auf einem Stuhl und schaute an sich selbst hinab, schaute auf ihre Brüste, ihren Bauch und ihren Unterleib.
»Sehen Sie mich an, sagte ich.«
Demzufolge waren das dort ihre Schenkel und ihre Kniegelenke.
Der Verhöroffizier schlug mit der Hand auf den Tisch, und Johanna riss den Kopf hoch.
»Vielen Dank«, sagte der Offizier. »Ich fragte Sie soeben, ob Sie wissen, weshalb Sie hier sind.«
Johanna starrte ihn mit halbgeöffnetem Mund an. Der Mann hinter dem Tisch trug die schwarze Uniform des Reichsheeres und einen Wolfskopf auf dem Kragenspiegel.
»Nein? Dann werde ich Ihnen gern auf die Sprünge helfen.« Er erhob sich. »Doch zunächst möchte ich mich vorstellen, damit Sie verstehen, in welcher Lage Sie sich befinden.«
Er lief im Raum auf und ab, einer etwa zehn Quadratmeter großen fensterlosen Zelle. Ihr einziges Mobiliar bestand aus einem Tisch und zwei Stühlen. Die weißgekalkten Wände reflektierten das grelle Licht der Deckenleuchte. Der Boden war mit grauen und dunkelblauen Fliesen ausgelegt, die man in einem quadratischen Mosaik um ein schmutzig vergrindetes Abflussloch in der Mitte der Zelle angeordnet hatte.
»Ich bin Major Anquist. Ich ermittle in einem schweren Fall von Meuterei und Aufruhr in einem Bataillon des dritten Jägerregiments. Wie Sie sich bestimmt denken können, nimmt das Militär jede Form von Insubordination sehr ernst.«
Johanna versuchte, sich aufzurichten. In ihrem rechten Schultergelenk knackte es, und erst jetzt bemerkte sie, dass sich ihre Hände kalt und taub anfühlten.
»Wollen Sie, dass ich Ihnen die Fessel abnehme?«
Johanna nickte.
Anquist trat hinter sie, und sie spürte seinen Blick auf ihrem Körper.
»Solange ich der Überzeugung bin, dass Sie vollständig kooperieren, Frau Hedlund, gibt es keinen Anlass zur Sorge.«
Johanna zuckte zusammen, als Anquist seine Hände auf ihre Schultern legte.
»Sehen Sie, ich habe volle Freigabe für jede Art von Verhörtechnik, die notwendig ist, um meine Ermittlungen voranzutreiben.«
Die Hände des Majors glitten ein Stück an Johannas Armen hinab.
»Können Sie sich vorstellen, weshalb Sie zu dieser Vernehmung einbestellt wurden?«
»Einbestellt?«, wiederholte Johanna mit trockenem Mund. »Verschleppt wurde ich, in meiner Wohnung überfallen und verschleppt.«
Anquist zog scharf die Luft ein, trat zur Seite und umrundete den Tisch. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und betrachtete sie eine Weile mit zusammengepressten Lippen und einem Blick, der sich in ihre Stirn zu bohren schien.
Er wies mit der Hand auf die Zellentür. »Wenn ich jetzt da raus gehe und dem Gefreiten, der vor der Tür Wache steht, sage, dass er sich eine Stunde lang mit Ihnen befassen soll, was glauben Sie, wird dann geschehen?«
Johanna blies eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und obwohl ihre Lippen ein wenig zitterten, schaute sie Anquist kalt in die Augen und sagte: »Er wird mich vergewaltigen.«
»Falsch«, erwiderte Anquist leise, und ein dünnes Lächeln erschien auf seinem blassen Gesicht. »Er wird Sie verprügeln, wird Ihnen die Scheiße aus dem Leib prügeln, bis Sie nicht mehr wissen, wie Ihr Name lautet. Und dann wird er Sie vergewaltigen. Und dann verprügelt er Sie wieder.«
Anquist legte die Fingerspitzen aneinander.
»Was halten Sie davon, Frau Hedlund?«
Johanna ignorierte, dass ihr Herz schmerzhaft bis in den Hals pochte und hob das Kinn.
»Dann wär's wohl vorbei mit dem Verhör«, sagte sie und beobachtete, wie Anquists Nasenflügel bebten.
»Gefreiter Frese«, brüllte der Major. »Reinkommen!«
Die Zellentür wurde aufgerissen und ein Soldat in der Uniform der Militärpolizei trat in den Raum. Der Mann hatte etwas von einer Bulldogge. Johanna kam nicht dazu, ihn genauer zu betrachten. Auf einen Nicken von Anquist hin machte Frese einen Schritt auf sie zu, wobei er sein ganzes Gewicht in die Bewegung legte, und schmetterte seine Faust in ihr Gesicht. Die Wucht des Schlages schleuderte Johanna zu Boden.
»Danke, Frese. Stellen Sie den Stuhl wieder auf und dann Wegtreten.«
Während Johanna beobachtete, wie sich das Blut, das ihr aus Mund und Nase geschossen war, in einer Lache sammelte und schließlich träge in Richtung der Zellenmitte floss, redete Anquist auf sie ein und erging sich in Erläuterungen, von denen nur ein Bruchteil in ihr Bewusstsein drang. Einen Moment lang sah sie sich selbst so, wie sie hier nackt vor diesem Sadisten am Boden lag, die Hände auf den Rücken gebunden und mit blutendem Gesicht. Und ihr wurde übel, so ekelte sie der Gedanke, diesem Mann ausgeliefert zu sein.
»Geben Sie uns Klara Sundland, dann kommen wir ins Geschäft«, sagte Anquist. »Wir wissen, dass sie eine entscheidende Rolle bei dieser Meuterei spielt. Wir wissen, dass sie den Kontakt zwischen dem Bataillonskommandeur und dem Widerstand hergestellt hat.«
»Kenne ... ich nicht«, sagte Johanna mühevoll und würgte.
»Wie bitte? Was sagten Sie? Sprechen Sie gefälligst lauter.«
»Ich kenne niemanden ... der so heißt.«
»Sie kennen Klara Sundland nicht?«
»Nein.«
Anquist sprang von seinem Stuhl und stürzte sich auf Johanna. Er packte sie an der Kehle und presste sie auf den Zellenboden, bis sie röchelte. Johanna spürte, wie sich das Blut in ihrem Gesicht staute und wie ihr Brustkorb in Krämpfen zuckte.
»Ich habe keine Zeit für diese Spiele«, stieß Anquist zwischen den Zähnen hervor. »Und das, meine Liebe, ist schlecht für Sie.«
Er ließ von ihr ab, und Johanna drehte sich hustend auf die Seite. Sie erbrach ein wenig Schaum und dunkle Flüssigkeit, und dann spuckte sie Blut.
»Aufstehen.«
Betäubt vom Schlag des Soldaten, versuchte Johanna, sich zu orientieren. Nichts in dieser Zelle stimmte. Die Decke des Raumes hing schräg, und dort, wo der Tisch und die Stühle stehen sollten, befand sich die Tür.
»Hoch, habe ich gesagt.«
Johanna zog die Knie an und versuchte, ihren Oberkörper aufzurichten.
»Los, machen Sie schon. Weiter, weiter.«
Noch immer sickerte Blut aus ihrem Mund, und hinter den Augen pulsierte ein Schmerz, der sie beinahe zurücksinken ließ, doch schließlich kam sie auf die Füße, und eine Minute später stand sie schwankend und mit zitternden Knien vor Anquist.
»Na also«, sagte der Major. »Jetzt drehen Sie sich zur Wand. Beine spreizen und vorbeugen.« Seine Stimme war rau vor Erregung und Zorn.
»Füße auseinander und weiter vorbeugen.«
»Kann nicht«, sagte Johanna, erschrocken vom Klang ihrer Stimme. Sie zerrte an ihrer Fessel. »Sonst kippe ich um.«
Anquist packte sie an den Haaren und stieß sie mit dem Kopf gegen die Wand.
»Zu blöd, sich gegen eine Wand zu stützen, wie? So. Füße noch weiter auseinander.«
Johanna spürte, wie ihre Füße auf den blutverschmierten Bodenfliesen rutschten.
»Ich gebe Ihnen jetzt die letzte Chance zu kooperieren, Frau Hedlund«, sagte der Major und ging zur Zellentür.
Johanna drehte den Kopf zur Seite, und aus den Augenwinkeln sah sie, wie Anquist die Tür öffnete.
»Frese, holen Sie aus dem Wachbüro einen kurzen Gummischlagstock. Beeilung.«
Johanna fühlte, wie sich ihr Bauch verkrampfte. Sie presste die Kiefer zusammen.
Anquist kehrte zu ihr zurück. »Sagen Sie mir, wo sich Klara Sundland aufhält.«
»Kenne die Frau nicht«, stieß Johanna hervor und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken.
Mit einem Poltern trat Frese in die Zelle. In der Hand hielt er einen Schlagstock von etwa einem halben Meter Länge.
»Kommen Sie her, Gefreiter. Geben Sie mir den Knüppel.«
Johannas Schenkel zitterten, als Frese zu ihnen herangestampft kam.
»Letzte Chance«, sagte Anquist.
»Bitte nicht.« Johanna schmeckte das Salz ihrer Tränen und das Blut, das an ihrer Wange herablief.
»Frese, halten Sie sie fest.«
Johanna unterdrückte einen Würgereiz und schloss die Augen.
In diesem Moment wurden draußen auf dem Gang Befehle gebrüllt. Johanna hörte das Knallen genagelter Stiefel, und dann riss jemand die Zellentür weit auf.
»Was zur Hölle«, fluchte Anquist und fuhr herum.
»Gehen Sie sofort weg von ihr«, sagte eine Stimme, die Johanna kannte.
Als Johanna am nächsten Abend zu Nestor an den Tisch trat, trug sie nicht ihr nachtblaues, enggeschnittenes Kleid, sondern Jeans und einen groben Pullover.
»Zeigen Sie mir, wie man das Spiel spielt«, sagte sie.
Nestor betrachtete sie eine Weile, dann sagte er: »Setzen Sie sich.«
Johanna stützte sich auf die Tischplatte und nahm neben ihm Platz.
Eine Weile schwiegen sie. Im Speakeasy herrschte an diesem Abend kaum Betrieb. Zwei Gäste unterhielten sich leise am Tresen, und nur drei oder vier Tische waren besetzt.
»Einen kleinen Unfall gehabt?« Nestor nahm einen Schluck von seinem Whisky.
»So was in der Art.«
»Sie sollten vorsichtiger sein.«
»Tja, dafür fehlt uns leider die Zeit.« Johanna steckte sich eine Look an und betrachtete ihre zitternden Finger.
»Ach ja?«
»Wenn Sie uns nicht helfen, wird der Widerstand bald nur noch aus Zombies bestehen.«
»Und Sie wollen das verhindern, ja?«
»Genau.«
Nestor nickte und und rückte seine Brille zurecht. Dann fragte er: »Woher wollen Sie wissen, dass das nicht ohnehin passiert?«
»Keine Ahnung, ich muss es einfach versuchen.«
»Ich denke, Sie haben nicht die geringste Vorstellung davon, was es bedeutet, das Spiel zu spielen.«
»Da haben Sie sicher recht.«
»Also gut«, sagte Nestor. »Wie heißen Sie?«
»Nennen Sie mich Johanna.«
»Das war verdammt knapp.« Sundland ging im Raum auf und ab. Sie hielt eine glimmende Zigarette zwischen den Fingern.
»Knapper geht's nicht«, sagte Johanna. »Wäre Adrian da nicht aufgetaucht ...«
Gregor drehte sich von seinem Fensterposten zu Johanna um und nickte ihr zu.
»Schon gut. Behalt die Straße im Auge«, sagte Sundland. Sie wandte sich wieder an Johanna: »Zumindest weißt du jetzt, dass er zu dir steht.«
»Vergiss es. Er hat mir klar gemacht, dass er mich nicht noch mal aus der Scheiße holen wird.«
»Diese Kanaille.«
»Überhaupt nicht, Klara.« Johanna stützte den Kopf in ihre Hände und sagte: »Er hat bei der Aktion sein Leben für mich riskiert. Der Job im Ministerium macht ihn nicht unangreifbar.«
Sundland trat an den Tisch und drückte ihre zur Hälfte heruntergebrachte Zigarette im Ascher aus.
»Du musst jetzt auf jeden Fall untertauchen. Gregor bringt dich gleich im Anschluss in ein Safehouse.«
»Und Nestor?«
»Ich habe das geregelt. Ihr könnt das Hinterzimmer im Speakeasy nutzen. Pass auf, dass du auf dem Weg dorthin keinem Agenten in die Arme läufst.«
»Okay. Und noch etwas.«
»Ja?«
»Ich will bei der Sache mit dem Jägerbataillon dabei sein.«
Sundland setzte sich Johanna gegenüber und betrachtete sie mit leicht gehobenen Augenbrauen.
»Ich bin nicht sicher, ob du schon so weit bist«, sagte sie dann. »Das Projekt ist heikel.«
Johanna nickte. »Darauf wette ich. Aber denke daran, was ich für dich getan habe.«
»Du meinst, ich schulde dir was?«
»Und ob, Klara.«
»Also gut.« Sundland rieb sich die Schläfen. »Ach ja. Was ist mit deiner Waffe und dem Buch? Ich nehme an, sie haben deine Wohnung gründlich auseinandergenommen.«
»War beides sicher im Keller versteckt«, erwiderte Johanna.
»Kluges Mädchen.«
Ein Spielbrett aus Eibenholz, auf dem ein Gitternetz mit jeweils neunzehn Linien horizontal und vertikal aufgetragen war und zwei Kirschholzdosen, in denen sich weiße und schwarze, linsenförmige Spielsteine befanden – Johanna konnte nicht glauben, dass dies die Utensilien waren, von denen der Kampf gegen die Degeneration abhängen sollte.
»Wenn du beginnst, das Spiel zu spielen«, sagte Nestor, »wird sich dein Leben grundlegend ändern.«
»Ich verstehe«, erwiderte Johanna. »Fangen wir an.«
»Es ist das Spiel der Spiele, das Spiel der Meister, denn in ihm offenbaren sich alle Dinge dieser Welt.«
Nestor entnahm den Dosen ein paar schwarze und weiße Steine und legte sie auf das Brett. »Das sind die Raben und die Tauben«, sagte er. »Sie symbolisieren Schatten und Licht. Diese Kräfte befinden sich in ständigem Konflikt, in ständigem Kampf.«
»Okay«, sagte Johanna. »Aber was ist das Ziel des Spiels? Worum geht es?«
»So wie sich Licht und Schatten die Welt teilen«, sagte Nestor, »so verteilen sich die Tauben und die Raben auf dem Spielbrett. Sie ringen um jeden freien Fleck, versuchen, sich gegenseitig zu verdrängen. Am Ende einer Partie wird ausgezählt, welcher Spieler das Brett beherrscht. Es ist also ein Spiel um Gebiet.«
»Gebiet?«
Nestor nickte. »Ja, es geht darum, möglichst viele Punkte auf dem Brett zu beherrschen. Bedenke aber, dass beide Spieler abwechselnd setzen.«
»Und das heißt?«
»Du kannst deinen Gegner nicht ignorieren und so tun, als ob dir das ganze Brett gehören würde. Bist du zu gierig, hältst du am Ende nichts in den Händen.«
Er schob alle Steine vom Spielbrett und sagte: »Du nimmst Schwarz und beginnst.«
Nachdem sie ein paar Züge gespielt hatten, sagte Johanna: »Gut. Aber was hindert mich daran, meine Steine in das Gebiet des Gegners zu setzen?«
Nestor lächelte. »Du stellst die richtigen Fragen.«
Johanna erfuhr, dass Gruppen von Steinen im Verlauf einer Partie nur überleben konnten, wenn es ihnen gelang, spezielle Formationen zu entwickeln. Gelang dies nicht, konnte der Gegner die Steine fangen und für sich selbst als Punkte beanspruchen. Das machte das Ganze schlagartig kompliziert, denn Johanna war einfach nicht in der Lage, in all dem Wirrwarr der Formen die Strukturen zu erkennen, die die Kräfteverhältnisse zwischen den Tauben und den Raben bestimmten.
Nach drei Stunden und hunderten von Spielzügen, lehnte sie sich erschöpft zurück und sagte: »Das reicht fürs Erste.«
Von der Mannschaft des Bunkers war selbst mit dem Nachtsichtgerät nichts zu erkennen, doch Johanna wusste, dass hinter den Schießscharten zwei Maschinengewehre darauf warteten, jeden zu zerfetzen, der sich dem Lager vom Waldrand her näherte. Unter einer hauchdünnen Mondsichel lag die Feuchtwiese da wie ein sumpfiger Todesstreifen, und die Vorstellung, sich im Kugelhagel durch den binsenbewachsenen Brühl zu schlagen, presste Johanna die Kehle zusammen.
»Letzte Gelegenheit«, sagte Leutnant Nyborg und deutete auf die Uhr an seinem Handgelenk.
Johanna schüttelte den Kopf. »Das sind unsere Leute da drinnen. Ich gehe mit.«
Nyborg nickte. Ein Lächeln glitt über das mit Tarnfarben bemalte Gesicht.
»Hoffentlich haben sie unsere Nachricht bekommen.«
»Keine Sorge, Leutnant.«
Einige Meter entfernt machten sich zwei Männer für das Abfeuern einer Panzerbüchse bereit. Der Richtschütze setzte den Werfer auf seine Schulter. Er visierte die Bunkerstellung an, deren knochenbleiche Kuppel über dem Todesstreifen wachte. Ein Fuchsschrei gellte durch die Nacht, und Johanna erschauerte. Sie beobachtete, wie der Ladeschütze das Raketengeschoss bis zum Gefechtskopf einführte, den Sicherungsstift zog und seinem Partner auf den Helm klopfte.
»Achtung«, sagte Nyborg. Im gleichen Moment zischte die Rakete über den Brühl. Krachend platzte der Bunker auseinander, und brennende Trümmerteile flogen durch die Luft. Die Männer des Angriffsteams sprangen auf. Im Flammenschein rannten sie los. Hundegebell setzte ein, auf den Wachtürmen gingen Flutlichtstrahler an, und das Stottern von Maschinenpistolen war zu hören. Eine Gruppe von Jägern erwiderte vom Waldrand her das Feuer, und Nyborgs Scharfschützen, verborgen zwischen Seggen und Wollgras, schossen auf die Suchscheinwerfer. In der Nähe der Gefangenquartiere detonieren Handgranaten, und kurz darauf strömten unzählige Menschen auf den Lagerhof.
Die Pistole in der Hand setzte Johanna dem Leutnant hinterher. Ihre Stiefel sanken tief in den Morast. Sie hörte, wie dicht neben ihrem Kopf Kugeln durch die Nachtluft pfiffen. Eine weitere Rakete rauschte über den Sumpf hinweg ins Lager und riss unter lautem Getöse eine MG-Stellung auf dem Dach der Kommandeursbaracke in Stücke. Johanna stürzte und schlug der Länge nach ins schlammige Wasser. Nyborg wandte sich zu ihr um.
»Kopf runter!«, rief er. »Bleiben Sie unten!«
Alles geriet in Aufruhr. Atemlos verfolgte Johanna das Spektakel. In das Schreien der Gefangenen hinein brüllten Offiziere der Militärpolizei den Wachmannschaften Kommandos zu, doch die gingen in Deckung, denn aus den Karabinern der Jäger prasselte Salve um Salve auf sie nieder. Über dem Tumult kreischte die Lagersirene, und als ein funkensprühender Kurzschluss die Hundeketten am äußeren Patrouillengang ausklinkte, war das Chaos perfekt. Die Tiere schienen weder Freund noch Feind zu kennen. Geifernd und wie von Sinnen stürzten sie sich in den Kampf. Johanna sah, wie einer der Wachposten von einem Rottweiler angesprungen wurde. Der Hund verbiss sich in den Arm des Mannes und ließ nicht locker, bis ihn irgendjemand mit dem Schuss aus einer Schrotflinte niederstreckte.
Nyborgs Männer erreichten den Zaun, zerschnitten den Draht, und schlüpften ins Lager. Der Leutnant hockte am Rande des Sumpfes und schoss auf das stark befestigte Lagertor, wo zwei Militärpolizisten eine MG-Lafette ausrichteten. Unter dem Sperrfeuer zogen die beiden Männer die Köpfe ein. Als Nyborg sein Magazin leergeschossen hatte, donnerten die schweren Repetierer der Scharfschützen und verwandelten die Lafette in einen Haufen Schrott.
Johanna stemmte sich hoch. Sie erreichte den Lagerzaun kurz nach dem Leutnant.
»Fast geschafft«, sagte er zu ihr. »Wenn wir drüben sind, bleiben Sie in meiner Nähe. Suchen Sie sich Deckung.«
Sie stiegen durch den Zaun und krochen hinüber zu Nyborgs Männern, die sich auf dem Lagerhof hinter Panzersperren aus Beton verschanzt hatten. Überall rannten Gefangene umher, und einige von ihnen wurden getroffen, als Schützen der Wachmannschaften vom Dach der Lagerverwaltung in die Menge schossen.
Johanna kauerte neben Nyborg am Boden. Die Pistole in ihrer Hand zitterte. Ein blutjunger Unteroffizier kam herbeigespurtet, reichte dem Leutnant ein Nachtglas und meldete: »Der Lagerkommandeur ist mit zehn Mann beim Waffendepot in Stellung gegangen. Ein Uhr.«
Nyborg schaute durch das Glas. »Okay, der Funker soll es den Mörsern durchgeben. Und die sollen auch die Penner auf dem Dach eindecken.«
Der Unteroffizier bestätigte und rannte davon.
Nyborg packte Johanna am Arm. »Alles klar? Sie sehen übel aus.«
»Alles bestens«, erwiderte Johanna, und einen Moment lang glaubte sie, sich auf der Stelle übergeben zu müssen.
Der Leutnant lachte. »Ist nur der Stress.«
In diesem Augenblick ließen mehrere Detonationen die Erde beben.
Sundland lächelte und füllte drei Gläser mit schwedischem Wodka. »So viele Gefangene haben wir noch nie befreit. Die Aktion war ein großer Erfolg.«
Nyborg nickte. »Wir hatten ein paar Verluste, aber ich stimme Ihnen zu. Der Punkt ging an uns.«
»Was wird die Regierung jetzt tun?«, fragte Johanna.
Nyborg zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Man wird wahrscheinlich versuchen, unser Bataillon kaltzustellen.«
Sie stießen an und tranken.
»Ja, sicher«, sagte Sundland. »Aber dabei wird ihnen klarwerden, dass bereits das gesamte dritte Jägerregiment mit dem Feind kollaboriert.«
»Sie waren ziemlich fleißig, Klara.«
Sundland schob ein Päckchen Zigaretten über den Tisch, steckte sich selbst eine Look an und blies den Rauch unter die tiefhängende Deckenlampe. »War so alles nicht geplant«, sagte sie. »Wir dachten, wir hätten viel mehr Zeit. Der Strategiewechsel der Regierung zwingt den Widerstand zu dieser Reaktion.« Mit einem Blick zu Johanna fügte sie hinzu: »Und die Degeneration.«
»Wie geht es eigentlich Ihren Männern, Leutnant?«, fragte Johanna. »Wie kommen Sie damit klar?«
Nyborg rollte eine Zigarette zwischen den Fingern. »Wir sind alle ziemlich angeschlagen. Es geht das Gerücht, dass Dienstgrade vom Major aufwärts ein Mittel erhalten. Aber ehrlich gesagt, glaube ich es nicht.«
Sundland füllte ihre Gläser nach. »Was meinen Sie damit?«
»Ich denke, dass es kein Mittel gibt, Klara. Das Militär ist ebenso von der Degeneration betroffen, wie die Bevölkerung und der Widerstand. Und ich denke, das gilt auch für den Geheimdienst und sogar für die Regierung.«
»Nein«, sagte Sundland und schüttelte den Kopf. »Die haben es uns angehängt. Die haben uns mit der Degeneration infiziert.«
Nyborg steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen, und Johanna gab ihm Feuer. Sie schwiegen eine Weile.
»Oder es ist so etwas wie Karma«, sagte Johanna schließlich.
Nestor hielt einen Spielstein zwischen Mittelfinger und Zeigefinger. »Wie mit einer Pinzette, siehst du?«
Johanna nickte.
»So kannst du die Steine besser auf dem Brett platzieren«, sagte Nestor.
Sie hatten jetzt zwei Monate lang beinahe jeden Abend gespielt. Ziel dieses Trainings war es, die Grundlagen zu vermitteln, wie sich Nestor ausdrückte.
»Liest du noch in dem Buch über die Eröffnungstheorie?«
»Nein, das ist zwecklos.«
Nestor nickte. »Ich sagte dir ja bereits, dass du erst einmal begreifen musst, wie du eine Steingruppe sichern kannst. Die Verteidigung zu beherrschen, ist unverzichtbar.«
Johanna stützte das Kinn auf ihre Hände und schaute auf das Spielbrett. Die Gruppen schwarzer und weißer Steine dort erzählten eine Geschichte von Angriff und Gegenangriff, von Invasionen, Umgehungsattacken, Aufspaltungsmanövern. Je nachdem, wie man auf das Brett blickte, schien sich diese Geschichte zu wandeln. Eine Gruppe von schwarzen Steinen, die Johanna gerade noch für einen Angriffstrupp gehalten hatte, wirkte plötzlich isoliert und verloren, wenn man bedachte, welche Stärke von den weißen Positionen ringsumher ausstrahlte.
Nestor lachte. »Orientierung verloren?«
Johanna kaute auf ihrer Lippe. Es war zum Verrücktwerden. Das Spiel stellte sich als Übung in dauerhaftem Krisenmanagement heraus. Egal, wie man die eigenen Reihen verstärkte, stets brach der Gegner durch. Schloss Johanna die Ostseite ihrer Stellung, schob Nestor sich von Westen in ihr Gebiet. Sicherte sie den Westen ebenfalls, hörte sie nur: »Zu langsam. Du brauchst drei Züge, wo ich einen mache.«
Nachdem sie an diesem Abend die Partie beendet hatten, sagte Nestor: »Du siehst unzufrieden aus.«
Johanna zuckte die Schultern. »Es ist nur, weil ich das Gefühl habe, bei jeder Partie schlechter zu spielen. Ich kapiere immer weniger.«
Nestor nickte. »Das ist gut so.«
Johanna sah ihn an. »Ach, wirklich?«
»Dieses Gefühl der Verwirrung ist der Augenblick vor einer Erkenntnis.«
»Und dann werde ich das Spiel beherrschen.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Nestor und lachte wieder. »Du bewegst dich von Verwirrung zu Erkenntnis, und dann folgt wieder Verwirrung.«
»Na, das klingt ja großartig.«
»Mich interessiert etwas anderes, Johanna.«
»Hm?«
»Bemerkst du die Veränderungen hier oben«, Nestor tippte sich an die Stirn, «die das Spielen auslöst?«
Johanna schüttelte den Kopf. »Mein Leben ist ein Chaos. Also, alles wie immer.«
»Du darfst dich nicht damit begnügen, es als Chaos zu betrachten.«
»Sondern?«
»Suche nach den verborgenden Verbindungen, nach den Bedeutungen der Ereignisse in deinem Leben.«
»Keine Ahnung, was Sie damit meinen.«
Nestor lächelte. »Das kommt schon«, sagte er. »Bald.«
Von hier oben sah man die Stadt mit anderen Augen. Johanna betrachtete die im Dunst schimmernden Dächer der Häuser, die regennassen Straßen und Plätze. Solange sich jeder einzelne Mensch einredete, das Beste aus den Umständen zu machen, sein Leben so gut zu leben, wie es in diesen Zeiten eben ging, würde sich im Großen nicht viel ändern. Aber gab es das überhaupt? Gab es das Große, den Gesamtzusammenhang, oder war das nicht mehr als eine theoretische Betrachtungsweise, die verblasste, sobald man sie den realen Lebenserfahrungen des Einzelnen gegenüberstellte?
Johanna hörte Nyborgs Schritte im Gras. »Gute Idee«, sagte er. »Dieser Platz ist perfekt. Wir können die Funkstation hier aufbauen und erzielen eine Reichweite von mehr als fünfhundert Kilometern.«
»Mein Vater war hier oft mit mir wandern«, sagte Johanna.
»Sördal möchte, dass wir beide das zusammen koordinieren.«
»Den Aufbau der Funkstation?«
»Du klingst enttäuscht.«
Johanna scharrte mit dem Fuß in der Erde. »Kannst du deinen Kommandeur nicht bitten, uns einen anderen Auftrag zu geben? Ich würde gern eine dieser verfluchten Verhörzentralen in die Luft sprengen.«
Nyborg lächelte. »So läuft das nicht beim Militär. Befehl ist Befehl.«
»Hm.«
»Es geht nicht nur um die Funkstation. Eine Hütte hier oben in den Wäldern wäre auch ein guter Stützpunkt, eine Basis für die weiteren Aktionen.«
»Schon klar«, sagte Johanna.
»Wir werden in der Nähe der Hütte ein Waffenversteck einrichten. Das könnte einmal sehr nützlich werden.«
Sie standen noch eine Weile beisammen und beobachteten, wie sich die Konturen der Stadt in der Abenddämmerung auflösten.
Nestor kratzte sich am Kopf, als müsste er über die Frage nachdenken, aber Johanna war sich sicher, dass er nur nach den richtigen Worten suchte, um ihr klarzumachen, was für ihn auf der Hand lag.
»Ich sympathisiere mit den Ideen des Widerstands, aber das ist nicht mein Kampf«, sagte er schließlich.
Johanna schüttelte den Kopf. »Wie können Sie so etwas nur sagen? Sehen Sie nicht, was mit diesem Land passiert?«
Nestor schaute auf das Spielbrett. »Hinter dem Offensichtlichen gibt es stets das Verborgene, Johanna. Wenn du dich nach dem Offensichtlichen richtest und das Verborgene außer acht lässt, kommst du zu fragwürdigen Entscheidungen.«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie so denken. Ich habe oft an diesem Kampf gezweifelt, weil ich nicht mehr verstanden habe, wofür wir eigentlich unser Leben riskieren. Aber als mich dieser Typ verhört hat, wurde mir klar, dass wir gar nichts anderes tun können, weil die uns vernichten wollen, Nestor. Das ganze System ist ein einziger Vernichtungsapparat.«
Nestor platzierte einen Stein auf dem Brett. »Soweit zum Offensichtlichen.«
»Und was bitte soll daran falsch sein?«
Nestor schaute vom Brett auf, betrachtete Johanna einen Moment lang mit einem sonderbaren Blick, in dem eine ungeheure Intensität lag. Dann verschwand das Feuer aus seinen Augen.
»Ich habe nicht behauptet, dass das falsch ist. Aber es ist nur ein Teil des Ganzen. Und du musst lernen, das Ganze zu sehen.«
Anquist ächzte, als die Faust von Nyborg gegen sein Kinn krachte. Der Major taumelte ein paar Schritte zurück, spuckte Blut und ging auf die Knie.
»Dafür werden Sie hängen«, sagte er keuchend.
»Gut möglich«, erwiderte Nyborg. »Aber das werden Sie bestimmt nicht mehr erleben.«
Johanna trat aus der Ecke in das Licht der Glühbirne, die lange Schatten auf den Wänden der Waldhütte tanzen ließ.
»Erkennen Sie mich, Herr Major?«
Anquist hob den Kopf und betrachtete Johanna mit einem höhnischen Lächeln.
»Ich hätte Sie fertigmachen sollen.«
»Naja, das war wohl der Plan, oder?«
Anquist blinzelte.
»Erinnern Sie sich nicht? Sie haben mich nicht aus Güte verschont.«
Nyborg zog seine Waffe und zielte auf Anquists Kopf. »Wir haben keine Zeit für Plaudereien, Johanna. Sag ihm, was du zu sagen hast.«
Johanna öffnete den Mund, doch dann schwieg sie. Sie schaute Anquist in die Augen. Noch immer spielte ein blasierter Zug um die Lippen des Majors, aber sein Blick ging hin und her, wie der eines gehetzten Tiers.
»Können wir ihn gehen lassen?«, fragte Johanna, und sie schluckte, als sie begriff, was sie gesagt hatte.
Nyborg blickte zu ihr herüber. »Wie?«
»Ich finde ihn nutzlos. Soll er sich doch verpissen.«
»Drei Männer haben ihn zwei Wochen lang rund um die Uhr oberserviert, bis wir ihn schnappen konnten. Er ermittelt gegen unser Regiment, und er hätte dich beinahe ...«
»Das weiß ich alles.«
»Und du findest, wir sollen ihn gehen lassen?«
»Ja.«
»Tja, du weißt, wie mein Befehl lautet.«
»Wenn wir ihn gehen lassen, werden sich seine Vorgesetzten fragen, ob da was faul ist.«
»Das werden sich meine Vorgesetzten auch fragen, Johanna. Und wie willst du das Klara erklären?«
»Strategie.«
»Was?«
»Es ist eine strategische Entscheidung.«
Einen Moment lang herrschte Stille in der Hütte. Nur draußen vor der Tür waren Nyborgs Männer zu hören, die sich leise unterhielten.
»Tut mir leid, Johanna. Wenn du nicht dabei sein willst, dann geh.«
Johanna schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. Sie betrachtete das Gesicht des Majors, der jetzt wusste, dass ihm die Stunde geschlagen hatte. Er richtete einen trotzigen Blick auf den Leutnant, doch seine Todesverachtung war gespielt. In diesem Augenblick war er ein einfacher Mann, der Angst vor dem Sterben hatte und vor dem großen Nichts, das danach folgte.
Nyborg zielte mit seiner Waffe noch immer auf Anquists Kopf.
»Ein letztes Wort, Major?«
»Dafür werden Sie bezahlen, Nyborg.«
Als die Kugel Anquists Schädel durchschlug, hörte Johanna nicht das Krachen des Schusses. Sie sah, wie roter Nebel aufsprühte, sah, wie Fetzen der Gehirnmasse durch die Hütte geschleudert wurden und das Leben in Anquist Augen erlosch, noch ehe sein Körper zu Boden gesunken war.
Nachdem die Funkstation in Betrieb genommen war, schoben zwei oder drei Leute des Widerstands Wache und hielten die Geräte in Schuss. Außer der Funkanlage mussten ein Dieselaggregat und eine Druckpresse gewartet werden. Obwohl es Johanna überraschte, liebte sie es, auf der Station zu arbeiten. Sie dechiffrierte Funksprüche und vervielfältigte Flugblätter, und bald spürte sie, wie sich ihre Aufmerksamkeit und Konzentration allmählich verbesserten. Wenn sie auf Posten stand oder im Wald patrouillierte, kam sie endlich dazu, in Ruhe über sich und ihr Leben nachzudenken.
Als sie an diesem Herbstmorgen unter einer Fichte hockte und mit dem Fernglas zum gegenüberliegenden Bergkamm spähte, fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit frei und lebendig, eins mit sich selbst. Am Himmel zogen strahlend weiße Cumuluswolken träge dahin. Der Boden roch nach Moos und Pilzen. Eine friedliche Stille lag über dem Wald.
Seit einigen Tagen beschäftigte sie ein seltsames Graffiti, das vermutlich von Aktivisten des Widerstands in der Nähe des Speakeasys an eine Hauswand gesprüht worden war. Schau in den Spiegel!, lautete die Botschaft, und als Johanna sie zum ersten Mal gelesen hatte, verstand sie den Aufruf als eine Mahnung zur Selbstbesinnung. Sich selbst klar zu sehen, bedeutete das nicht auch, die eigene Verantwortung und Pflicht zu erkennen? Hieß das nicht, den Kampf aufzunehmen gegen diesen Vernichtungsapparat? Doch allmählich zweifelte Johanna an dieser Deutung. In den Spiegel zu schauen, das schien weniger eine Aufforderung zur Revolte zu sein, als vielmehr ein Hinweis, dass der blinde Fleck der Wahrnehmung bei der eigenen Person liegen könnte. Und wirklich: Machte sie sich etwas vor? War sie die Frau, für die sie sich hielt?
Das Motorengeräusch eines Geländewagens riss Johanna aus ihren Gedanken. Sie fuhr herum, und sah einen olivfarbenen Jeep mit MP-Zeichen, der querfeldein den Hang zum Gipfel hinaufjagte. Hinauf zur Station!
Johanna rannte los. Militärpolizei, dachte sie. Es war klar, dass sie die Station nicht rechtzeitig erreichen würde. Aber zum Waffenversteck würde sie es schaffen.
In ihrer Brust brannte es wie Feuer und Kiefernzweige peitschten ihr Gesicht, doch Johanna lief so schnell durch den Wald, dass sie bei der getarnten Grube ankam, noch bevor oben auf dem Gipfel die ersten Schüsse fielen. Sie öffnete die mit Blätterwerk bedeckte Klappe des Erdlochs, ergriff ein Sturmgewehr und ein geladenes Magazin. Ihr Blick fiel auf eine Kiste mit Splitterhandgranaten.
Als bei der Station Maschinenpistolen knatterten, war Johanna auf dem Weg. Schweiß biss in ihren Augen, die Schultern schmerzten und sie keuchte vor Anstrengung. Schon hörte sie die Stimmen der Soldaten. Nur noch ein paar Meter ...
Die beiden Militärpolizisten waren hinter ihrem Jeep in Deckung gegangen und schossen in Richtung der Station, wo ein Mann des Widerstands das Feuer erwiderte. Sie bemerkten Johanna nicht, die sich von der Seite genähert hatte.
Die Granate beschrieb einen flachen Bogen, prallte gegen den Kotflügel des Geländewagens und sprang zurück. Johanna sah, wie einer der Soldaten über seine Schulter blickte. Die Wucht der Detonation schleuderte den Jeep in die Luft und riss die beiden Männer in Stücke. Von der Station her wurden noch ein paar Schüsse abgegeben, dann trat Stille ein.
»Wir sind eben ein gutes Team«, sagte Nyborg, gab Johanna die Zigarette zurück und sprang aus dem Bett. Johanna rauchte und beobachtete, wie Nyborg sich ankleidete.
»Sagt das dein Kommandeur?«
Nyborg legte den Gürtel mit seinem Waffenholster an. »Sördal? Der hat andere Sachen im Kopf.«
»Was zum Beispiel?«
»Ich höre nur Gerüchte, aber es heißt, dass sich jetzt mehrere Divisionen dem Widerstand angeschlossen haben. Könnte sein, dass in den nächsten Tagen die Stadt eingenommen wird.«
»Von wem?«
»Von zwei oder drei Bataillonen unseres Regiments.«
»Dafür brauchtet ihr also die Informationen des Widerstands.« Johanna bemerkte, dass ihre Stimme plötzlich schrill klang.
»Informationen?«
»Über die Lage hier in der Stadt.«
»Hey, wir sind im selben Team«, sagte Nyborg und stützte die Hände in die Seite. »Unser Glück ist, dass es seit Jahren überall im Heer brodelt. Die Generäle der anderen Verbände halten sich zurück. Sonst hätten die uns im Handumdrehen plattgemacht.«
»Und wie geht es weiter?«
»Naja, die Armee ist zerstritten, aber Polizei und Geheimdienst sind immer noch regierungstreu, und daran wird sich so schnell nichts ändern. Es läuft wohl auf Kämpfe hinaus.«
»Hm«, machte Johanna und starrte aus dem Fenster in den schmutziggrauen Himmel des anbrechenden Tages. »Du meinst Krieg.«
Nyborg hielt inne. »Hey, Sördal hat mitgekriegt, wie du die Station gerettet hast. War schwer beeindruckt.«
Johanna nickte gedankenverloren.
»Klara hat dich auch gelobt.«
»Stimmt«, sagte Johanna.
Nyborg zog seine Waffe unter dem Kopfteil der Matratze hervor und schob sie in das Holster. »Was ist los mit dir?«
Johanna schüttelte den Kopf, öffnete den Mund, sagte dann aber nichts.
»Wenn es hier zum Kampf kommt, hole ich dich natürlich vorher raus.«
»Schon klar.«
»Ist es wegen der beiden Männer, die du getötet hast? So läuft das im Krieg leider.«
»Ja, aber ...«
»Das waren Soldaten. Keine Zivilisten.«
Johanna sah ihn an. »Und jetzt soll ich mich besser fühlen?«
Nyborg setzte sich zu ihr aufs Bett. In einer zärtlichen Geste hob er die Hand zu ihrem Gesicht, ließ den Arm dann aber sinken. »Ich weiß, das ist nicht einfach. Einen Menschen zu töten, ist schlimm. Auch, wenn es richtig ist.«
Johanna rollte sich zur anderen Seite aus dem Bett und stand auf. Sie lief nackt im Zimmer umher und rauchte.
»Der erste Mann, den ich getötet habe«, sagte Nyborg, »den werde ich wohl nie vergessen. Der war gerade mal achtzehn, eigentlich noch ein ...«
»Du verstehst gar nichts«, sagte Johanna. Sie drückte ihre Zigarette im Ascher aus, der auf dem Nachttisch stand. »Ich ... ich weiß nicht mehr ...«
»Du weißt nicht, was?«
»Ich ... hatte gedacht, es wäre alles klar. Wir sind auf der richtigen Seite und die ...«
»Na, wir sind doch auf der richtigen Seite. Hast du vergessen, wie das bei deinem Verhör ablief?«
»Und was haben wir dann mit Anquist gemacht?«
Nyborg hob die Schultern. »Was meinst du?«
Johanna starrte ihn an. Die Adern an ihrem Hals pochten.
»Sag mal, kriegst du jetzt ernsthaft moralische Bedenken? Du bist eine Widerstandskämpferin, vergiss das nicht.«
Johanna nickte. »Ja«, sagte sie. »Aber da stimmt irgendwas nicht.«
Nestor lächelte. Seine Lippen zitterten ein wenig.
»Habe ich wirklich gewonnen?« Johanna starrte auf das Brett.
»Du machst mich sehr stolz, Johanna.«
Johanna stieß einen Freudenschrei aus und sprang vom Stuhl. Nestor lachte und klatschte in die Hände.
»Sehr gut«, sagte er. »Wirklich, sehr gut.«
»Heißt das, wir reduzieren jetzt die Vorgabe? Versuchen wir es mit acht Steinen?«
Das Spiel besaß eine Regel, die es ermöglichte, verschieden starke Spieler mit ausgeglichenen Siegchancen gegeneinander antreten zu lassen. Diese sogenannte Vorgaberegel besagte, dass dem schwächeren Spieler zu Beginn der Partie Steine auf das Brett gelegt wurden, was einen erheblichen Vorteil darstellte. Johanna und Nestor hatten heute mit neun Vorgabesteinen gespielt.
»Du musst mich drei mal mit neun Steinen Vorgabe besiegen, dann reduzieren wir auf acht.«
»Okay, verstehe.« Johanna setzte sich wieder. Ihr Gesicht war gerötet, sie strahlte und zupfte an ihren Haaren.
»Ein gutes Gefühl, stimmt's? Du kriegst dich ja gar nicht wieder ein.«
Johanna lachte. »Phantastisch. Ein echter Orgasmus.«
»So, so.« Nestor lachte dröhnend. »Was für ein tolles Spiel habe ich dir da beigebracht.«
Als sie das Spielmaterial zusammenräumten, erzählte Johanna von den Gedanken, die sie sich über das Graffiti in der Nähe des Speakeasys gemacht hatte.
Nestor hörte schweigend zu. Schließlich sagte er: »Mag sein, da steckt noch mehr dahinter.«
»Wie meinen Sie das?«
Aber Nestor winkte ab, schüttelte den Kopf und sagte nur: »Spiegel sind merkwürdige Objekte.«
Nachdem Johanna das Speakeasy verlassen hatte, ging sie nicht direkt zum Safehouse, sondern machte einen Umweg, nur um das Graffiti noch einmal zu sehen. Als sie vor der Mauer stand, sah sie, dass jemand eine zweite Zeile hinzugefügt hatte: Schau hinter den Spiegel!
Einen Moment lang war da absolute Leere in Johannas Kopf. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper, und sie rannte los.
»Ich verstehe immer noch nicht, weshalb du mich hierher gebracht hast«, sagte Nestor und schaute hinunter auf die Stadt, die im fahlen Licht des Mondes wie ausgestorben dalag.
»Sie werden es gleich verstehen«, sagte Johanna. Sie wies mit der Hand auf den Horizont im Westen, wo sich ein Schatten über die Ebene ausbreitete. Nestors Blick folgte der Geste, und hinter den Brillengläsern wurden seine Augen schmal.
»Ich wollte Ihnen noch sagen, dass ich aus dem Widerstand aussteige.«
»Du steigst aus?«
»Ja. Ich ...«
Nestor nickte. »Schon gut.«
Irgendwo in der Tiefe des Himmels im Osten setzte ein Summen ein, das stärker und stärker wurde. Als unten in der Stadt die erste Sirene heulte, schwebten die Bomber bereits als Flecken tiefster Schwärze vor der Knochenscheibe des Mondes.
Johanna ergriff Nestors Hand. »Es tut mir sehr leid«, sagte sie, schloss die Augen, und mit geschlossenen Augen sah sie, wie im Westen die Mündungsfeuer schwerer Geschütze aufzuckten. Von Osten her schoben sich immer mehr Bomber aus der Finsternis heran, gegen das Donnern von Artillerie und Flak. Ein paar Sekunden lang lag ein Kreischen in der Luft. Dann brandete eine Flammenwoge gegen die Skyline und verschluckte die Stadt.