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Das Spiel der Meister

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08.07.2012
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Das Spiel der Meister

Johanna Hedlund schlug den Mantelkragen hoch und starrte in die Dunkelheit. Der Mann, der sich dort drüben im Schatten eines Hauseingangs verbarg, war nicht der erste Agent, den der Geheimdienst auf sie angesetzt hatte. Gerüchte behaupteten, dass der Dienst jetzt eine kompromisslose Politik der Beseitigung aller Personen verfolgte, die irgendwie zum Widerstand gehörten. Die Zeiten des Beobachtens und Auskundschaftens waren offenbar vorbei. Man begnügte sich nicht mehr damit, die Kuriere zu überwachen oder hier und dort eine einzelne Zelle hochzunehmen. Die Regierung hatte einen Vernichtungskurs eingeschlagen, und der Dienst tat alles, um diese Strategie ins Werk zu setzen.
Während Johanna weiter die Straße hinunter ging, umklammerte sie den Griff der Pistole in ihrer Manteltasche. Sie spürte das Pochen ihres Herzschlags in den Schläfen, und schluckte, denn es war, als schnürte ihr etwas die Kehle zusammen. Noch zehn Schritte, und der Agent würde aus dem finsteren Winkel treten, seine Waffe heben und ihrem Leben ein Ende setzen. Oder er schoss direkt aus seinem Versteck heraus. Das machte kaum einen Unterschied. Doch jetzt umzukehren hieß nur, diesem Kretin einen sauberen Genickschuss zu ermöglichen. Denn das würde er ohne Zweifel tun. Sie abknallen, wie man Hunderte von politischen Gefangenen in den Zuchthäusern und Lagern liquidierte. Von hinten, aus nächster Nähe, mit einer Kugel in den ersten Halswirbel. War es da nicht besser, dem Unvermeidlichen entgegenzutreten?
Vor dem Hauseingang blieb Johanna stehen. Obwohl sie den Agenten nicht sehen konnte, wusste sie, dass er dort lauerte. Wahrscheinlich richtete er in diesem Augenblick seine Automatik auf sie und genoss den Moment vor dem Schuss.
Johanna stand still da, und bestimmt hörte nur sie das Klicken, als sie den Sicherungshebel ihrer Pistole nach unten drückte. Doch anstatt die Waffe aus der Tasche zu ziehen, sagte sie mit belegter Stimme: »Komm raus. Ich will dein Gesicht sehen.«
Es vergingen ein paar Sekunden, in denen Johanna dachte, sie hätte sich getäuscht, glaubte, sie hätte sich das alles nur eingebildet, weil eben Angst und Paranoia seit einigen Jahren untrennbar zu ihrem Leben gehörten und man wegen der Krankheit, die alle nur die Degeneration nannten, kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Dann sah sie das Glänzen der Laufmündung, und kurz darauf hatte sich die ganze Waffe aus der Dunkelheit in das trübe Licht der Straßenlaterne geschoben.
Johanna schaute auf die Mündung. Von dem Mann, der sie töten würde, war nicht mehr zu sehen, als eine Hand in einem schwarzen Lederhandschuh.
»So wie wir dich gekriegt haben, werden wir euch alle kriegen«, sagte eine Stimme irgendwo hinter der Automatik. »Wir radieren euch aus, einen nach dem -«
Ein Knall peitschte durch die Straße und hallte von den Häuserwänden wider. Die Pistole des Agenten verschwand mit einem Ruck in der Finsternis. Auf der Straße hinter Johanna stieß jemand einen Pfiff aus, und es war, als hätte irgendetwas in ihr das Kommando übernommen, als sie sich umdrehte und losrannte.


»Sie gehen jetzt auf Frontalkurs«, sagte Klara Sundland. Ihre Fingerspitzen trommelten auf ein abgegriffenes Buch mit fleckigem Einband, das vor ihr auf dem Tisch lag. Johanna kannte Sundland von mehreren Treffen her, hatte sie jedoch niemals bei irgendeiner Aktion erlebt. Der Führungsstab achtete darauf, die wichtigen Leute im Hintergrund zu halten. Sundland gehörte zu den Offizieren des Widerstands, und die verheizte man nicht im alltäglichen Guerillakrieg. Trotzdem: Mit ihrer stahlgefassten Brille, dem streng zurückgekämmten Haar und der Pistole, die sie in einem Gürtelholster trug, gab sie die kampferprobte Partisanenbraut.
»Und was bedeutet das für uns?«, fragte Johanna.
Sundland schaute sie nachdenklich an. »Es bedeutet, dass uns die Zeit davonläuft«, sagte sie schließlich.
Johanna strich eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr und fragte sich, ob sie aufgeflogen waren. Dieser Agent hatte ihr hier in der Nähe des Treffpunktes aufgelauert. Das hieß, sie wussten von dem Meeting, oder nicht? Ihr Blick schweifte durch das Zimmer der kleinen konspirativen Wohnung. Der Mann, der ihr das Leben gerettet hatte, stand am Fenster und beobachtete die Straße. Sein blasses Gesicht wirkte wie eine Maske - leblos, kalt, verhärtet. Johanna kannte diesen Ausdruck verbissener Entschlossenheit, die Tag für Tag sinnloser erschien, weil inzwischen kaum noch jemand so richtig verstand, wofür sie alle eigentlich kämpften.
»Bitte, was?«
»Ich sagte, uns läuft die Zeit davon.«
»Hm«, gab Johanna zurück. Seitdem die Degeneration um sich griff, spielte es im Grunde keine Rolle mehr, ob man sich die Kugel eines Agenten fing oder in völliger Verblödung endete. Offenbar konnte nichts den Niedergang aufhalten. So oder so, sie waren Soldaten in einem aussichtslosen Krieg.
»Mach dir wegen des Agenten keine Gedanken, Johanna. Der Dienst hat seit ein paar Tagen überall in der Stadt Männer postiert. Sie schüchtern nachts alle Leute ein, die ihnen über den Weg laufen.«
»Er wusste, dass ich zum Widerstand gehöre.«
»Ach was. Der wollte bloß auf den Busch klopfen.« Sundland wies mit einer Bewegung des Kopfes zu dem Mann, der am Fenster Wache stand. »Gut, dass ich dir Gregor entgegengeschickt habe.«
»Ihr hättet mich warnen müssen.«
»Ich habe es selbst erst vor ein paar Stunden erfahren. Die Regierung führt einen grundlegenden Strategiewechsel durch. Das betrifft alle möglichen Bereiche. Beim Stab geht's gerade chaotisch zu.«
Johanna nickte, obwohl sie nicht begriff, wovon Sundland redete. Der Führungsstab war für die einfachen Kämpfer eher ein Mythos als ein reguläres Kommando. Kaum jemand hatte eine Vorstellung davon, wie der Stab arbeitete oder auf welchem Wege seine Entscheidungen zustande kamen.
»Wie geht es deinem sexy Regierungsfreund, Johanna?«
»Hm?«
»Dir ist doch klar, dass wir diese Beziehung nur dulden, solange sich Adrian für uns als nützlich erweist?«
»Keine Ahnung.«
»Was soll das heißen?«
Johanna hob das Kinn und sah Sundland mit einem harten Blick ins Gesicht.
»Ich weiß nicht, was er macht. Er meldet sich nicht.«
»Hat er eine andere?«
Johanna zuckte die Schultern.
»Sehr bedauerlich«, sagte Sundland.
Die Dielen unter Gregors Füßen knarrten, als seine Hand zur Hüfte ging. Er starrte mit schmalen Augen auf irgendeinen Punkt draußen in der Dunkelheit.
»Wir haben einen Auftrag für dich, Johanna.« Sundland betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Einen wichtigen Auftrag.«
Von unten her war ein Wagen zu hören, der langsam am Haus vorbei fuhr, und Johanna bemerkte, wie alle im Raum den Atem anhielten. Sie warteten einen Moment lang schweigend. Schließlich war es wieder still auf der Straße.
»Es geht um die Degeneration«, fuhr Sundland fort. Sie setzte ihre Brille ab und rieb sich die Stirn. »Mittlerweile ist beinahe der gesamte Widerstand davon betroffen. Wir wissen immer noch nicht, wie sie die Bevölkerung damit infizieren oder wie sie sich selbst davor schützen. Aber wenn es so weitergeht, wird der Widerstand in zwei Jahren nur noch ein Haufen stammelnder Idioten sein.«
Johanna nickte. Sie kannte die Symptome nur zu gut. Vergesslichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Verwirrungszustände, Angst. Es war, als führte man Krieg gegen den Verfall des eigenen Verstandes. Inzwischen nutzten sie alle Listen und Merkzettel, um ihr Leben zu organisieren, doch weil sich das bei Kommandoeinsätzen von selbst verbot, endeten Gefangenenrettungen oder Sabotageaktionen nicht selten in einem Fiasko. Die Kämpfer versäumten, ihre Waffen durchzuladen, Zünder auf die richtige Zeit einzustellen oder handelten einfach zu langsam. Mit dieser Truppe ging es abwärts, das war klar.
»Es gibt ein Mittel gegen die Degeneration«, sagte Sundland, setzte ihre Brille wieder auf und betrachtete Johanna, während ein feines Lächeln ihre Lippen umspielte.
Johanna nickte, doch dann hielt sie inne und sagte: »Was?«
»Ja, es klingt verrückt, aber wir haben Leute, Spezialisten, die eine Menge davon verstehen. Und die meinen, dass es ein Mittel gibt.«
Johanna wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Es klang tatsächlich zu phantastisch.
»Die Sache hat nur einen Haken«, sagte Sundland. »Bei dem Mittel handelt es sich nicht um Medizin, die man einfach schlucken oder spritzen könnte.«
»Sondern?«
»Es ist eine Art Training. Ein Brettspiel, um genau zu sein.«
»Ein Spiel«, sagte Johanna.
Sundland hob die Hände. »Ich weiß, wie sich das anhört.«
»Für so einen Schwachsinn habe ich keine Zeit, Klara.«
»Setz dich hin und hör zu.«
Sundland holte ein Päckchen Look aus ihrer Jacke und schob es über den Tisch. »Bedien dich.«
Johanna nahm sich eine Zigarette. Ein Feuerzeug segelte durch die Luft, und Johanna fing es.
»Gute Reflexe«, bemerkte Sundland. Sie schien einen Augenblick lang den Faden verloren zu haben, blinzelte und sagte dann: »Es soll das komplexeste Spiel der Welt sein. Sehr alt, sehr vielschichtig, überaus schwierig, wenn man es meistern will.«
Johanna rauchte und genoss die Wirkung des Nikotins.
»Offenbar werden beim Spielen Neuronen aktiviert, die in der Lage sind, die Degeneration zu hemmen.«
Johanna zuckte mit den Schultern und sah Sundland an.
»Leider weiß kaum jemand, wie man es spielt. Die Regierung hat alle bekannten Meister des Spiels inhaftieren lassen, und es gibt so gut wie keine Bücher oder Dokumentationen darüber.«
Sundland erhob sich, machte ein paar Schritte durch den Raum und nestelte an ihrer Brille. Johanna schnippte die Asche von ihrer Zigarette.
»Es gibt da allerdings einen Meister, den sie nicht erwischt haben, und dieser Mann lebt in unserer Stadt. Das ist unsere Chance.«
»Okay«, sagte Johanna. »Mal ganz davon abgesehen, dass ich die Geschichte für Blödsinn halte, bin ich bestimmt nicht die Richtige für diesen ... Auftrag. Soll ich das Spiel bei diesem Meister lernen? Ja? Ist das etwa der Plan? Da kann ich nur lachen, Klara.«
»Wieso?«
»Wieso? Weil ich sicher nicht zu den klügsten Köpfen im Widerstand gehöre.«
»Aber zu den hübschesten.«
»Hm?«
Sundland trat wieder an den Tisch.
»Wir haben bereits drei Leute auf den Mann angesetzt, um ihn zu bewegen, uns das Spiel zu lehren. Aber der alte Sack weigert sich.«
Johanna betrachtete die Rauchschwaden, die vor ihr zur Zimmerdecke stiegen.
»Der Mann ist nicht einzuschüchtern und nicht zu bestechen. Er behauptet, das Spiel nicht zu kennen. Aber ich bin mir sicher, bei einer hinreißenden Blondine im zarten Alter von ... wie alt bist du eigentlich?«
»Zweiundzwanzig.«
»Ja, für so eine reizende junge Dame macht er sicher eine Ausnahme.«
Ein paar Augenblicke lang war es so still im Raum, dass man von der Küche her das Ticken der Wanduhr hören konnte.
»Okay«, sagte Johanna schließlich. »Wenn das mein Beitrag sein soll, dann bitte.«
»Gregor wird dich morgen zu dem Mann führen. Der Alte heißt Kjell Nestor und zecht gern in einem Speakeasy, das uns gehört. Verwickle ihn in ein Gespräch. Bring ihn dazu, dich zu unterrichten.«
»Und wie soll ich das tun?«
»Zeig ihm deine Titten«, erwiderte Sundland. »Und spiel ihm die Eingeweihte vor.« Sie klopfte auf das Buch, das auf dem Tisch lag und schob es zu Johanna herüber. »Das ist ein seltenes Exemplar. Ein Lehrbuch über die Eröffnungstheorie des Spiels.«
Johanna klappte das Buch auf und blätterte ein wenig darin herum.
»Aber am wichtigsten ist, dass du ihm deine Titten zeigst.«


Das Leben, in dem Johanna mehr als zwei Kleider im Schrank hängen hatte, war lange vorbei. An diesem Abend fiel es ihr deshalb nicht schwer, eine Auswahl zu treffen, die zur bevorstehenden Mission passte - ein nachtblaues Kleid, so enggeschnitten, dass sie nicht wusste, wie sie darunter eine Waffe verstecken sollte.
Gleich nachdem sie das Speakeasy betreten hatten, schaute sich Gregor um und wies dann mit einer Kinnbewegung auf einen älteren Mann mit Brille, der etwas abseits an einem Tisch saß und ein Whiskyglas in der Hand hielt. Während sich Gregor unter die Gäste mischte, öffnete Johanna ihren Mantel, trat an den Tresen und orderte einen Black Russian.
Im Laufe der folgenden Stunde verbrachte sie eine Ewigkeit mit dem Versuch, einen zufällig wirkenden Blickkontakt zu Nestor herzustellen, aber der Mann schien vollauf damit beschäftigt, über seinem Drink zu meditieren. Scheiß drauf, sagte sie schließlich zu sich selbst, ergriff ihr Glas und trat an seinen Tisch.
»Leisten Sie mir etwas Gesellschaft?«
Nestor hob den Blick. Er betrachtete sie einen Moment lang ohne jede Regung.
»Sie sehen nicht aus, wie eine Professionelle.«
»Das nehme ich mal als ein Ja«, erwiderte Johanna und setzte sich zu ihm. Während sie irgendwas über die Zeiten plapperte, in denen man sich abends legal einen Drink genehmigen konnte, forschte sie in dem Gesicht des Mannes nach einem Anhaltspunkt, einem Hinweis dafür, wie sie vorgehen sollte.
Nestor hörte ihr eine Weile schweigend zu und sagte dann: »Was wollen Sie von mir?«
»Okay, ich will offen zu Ihnen sein«, sagte Johanna. »Eine Freundin hat mir von Ihnen erzählt. Sie sagte, wenn ich ernsthaft lernen möchte, dann sind Sie der beste Lehrer, den man kriegen kann.«
»Was lernen?«
»Das Spiel der Tauben und Raben«, erwiderte sie. Ohne es zu beabsichtigen, hatte sie die Stimme gesenkt.
Nestor lehnte sich zurück und schwieg. Johanna versuchte in den Augen hinter diesen dicken Brillengläsern zu lesen, was er von ihrer Bitte hielt, aber da war nichts als Leere, aus der heraus sie betrachtet, ja gemustert wurde. Dem Anschein nach hatte der Mann seine besten Jahre hinter sich, aber ob er auf die Sechzig oder gar auf die Siebzig zuging, ließ sich unmöglich mit Bestimmtheit sagen. Trotz der Strenge, die in Nestors Zügen lag, gab es da etwas, das diesem Eindruck von Härte und Unnahbarkeit zu widersprechen schien; eine kaum wahrnehmbare Bewegung seiner Mundwinkel vielleicht, so als könnte er jeden Moment in dröhnendes Gelächter ausbrechen. Und plötzlich wünschte Johanna, ohne dafür den Grund zu wissen, das Lachen dieses Mannes zu hören.
»Ist es möglich, dass sich Ihre Freundin für den Widerstand engagiert?«
Johanna hatte schon den Mund geöffnet, aber Nestor hob die Hand. »Nein, bitte tischen Sie mir keine weiteren Lügen auf.«
Er nahm einen Schluck von seinem Whisky.
»Ich nehme an, Sie wissen, dass das Spiel seit Jahren verboten ist.«
Johanna nickte.
»Und Sie wissen auch, dass man Spieler verfolgt und ins Gefängnis wirft?«
»Das weiß ich.«
»Und trotzdem wollen Sie es lernen.«
»Stimmt.«
Nestor leerte sein Glas und setzte es behutsam wieder ab.
»Und wie hatten Sie sich die Bezahlung meines Unterrichts vorgestellt?«
Johanna sah ihm in die Augen und sagte ohne zu zögern: »Was immer Sie dafür verlangen.«
Nestor lächelte. Er schüttelte den Kopf, erhob sich und nahm seine Jacke von der Stuhllehne.
Den Blick auf seine Schuhspitzen gerichtet, sagte er: »Sprechen Sie mich nie wieder an.« Dann nickte er dem Mann hinter dem Tresen zu und verließ das Speakeasy.


Johanna schreckte um sechs Uhr in ihrem Bett hoch, als aus der Kommunikationseinheit der alltägliche Morgengruß ertönte - ein Fanfarenstoß, dem eine motivierende Kurzansprache folgte.
In ihren Schläfen dröhnten Hammerschläge. Sie schleppte sich unter die Dusche und hörte einige Minuten lang den Anklageverlesungen des Tages zu. Mehr als zwanzig Gefangene erwarteten ihre Urteile. Um sechs Uhr dreißig endete die Morgensendung. Selbstverständlich konnte man die Kommunikationseinheit sabotieren, doch das rief nur den Sicherheitsdienst auf den Plan. Die Strategen des Widerstands behaupteten, dass es lediglich eine Frage der Zeit sei, bis man die Kommunikationseinheiten mit umfassender Audio- und Videoüberwachung ausstatten würde.
Johanna saß am Küchentisch und hielt ihre Kaffeetasse in der Hand, als die Wohnungstür mit einem Krachen aufsprang und eine Einheit der Staatspolizei hereinstürmte. Der erste Knüppelhieb traf sie über der linken Augenbraue, ein zweiter Schlag trieb ihr die Luft aus den Lungen. Johanna rutschte vom Stuhl und lag eine Zeitlang keuchend am Boden. Die Männer des Sturmkommandos sicherten die Wohnung und fesselten Johannas Hände mit einem Kabelbinder. Jemand zog ihr eine Kapuze über den Kopf, und dann wurde sie hochgerissen und fortgeschleift.
Während sie auf dem Boden des Einsatztransporters lag, der sie vermutlich zu einem der vielen Verhörzentren bringen würde, dachte Johanna voller Schrecken an die Methoden, die von Staatspolizei und Geheimdienst bei den berüchtigten Gefangenenbefragungen eingesetzt wurden. Nach einer endlosen Fahrt zog ihr jemand die Kapuze vom Kopf. Der Transporter bremste so scharf, dass Johanna mit der Stirn gegen eine Sitzbank des Einsatzwagens schlug. Sie hörte ein raues Lachen und dann kippte sie rückwärts in die Dunkelheit.


»Wissen Sie, weshalb Sie hier sind, Frau Hedlund?«
Johanna brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass die eigenartig geformte Landschaft, auf die sie aus einem sonderbaren Winkel hinabzuschauen schien, ihr eigener, unbekleideter Körper war. Offenbar saß sie auf einem Stuhl, die Arme hinter dem Rücken gefesselt.
»Heben Sie den Kopf und sehen Sie mich an.«
Ja, genau. So war es. Sie saß auf einem Stuhl und schaute an sich selbst hinab, schaute auf ihre Brüste, ihren Bauch und ihren Unterleib.
»Sehen Sie mich an, sagte ich.«
Demzufolge waren das dort ihre Schenkel und ihre Kniegelenke.
Der Verhöroffizier schlug mit der Hand auf den Tisch, und Johanna riss den Kopf hoch.
»Vielen Dank«, sagte der Offizier. »Ich fragte Sie soeben, ob Sie wissen, weshalb Sie hier sind.«
Johanna starrte ihn mit halbgeöffnetem Mund an. Der Mann hinter dem Tisch trug die schwarze Uniform des Reichsheeres und einen Wolfskopf auf dem Kragenspiegel.
»Nein? Dann werde ich Ihnen gern auf die Sprünge helfen.« Er erhob sich. »Doch zunächst möchte ich mich vorstellen, damit Sie verstehen, in welcher Lage Sie sich befinden.«
Er lief im Raum auf und ab, einer etwa zehn Quadratmeter großen fensterlosen Zelle. Ihr einziges Mobiliar bestand aus einem Tisch und zwei Stühlen. Die weißgekalkten Wände reflektierten das grelle Licht der Deckenleuchte. Der Boden war mit grauen und dunkelblauen Fliesen ausgelegt, die man in einem quadratischen Mosaik um ein schmutzig vergrindetes Abflussloch in der Mitte der Zelle angeordnet hatte.
»Ich bin Major Anquist. Ich ermittle in einem schweren Fall von Meuterei und Aufruhr in einem Bataillon des dritten Jägerregiments. Wie Sie sich bestimmt denken können, nimmt das Militär jede Form von Insubordination sehr ernst.«
Johanna versuchte, sich aufzurichten. In ihrem rechten Schultergelenk knackte es, und erst jetzt bemerkte sie, dass sich ihre Hände kalt und taub anfühlten.
»Wollen Sie, dass ich Ihnen die Fessel abnehme?«
Johanna nickte.
Anquist trat hinter sie, und sie spürte seinen Blick auf ihrem Körper.
»Solange ich der Überzeugung bin, dass Sie vollständig kooperieren, Frau Hedlund, gibt es keinen Anlass zur Sorge.«
Johanna zuckte zusammen, als Anquist seine Hände auf ihre Schultern legte.
»Sehen Sie, ich habe volle Freigabe für jede Art von Verhörtechnik, die notwendig ist, um meine Ermittlungen voranzutreiben.«
Die Hände des Majors glitten ein Stück an Johannas Armen hinab.
»Können Sie sich vorstellen, weshalb Sie zu dieser Vernehmung einbestellt wurden?«
»Einbestellt?«, wiederholte Johanna mit trockenem Mund. »Verschleppt wurde ich, in meiner Wohnung überfallen und verschleppt.«
Anquist zog scharf die Luft ein, trat zur Seite und umrundete den Tisch. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und betrachtete sie eine Weile mit zusammengepressten Lippen und einem Blick, der sich in ihre Stirn zu bohren schien.
Er wies mit der Hand auf die Zellentür. »Wenn ich jetzt da raus gehe und dem Gefreiten, der vor der Tür Wache steht, sage, dass er sich eine Stunde lang mit Ihnen befassen soll, was glauben Sie, wird dann geschehen?«
Johanna blies eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und obwohl ihre Lippen ein wenig zitterten, schaute sie Anquist kalt in die Augen und sagte: »Er wird mich vergewaltigen.«
»Falsch«, erwiderte Anquist leise, und ein dünnes Lächeln erschien auf seinem blassen Gesicht. »Er wird Sie verprügeln, wird Ihnen die Scheiße aus dem Leib prügeln, bis Sie nicht mehr wissen, wie Ihr Name lautet. Und dann wird er Sie vergewaltigen. Und dann verprügelt er Sie wieder.«
Anquist legte die Fingerspitzen aneinander.
»Was halten Sie davon, Frau Hedlund?«
Johanna ignorierte, dass ihr Herz schmerzhaft bis in den Hals pochte und hob das Kinn.
»Dann wär's wohl vorbei mit dem Verhör«, sagte sie und beobachtete, wie Anquists Nasenflügel bebten.
»Gefreiter Frese«, brüllte der Major. »Reinkommen!«
Die Zellentür wurde aufgerissen und ein Soldat in der Uniform der Militärpolizei trat in den Raum. Der Mann hatte etwas von einer Bulldogge. Johanna kam nicht dazu, ihn genauer zu betrachten. Auf einen Nicken von Anquist hin machte Frese einen Schritt auf sie zu, wobei er sein ganzes Gewicht in die Bewegung legte, und schmetterte seine Faust in ihr Gesicht. Die Wucht des Schlages schleuderte Johanna zu Boden.
»Danke, Frese. Stellen Sie den Stuhl wieder auf und dann Wegtreten.«
Während Johanna beobachtete, wie sich das Blut, das ihr aus Mund und Nase geschossen war, in einer Lache sammelte und schließlich träge in Richtung der Zellenmitte floss, redete Anquist auf sie ein und erging sich in Erläuterungen, von denen nur ein Bruchteil in ihr Bewusstsein drang. Einen Moment lang sah sie sich selbst so, wie sie hier nackt vor diesem Sadisten am Boden lag, die Hände auf den Rücken gebunden und mit blutendem Gesicht. Und ihr wurde übel, so ekelte sie der Gedanke, diesem Mann ausgeliefert zu sein.
»Geben Sie uns Klara Sundland, dann kommen wir ins Geschäft«, sagte Anquist. »Wir wissen, dass sie eine entscheidende Rolle bei dieser Meuterei spielt. Wir wissen, dass sie den Kontakt zwischen dem Bataillonskommandeur und dem Widerstand hergestellt hat.«
»Kenne ... ich nicht«, sagte Johanna mühevoll und würgte.
»Wie bitte? Was sagten Sie? Sprechen Sie gefälligst lauter.«
»Ich kenne niemanden ... der so heißt.«
»Sie kennen Klara Sundland nicht?«
»Nein.«
Anquist sprang von seinem Stuhl und stürzte sich auf Johanna. Er packte sie an der Kehle und presste sie auf den Zellenboden, bis sie röchelte. Johanna spürte, wie sich das Blut in ihrem Gesicht staute und wie ihr Brustkorb in Krämpfen zuckte.
»Ich habe keine Zeit für diese Spiele«, stieß Anquist zwischen den Zähnen hervor. »Und das, meine Liebe, ist schlecht für Sie.«
Er ließ von ihr ab, und Johanna drehte sich hustend auf die Seite. Sie erbrach ein wenig Schaum und dunkle Flüssigkeit, und dann spuckte sie Blut.
»Aufstehen.«
Betäubt vom Schlag des Soldaten, versuchte Johanna, sich zu orientieren. Nichts in dieser Zelle stimmte. Die Decke des Raumes hing schräg, und dort, wo der Tisch und die Stühle stehen sollten, befand sich die Tür.
»Hoch, habe ich gesagt.«
Johanna zog die Knie an und versuchte, ihren Oberkörper aufzurichten.
»Los, machen Sie schon. Weiter, weiter.«
Noch immer sickerte Blut aus ihrem Mund, und hinter den Augen pulsierte ein Schmerz, der sie beinahe zurücksinken ließ, doch schließlich kam sie auf die Füße, und eine Minute später stand sie schwankend und mit zitternden Knien vor Anquist.
»Na also«, sagte der Major. »Jetzt drehen Sie sich zur Wand. Beine spreizen und vorbeugen.« Seine Stimme war rau vor Erregung und Zorn.
»Füße auseinander und weiter vorbeugen.«
»Kann nicht«, sagte Johanna, erschrocken vom Klang ihrer Stimme. Sie zerrte an ihrer Fessel. »Sonst kippe ich um.«
Anquist packte sie an den Haaren und stieß sie mit dem Kopf gegen die Wand.
»Zu blöd, sich gegen eine Wand zu stützen, wie? So. Füße noch weiter auseinander.«
Johanna spürte, wie ihre Füße auf den blutverschmierten Bodenfliesen rutschten.
»Ich gebe Ihnen jetzt die letzte Chance zu kooperieren, Frau Hedlund«, sagte der Major und ging zur Zellentür.
Johanna drehte den Kopf zur Seite, und aus den Augenwinkeln sah sie, wie Anquist die Tür öffnete.
»Frese, holen Sie aus dem Wachbüro einen kurzen Gummischlagstock. Beeilung.«
Johanna fühlte, wie sich ihr Bauch verkrampfte. Sie presste die Kiefer zusammen.
Anquist kehrte zu ihr zurück. »Sagen Sie mir, wo sich Klara Sundland aufhält.«
»Kenne die Frau nicht«, stieß Johanna hervor und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken.
Mit einem Poltern trat Frese in die Zelle. In der Hand hielt er einen Schlagstock von etwa einem halben Meter Länge.
»Kommen Sie her, Gefreiter. Geben Sie mir den Knüppel.«
Johannas Schenkel zitterten, als Frese zu ihnen herangestampft kam.
»Letzte Chance«, sagte Anquist.
»Bitte nicht.« Johanna schmeckte das Salz ihrer Tränen und das Blut, das an ihrer Wange herablief.
»Frese, halten Sie sie fest.«
Johanna unterdrückte einen Würgereiz und schloss die Augen.
In diesem Moment wurden draußen auf dem Gang Befehle gebrüllt. Johanna hörte das Knallen genagelter Stiefel, und dann riss jemand die Zellentür weit auf.
»Was zur Hölle«, fluchte Anquist und fuhr herum.
»Gehen Sie sofort weg von ihr«, sagte eine Stimme, die Johanna kannte.


Als Johanna am nächsten Abend zu Nestor an den Tisch trat, trug sie nicht ihr nachtblaues, enggeschnittenes Kleid, sondern Jeans und einen groben Pullover.
»Zeigen Sie mir, wie man das Spiel spielt«, sagte sie.
Nestor betrachtete sie eine Weile, dann sagte er: »Setzen Sie sich.«
Johanna stützte sich auf die Tischplatte und nahm neben ihm Platz.
Eine Weile schwiegen sie. Im Speakeasy herrschte an diesem Abend kaum Betrieb. Zwei Gäste unterhielten sich leise am Tresen, und nur drei oder vier Tische waren besetzt.
»Einen kleinen Unfall gehabt?« Nestor nahm einen Schluck von seinem Whisky.
»So was in der Art.«
»Sie sollten vorsichtiger sein.«
»Tja, dafür fehlt uns leider die Zeit.« Johanna steckte sich eine Look an und betrachtete ihre zitternden Finger.
»Ach ja?«
»Wenn Sie uns nicht helfen, wird der Widerstand bald nur noch aus Zombies bestehen.«
»Und Sie wollen das verhindern, ja?«
»Genau.«
Nestor nickte und und rückte seine Brille zurecht. Dann fragte er: »Woher wollen Sie wissen, dass das nicht ohnehin passiert?«
»Keine Ahnung, ich muss es einfach versuchen.«
»Ich denke, Sie haben nicht die geringste Vorstellung davon, was es bedeutet, das Spiel zu spielen.«
»Da haben Sie sicher recht.«
»Also gut«, sagte Nestor. »Wie heißen Sie?«
»Nennen Sie mich Johanna.«



»Das war verdammt knapp.« Sundland ging im Raum auf und ab. Sie hielt eine glimmende Zigarette zwischen den Fingern.
»Knapper geht's nicht«, sagte Johanna. »Wäre Adrian da nicht aufgetaucht ...«
Gregor drehte sich von seinem Fensterposten zu Johanna um und nickte ihr zu.
»Schon gut. Behalt die Straße im Auge«, sagte Sundland. Sie wandte sich wieder an Johanna: »Zumindest weißt du jetzt, dass er zu dir steht.«
»Vergiss es. Er hat mir klar gemacht, dass er mich nicht noch mal aus der Scheiße holen wird.«
»Diese Kanaille.«
»Überhaupt nicht, Klara.« Johanna stützte den Kopf in ihre Hände und sagte: »Er hat bei der Aktion sein Leben für mich riskiert. Der Job im Ministerium macht ihn nicht unangreifbar.«
Sundland trat an den Tisch und drückte ihre zur Hälfte heruntergebrachte Zigarette im Ascher aus.
»Du musst jetzt auf jeden Fall untertauchen. Gregor bringt dich gleich im Anschluss in ein Safehouse.«
»Und Nestor?«
»Ich habe das geregelt. Ihr könnt das Hinterzimmer im Speakeasy nutzen. Pass auf, dass du auf dem Weg dorthin keinem Agenten in die Arme läufst.«
»Okay. Und noch etwas.«
»Ja?«
»Ich will bei der Sache mit dem Jägerbataillon dabei sein.«
Sundland setzte sich Johanna gegenüber und betrachtete sie mit leicht gehobenen Augenbrauen.
»Ich bin nicht sicher, ob du schon so weit bist«, sagte sie dann. »Das Projekt ist heikel.«
Johanna nickte. »Darauf wette ich. Aber denke daran, was ich für dich getan habe.«
»Du meinst, ich schulde dir was?«
»Und ob, Klara.«
»Also gut.« Sundland rieb sich die Schläfen. »Ach ja. Was ist mit deiner Waffe und dem Buch? Ich nehme an, sie haben deine Wohnung gründlich auseinandergenommen.«
»War beides sicher im Keller versteckt«, erwiderte Johanna.
»Kluges Mädchen.«


Ein Spielbrett aus Eibenholz, auf dem ein Gitternetz mit jeweils neunzehn Linien horizontal und vertikal aufgetragen war und zwei Kirschholzdosen, in denen sich weiße und schwarze, linsenförmige Spielsteine befanden – Johanna konnte nicht glauben, dass dies die Utensilien waren, von denen der Kampf gegen die Degeneration abhängen sollte.
»Wenn du beginnst, das Spiel zu spielen«, sagte Nestor, »wird sich dein Leben grundlegend ändern.«
»Ich verstehe«, erwiderte Johanna. »Fangen wir an.«
»Es ist das Spiel der Spiele, das Spiel der Meister, denn in ihm offenbaren sich alle Dinge dieser Welt.«
Nestor entnahm den Dosen ein paar schwarze und weiße Steine und legte sie auf das Brett. »Das sind die Raben und die Tauben«, sagte er. »Sie symbolisieren Schatten und Licht. Diese Kräfte befinden sich in ständigem Konflikt, in ständigem Kampf.«
»Okay«, sagte Johanna. »Aber was ist das Ziel des Spiels? Worum geht es?«
»So wie sich Licht und Schatten die Welt teilen«, sagte Nestor, »so verteilen sich die Tauben und die Raben auf dem Spielbrett. Sie ringen um jeden freien Fleck, versuchen, sich gegenseitig zu verdrängen. Am Ende einer Partie wird ausgezählt, welcher Spieler das Brett beherrscht. Es ist also ein Spiel um Gebiet.«
»Gebiet?«
Nestor nickte. »Ja, es geht darum, möglichst viele Punkte auf dem Brett zu beherrschen. Bedenke aber, dass beide Spieler abwechselnd setzen.«
»Und das heißt?«
»Du kannst deinen Gegner nicht ignorieren und so tun, als ob dir das ganze Brett gehören würde. Bist du zu gierig, hältst du am Ende nichts in den Händen.«
Er schob alle Steine vom Spielbrett und sagte: »Du nimmst Schwarz und beginnst.«
Nachdem sie ein paar Züge gespielt hatten, sagte Johanna: »Gut. Aber was hindert mich daran, meine Steine in das Gebiet des Gegners zu setzen?«
Nestor lächelte. »Du stellst die richtigen Fragen.«
Johanna erfuhr, dass Gruppen von Steinen im Verlauf einer Partie nur überleben konnten, wenn es ihnen gelang, spezielle Formationen zu entwickeln. Gelang dies nicht, konnte der Gegner die Steine fangen und für sich selbst als Punkte beanspruchen. Das machte das Ganze schlagartig kompliziert, denn Johanna war einfach nicht in der Lage, in all dem Wirrwarr der Formen die Strukturen zu erkennen, die die Kräfteverhältnisse zwischen den Tauben und den Raben bestimmten.
Nach drei Stunden und hunderten von Spielzügen, lehnte sie sich erschöpft zurück und sagte: »Das reicht fürs Erste.«


Von der Mannschaft des Bunkers war selbst mit dem Nachtsichtgerät nichts zu erkennen, doch Johanna wusste, dass hinter den Schießscharten zwei Maschinengewehre darauf warteten, jeden zu zerfetzen, der sich dem Lager vom Waldrand her näherte. Unter einer hauchdünnen Mondsichel lag die Feuchtwiese da wie ein sumpfiger Todesstreifen, und die Vorstellung, sich im Kugelhagel durch den binsenbewachsenen Brühl zu schlagen, presste Johanna die Kehle zusammen.
»Letzte Gelegenheit«, sagte Leutnant Nyborg und deutete auf die Uhr an seinem Handgelenk.
Johanna schüttelte den Kopf. »Das sind unsere Leute da drinnen. Ich gehe mit.«
Nyborg nickte. Ein Lächeln glitt über das mit Tarnfarben bemalte Gesicht.
»Hoffentlich haben sie unsere Nachricht bekommen.«
»Keine Sorge, Leutnant.«
Einige Meter entfernt machten sich zwei Männer für das Abfeuern einer Panzerbüchse bereit. Der Richtschütze setzte den Werfer auf seine Schulter. Er visierte die Bunkerstellung an, deren knochenbleiche Kuppel über dem Todesstreifen wachte. Ein Fuchsschrei gellte durch die Nacht, und Johanna erschauerte. Sie beobachtete, wie der Ladeschütze das Raketengeschoss bis zum Gefechtskopf einführte, den Sicherungsstift zog und seinem Partner auf den Helm klopfte.
»Achtung«, sagte Nyborg. Im gleichen Moment zischte die Rakete über den Brühl. Krachend platzte der Bunker auseinander, und brennende Trümmerteile flogen durch die Luft. Die Männer des Angriffsteams sprangen auf. Im Flammenschein rannten sie los. Hundegebell setzte ein, auf den Wachtürmen gingen Flutlichtstrahler an, und das Stottern von Maschinenpistolen war zu hören. Eine Gruppe von Jägern erwiderte vom Waldrand her das Feuer, und Nyborgs Scharfschützen, verborgen zwischen Seggen und Wollgras, schossen auf die Suchscheinwerfer. In der Nähe der Gefangenquartiere detonieren Handgranaten, und kurz darauf strömten unzählige Menschen auf den Lagerhof.
Die Pistole in der Hand setzte Johanna dem Leutnant hinterher. Ihre Stiefel sanken tief in den Morast. Sie hörte, wie dicht neben ihrem Kopf Kugeln durch die Nachtluft pfiffen. Eine weitere Rakete rauschte über den Sumpf hinweg ins Lager und riss unter lautem Getöse eine MG-Stellung auf dem Dach der Kommandeursbaracke in Stücke. Johanna stürzte und schlug der Länge nach ins schlammige Wasser. Nyborg wandte sich zu ihr um.
»Kopf runter!«, rief er. »Bleiben Sie unten!«
Alles geriet in Aufruhr. Atemlos verfolgte Johanna das Spektakel. In das Schreien der Gefangenen hinein brüllten Offiziere der Militärpolizei den Wachmannschaften Kommandos zu, doch die gingen in Deckung, denn aus den Karabinern der Jäger prasselte Salve um Salve auf sie nieder. Über dem Tumult kreischte die Lagersirene, und als ein funkensprühender Kurzschluss die Hundeketten am äußeren Patrouillengang ausklinkte, war das Chaos perfekt. Die Tiere schienen weder Freund noch Feind zu kennen. Geifernd und wie von Sinnen stürzten sie sich in den Kampf. Johanna sah, wie einer der Wachposten von einem Rottweiler angesprungen wurde. Der Hund verbiss sich in den Arm des Mannes und ließ nicht locker, bis ihn irgendjemand mit dem Schuss aus einer Schrotflinte niederstreckte.
Nyborgs Männer erreichten den Zaun, zerschnitten den Draht, und schlüpften ins Lager. Der Leutnant hockte am Rande des Sumpfes und schoss auf das stark befestigte Lagertor, wo zwei Militärpolizisten eine MG-Lafette ausrichteten. Unter dem Sperrfeuer zogen die beiden Männer die Köpfe ein. Als Nyborg sein Magazin leergeschossen hatte, donnerten die schweren Repetierer der Scharfschützen und verwandelten die Lafette in einen Haufen Schrott.
Johanna stemmte sich hoch. Sie erreichte den Lagerzaun kurz nach dem Leutnant.
»Fast geschafft«, sagte er zu ihr. »Wenn wir drüben sind, bleiben Sie in meiner Nähe. Suchen Sie sich Deckung.«
Sie stiegen durch den Zaun und krochen hinüber zu Nyborgs Männern, die sich auf dem Lagerhof hinter Panzersperren aus Beton verschanzt hatten. Überall rannten Gefangene umher, und einige von ihnen wurden getroffen, als Schützen der Wachmannschaften vom Dach der Lagerverwaltung in die Menge schossen.
Johanna kauerte neben Nyborg am Boden. Die Pistole in ihrer Hand zitterte. Ein blutjunger Unteroffizier kam herbeigespurtet, reichte dem Leutnant ein Nachtglas und meldete: »Der Lagerkommandeur ist mit zehn Mann beim Waffendepot in Stellung gegangen. Ein Uhr.«
Nyborg schaute durch das Glas. »Okay, der Funker soll es den Mörsern durchgeben. Und die sollen auch die Penner auf dem Dach eindecken.«
Der Unteroffizier bestätigte und rannte davon.
Nyborg packte Johanna am Arm. »Alles klar? Sie sehen übel aus.«
»Alles bestens«, erwiderte Johanna, und einen Moment lang glaubte sie, sich auf der Stelle übergeben zu müssen.
Der Leutnant lachte. »Ist nur der Stress.«
In diesem Augenblick ließen mehrere Detonationen die Erde beben.


Sundland lächelte und füllte drei Gläser mit schwedischem Wodka. »So viele Gefangene haben wir noch nie befreit. Die Aktion war ein großer Erfolg.«
Nyborg nickte. »Wir hatten ein paar Verluste, aber ich stimme Ihnen zu. Der Punkt ging an uns.«
»Was wird die Regierung jetzt tun?«, fragte Johanna.
Nyborg zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Man wird wahrscheinlich versuchen, unser Bataillon kaltzustellen.«
Sie stießen an und tranken.
»Ja, sicher«, sagte Sundland. »Aber dabei wird ihnen klarwerden, dass bereits das gesamte dritte Jägerregiment mit dem Feind kollaboriert.«
»Sie waren ziemlich fleißig, Klara.«
Sundland schob ein Päckchen Zigaretten über den Tisch, steckte sich selbst eine Look an und blies den Rauch unter die tiefhängende Deckenlampe. »War so alles nicht geplant«, sagte sie. »Wir dachten, wir hätten viel mehr Zeit. Der Strategiewechsel der Regierung zwingt den Widerstand zu dieser Reaktion.« Mit einem Blick zu Johanna fügte sie hinzu: »Und die Degeneration.«
»Wie geht es eigentlich Ihren Männern, Leutnant?«, fragte Johanna. »Wie kommen Sie damit klar?«
Nyborg rollte eine Zigarette zwischen den Fingern. »Wir sind alle ziemlich angeschlagen. Es geht das Gerücht, dass Dienstgrade vom Major aufwärts ein Mittel erhalten. Aber ehrlich gesagt, glaube ich es nicht.«
Sundland füllte ihre Gläser nach. »Was meinen Sie damit?«
»Ich denke, dass es kein Mittel gibt, Klara. Das Militär ist ebenso von der Degeneration betroffen, wie die Bevölkerung und der Widerstand. Und ich denke, das gilt auch für den Geheimdienst und sogar für die Regierung.«
»Nein«, sagte Sundland und schüttelte den Kopf. »Die haben es uns angehängt. Die haben uns mit der Degeneration infiziert.«
Nyborg steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen, und Johanna gab ihm Feuer. Sie schwiegen eine Weile.
»Oder es ist so etwas wie Karma«, sagte Johanna schließlich.


Nestor hielt einen Spielstein zwischen Mittelfinger und Zeigefinger. »Wie mit einer Pinzette, siehst du?«
Johanna nickte.
»So kannst du die Steine besser auf dem Brett platzieren«, sagte Nestor.
Sie hatten jetzt zwei Monate lang beinahe jeden Abend gespielt. Ziel dieses Trainings war es, die Grundlagen zu vermitteln, wie sich Nestor ausdrückte.
»Liest du noch in dem Buch über die Eröffnungstheorie?«
»Nein, das ist zwecklos.«
Nestor nickte. »Ich sagte dir ja bereits, dass du erst einmal begreifen musst, wie du eine Steingruppe sichern kannst. Die Verteidigung zu beherrschen, ist unverzichtbar.«
Johanna stützte das Kinn auf ihre Hände und schaute auf das Spielbrett. Die Gruppen schwarzer und weißer Steine dort erzählten eine Geschichte von Angriff und Gegenangriff, von Invasionen, Umgehungsattacken, Aufspaltungsmanövern. Je nachdem, wie man auf das Brett blickte, schien sich diese Geschichte zu wandeln. Eine Gruppe von schwarzen Steinen, die Johanna gerade noch für einen Angriffstrupp gehalten hatte, wirkte plötzlich isoliert und verloren, wenn man bedachte, welche Stärke von den weißen Positionen ringsumher ausstrahlte.
Nestor lachte. »Orientierung verloren?«
Johanna kaute auf ihrer Lippe. Es war zum Verrücktwerden. Das Spiel stellte sich als Übung in dauerhaftem Krisenmanagement heraus. Egal, wie man die eigenen Reihen verstärkte, stets brach der Gegner durch. Schloss Johanna die Ostseite ihrer Stellung, schob Nestor sich von Westen in ihr Gebiet. Sicherte sie den Westen ebenfalls, hörte sie nur: »Zu langsam. Du brauchst drei Züge, wo ich einen mache.«
Nachdem sie an diesem Abend die Partie beendet hatten, sagte Nestor: »Du siehst unzufrieden aus.«
Johanna zuckte die Schultern. »Es ist nur, weil ich das Gefühl habe, bei jeder Partie schlechter zu spielen. Ich kapiere immer weniger.«
Nestor nickte. »Das ist gut so.«
Johanna sah ihn an. »Ach, wirklich?«
»Dieses Gefühl der Verwirrung ist der Augenblick vor einer Erkenntnis.«
»Und dann werde ich das Spiel beherrschen.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Nestor und lachte wieder. »Du bewegst dich von Verwirrung zu Erkenntnis, und dann folgt wieder Verwirrung.«
»Na, das klingt ja großartig.«
»Mich interessiert etwas anderes, Johanna.«
»Hm?«
»Bemerkst du die Veränderungen hier oben«, Nestor tippte sich an die Stirn, «die das Spielen auslöst?«
Johanna schüttelte den Kopf. »Mein Leben ist ein Chaos. Also, alles wie immer.«
»Du darfst dich nicht damit begnügen, es als Chaos zu betrachten.«
»Sondern?«
»Suche nach den verborgenden Verbindungen, nach den Bedeutungen der Ereignisse in deinem Leben.«
»Keine Ahnung, was Sie damit meinen.«
Nestor lächelte. »Das kommt schon«, sagte er. »Bald.«


Von hier oben sah man die Stadt mit anderen Augen. Johanna betrachtete die im Dunst schimmernden Dächer der Häuser, die regennassen Straßen und Plätze. Solange sich jeder einzelne Mensch einredete, das Beste aus den Umständen zu machen, sein Leben so gut zu leben, wie es in diesen Zeiten eben ging, würde sich im Großen nicht viel ändern. Aber gab es das überhaupt? Gab es das Große, den Gesamtzusammenhang, oder war das nicht mehr als eine theoretische Betrachtungsweise, die verblasste, sobald man sie den realen Lebenserfahrungen des Einzelnen gegenüberstellte?
Johanna hörte Nyborgs Schritte im Gras. »Gute Idee«, sagte er. »Dieser Platz ist perfekt. Wir können die Funkstation hier aufbauen und erzielen eine Reichweite von mehr als fünfhundert Kilometern.«
»Mein Vater war hier oft mit mir wandern«, sagte Johanna.
»Sördal möchte, dass wir beide das zusammen koordinieren.«
»Den Aufbau der Funkstation?«
»Du klingst enttäuscht.«
Johanna scharrte mit dem Fuß in der Erde. »Kannst du deinen Kommandeur nicht bitten, uns einen anderen Auftrag zu geben? Ich würde gern eine dieser verfluchten Verhörzentralen in die Luft sprengen.«
Nyborg lächelte. »So läuft das nicht beim Militär. Befehl ist Befehl.«
»Hm.«
»Es geht nicht nur um die Funkstation. Eine Hütte hier oben in den Wäldern wäre auch ein guter Stützpunkt, eine Basis für die weiteren Aktionen.«
»Schon klar«, sagte Johanna.
»Wir werden in der Nähe der Hütte ein Waffenversteck einrichten. Das könnte einmal sehr nützlich werden.«
Sie standen noch eine Weile beisammen und beobachteten, wie sich die Konturen der Stadt in der Abenddämmerung auflösten.


Nestor kratzte sich am Kopf, als müsste er über die Frage nachdenken, aber Johanna war sich sicher, dass er nur nach den richtigen Worten suchte, um ihr klarzumachen, was für ihn auf der Hand lag.
»Ich sympathisiere mit den Ideen des Widerstands, aber das ist nicht mein Kampf«, sagte er schließlich.
Johanna schüttelte den Kopf. »Wie können Sie so etwas nur sagen? Sehen Sie nicht, was mit diesem Land passiert?«
Nestor schaute auf das Spielbrett. »Hinter dem Offensichtlichen gibt es stets das Verborgene, Johanna. Wenn du dich nach dem Offensichtlichen richtest und das Verborgene außer acht lässt, kommst du zu fragwürdigen Entscheidungen.«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie so denken. Ich habe oft an diesem Kampf gezweifelt, weil ich nicht mehr verstanden habe, wofür wir eigentlich unser Leben riskieren. Aber als mich dieser Typ verhört hat, wurde mir klar, dass wir gar nichts anderes tun können, weil die uns vernichten wollen, Nestor. Das ganze System ist ein einziger Vernichtungsapparat.«
Nestor platzierte einen Stein auf dem Brett. »Soweit zum Offensichtlichen.«
»Und was bitte soll daran falsch sein?«
Nestor schaute vom Brett auf, betrachtete Johanna einen Moment lang mit einem sonderbaren Blick, in dem eine ungeheure Intensität lag. Dann verschwand das Feuer aus seinen Augen.
»Ich habe nicht behauptet, dass das falsch ist. Aber es ist nur ein Teil des Ganzen. Und du musst lernen, das Ganze zu sehen.«


Anquist ächzte, als die Faust von Nyborg gegen sein Kinn krachte. Der Major taumelte ein paar Schritte zurück, spuckte Blut und ging auf die Knie.
»Dafür werden Sie hängen«, sagte er keuchend.
»Gut möglich«, erwiderte Nyborg. »Aber das werden Sie bestimmt nicht mehr erleben.«
Johanna trat aus der Ecke in das Licht der Glühbirne, die lange Schatten auf den Wänden der Waldhütte tanzen ließ.
»Erkennen Sie mich, Herr Major?«
Anquist hob den Kopf und betrachtete Johanna mit einem höhnischen Lächeln.
»Ich hätte Sie fertigmachen sollen.«
»Naja, das war wohl der Plan, oder?«
Anquist blinzelte.
»Erinnern Sie sich nicht? Sie haben mich nicht aus Güte verschont.«
Nyborg zog seine Waffe und zielte auf Anquists Kopf. »Wir haben keine Zeit für Plaudereien, Johanna. Sag ihm, was du zu sagen hast.«
Johanna öffnete den Mund, doch dann schwieg sie. Sie schaute Anquist in die Augen. Noch immer spielte ein blasierter Zug um die Lippen des Majors, aber sein Blick ging hin und her, wie der eines gehetzten Tiers.
»Können wir ihn gehen lassen?«, fragte Johanna, und sie schluckte, als sie begriff, was sie gesagt hatte.
Nyborg blickte zu ihr herüber. »Wie?«
»Ich finde ihn nutzlos. Soll er sich doch verpissen.«
»Drei Männer haben ihn zwei Wochen lang rund um die Uhr oberserviert, bis wir ihn schnappen konnten. Er ermittelt gegen unser Regiment, und er hätte dich beinahe ...«
»Das weiß ich alles.«
»Und du findest, wir sollen ihn gehen lassen?«
»Ja.«
»Tja, du weißt, wie mein Befehl lautet.«
»Wenn wir ihn gehen lassen, werden sich seine Vorgesetzten fragen, ob da was faul ist.«
»Das werden sich meine Vorgesetzten auch fragen, Johanna. Und wie willst du das Klara erklären?«
»Strategie.«
»Was?«
»Es ist eine strategische Entscheidung.«
Einen Moment lang herrschte Stille in der Hütte. Nur draußen vor der Tür waren Nyborgs Männer zu hören, die sich leise unterhielten.
»Tut mir leid, Johanna. Wenn du nicht dabei sein willst, dann geh.«
Johanna schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. Sie betrachtete das Gesicht des Majors, der jetzt wusste, dass ihm die Stunde geschlagen hatte. Er richtete einen trotzigen Blick auf den Leutnant, doch seine Todesverachtung war gespielt. In diesem Augenblick war er ein einfacher Mann, der Angst vor dem Sterben hatte und vor dem großen Nichts, das danach folgte.
Nyborg zielte mit seiner Waffe noch immer auf Anquists Kopf.
»Ein letztes Wort, Major?«
»Dafür werden Sie bezahlen, Nyborg.«
Als die Kugel Anquists Schädel durchschlug, hörte Johanna nicht das Krachen des Schusses. Sie sah, wie roter Nebel aufsprühte, sah, wie Fetzen der Gehirnmasse durch die Hütte geschleudert wurden und das Leben in Anquist Augen erlosch, noch ehe sein Körper zu Boden gesunken war.


Nachdem die Funkstation in Betrieb genommen war, schoben zwei oder drei Leute des Widerstands Wache und hielten die Geräte in Schuss. Außer der Funkanlage mussten ein Dieselaggregat und eine Druckpresse gewartet werden. Obwohl es Johanna überraschte, liebte sie es, auf der Station zu arbeiten. Sie dechiffrierte Funksprüche und vervielfältigte Flugblätter, und bald spürte sie, wie sich ihre Aufmerksamkeit und Konzentration allmählich verbesserten. Wenn sie auf Posten stand oder im Wald patrouillierte, kam sie endlich dazu, in Ruhe über sich und ihr Leben nachzudenken.
Als sie an diesem Herbstmorgen unter einer Fichte hockte und mit dem Fernglas zum gegenüberliegenden Bergkamm spähte, fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit frei und lebendig, eins mit sich selbst. Am Himmel zogen strahlend weiße Cumuluswolken träge dahin. Der Boden roch nach Moos und Pilzen. Eine friedliche Stille lag über dem Wald.
Seit einigen Tagen beschäftigte sie ein seltsames Graffiti, das vermutlich von Aktivisten des Widerstands in der Nähe des Speakeasys an eine Hauswand gesprüht worden war. Schau in den Spiegel!, lautete die Botschaft, und als Johanna sie zum ersten Mal gelesen hatte, verstand sie den Aufruf als eine Mahnung zur Selbstbesinnung. Sich selbst klar zu sehen, bedeutete das nicht auch, die eigene Verantwortung und Pflicht zu erkennen? Hieß das nicht, den Kampf aufzunehmen gegen diesen Vernichtungsapparat? Doch allmählich zweifelte Johanna an dieser Deutung. In den Spiegel zu schauen, das schien weniger eine Aufforderung zur Revolte zu sein, als vielmehr ein Hinweis, dass der blinde Fleck der Wahrnehmung bei der eigenen Person liegen könnte. Und wirklich: Machte sie sich etwas vor? War sie die Frau, für die sie sich hielt?
Das Motorengeräusch eines Geländewagens riss Johanna aus ihren Gedanken. Sie fuhr herum, und sah einen olivfarbenen Jeep mit MP-Zeichen, der querfeldein den Hang zum Gipfel hinaufjagte. Hinauf zur Station!
Johanna rannte los. Militärpolizei, dachte sie. Es war klar, dass sie die Station nicht rechtzeitig erreichen würde. Aber zum Waffenversteck würde sie es schaffen.
In ihrer Brust brannte es wie Feuer und Kiefernzweige peitschten ihr Gesicht, doch Johanna lief so schnell durch den Wald, dass sie bei der getarnten Grube ankam, noch bevor oben auf dem Gipfel die ersten Schüsse fielen. Sie öffnete die mit Blätterwerk bedeckte Klappe des Erdlochs, ergriff ein Sturmgewehr und ein geladenes Magazin. Ihr Blick fiel auf eine Kiste mit Splitterhandgranaten.
Als bei der Station Maschinenpistolen knatterten, war Johanna auf dem Weg. Schweiß biss in ihren Augen, die Schultern schmerzten und sie keuchte vor Anstrengung. Schon hörte sie die Stimmen der Soldaten. Nur noch ein paar Meter ...
Die beiden Militärpolizisten waren hinter ihrem Jeep in Deckung gegangen und schossen in Richtung der Station, wo ein Mann des Widerstands das Feuer erwiderte. Sie bemerkten Johanna nicht, die sich von der Seite genähert hatte.
Die Granate beschrieb einen flachen Bogen, prallte gegen den Kotflügel des Geländewagens und sprang zurück. Johanna sah, wie einer der Soldaten über seine Schulter blickte. Die Wucht der Detonation schleuderte den Jeep in die Luft und riss die beiden Männer in Stücke. Von der Station her wurden noch ein paar Schüsse abgegeben, dann trat Stille ein.


»Wir sind eben ein gutes Team«, sagte Nyborg, gab Johanna die Zigarette zurück und sprang aus dem Bett. Johanna rauchte und beobachtete, wie Nyborg sich ankleidete.
»Sagt das dein Kommandeur?«
Nyborg legte den Gürtel mit seinem Waffenholster an. »Sördal? Der hat andere Sachen im Kopf.«
»Was zum Beispiel?«
»Ich höre nur Gerüchte, aber es heißt, dass sich jetzt mehrere Divisionen dem Widerstand angeschlossen haben. Könnte sein, dass in den nächsten Tagen die Stadt eingenommen wird.«
»Von wem?«
»Von zwei oder drei Bataillonen unseres Regiments.«
»Dafür brauchtet ihr also die Informationen des Widerstands.« Johanna bemerkte, dass ihre Stimme plötzlich schrill klang.
»Informationen?«
»Über die Lage hier in der Stadt.«
»Hey, wir sind im selben Team«, sagte Nyborg und stützte die Hände in die Seite. »Unser Glück ist, dass es seit Jahren überall im Heer brodelt. Die Generäle der anderen Verbände halten sich zurück. Sonst hätten die uns im Handumdrehen plattgemacht.«
»Und wie geht es weiter?«
»Naja, die Armee ist zerstritten, aber Polizei und Geheimdienst sind immer noch regierungstreu, und daran wird sich so schnell nichts ändern. Es läuft wohl auf Kämpfe hinaus.«
»Hm«, machte Johanna und starrte aus dem Fenster in den schmutziggrauen Himmel des anbrechenden Tages. »Du meinst Krieg.«
Nyborg hielt inne. »Hey, Sördal hat mitgekriegt, wie du die Station gerettet hast. War schwer beeindruckt.«
Johanna nickte gedankenverloren.
»Klara hat dich auch gelobt.«
»Stimmt«, sagte Johanna.
Nyborg zog seine Waffe unter dem Kopfteil der Matratze hervor und schob sie in das Holster. »Was ist los mit dir?«
Johanna schüttelte den Kopf, öffnete den Mund, sagte dann aber nichts.
»Wenn es hier zum Kampf kommt, hole ich dich natürlich vorher raus.«
»Schon klar.«
»Ist es wegen der beiden Männer, die du getötet hast? So läuft das im Krieg leider.«
»Ja, aber ...«
»Das waren Soldaten. Keine Zivilisten.«
Johanna sah ihn an. »Und jetzt soll ich mich besser fühlen?«
Nyborg setzte sich zu ihr aufs Bett. In einer zärtlichen Geste hob er die Hand zu ihrem Gesicht, ließ den Arm dann aber sinken. »Ich weiß, das ist nicht einfach. Einen Menschen zu töten, ist schlimm. Auch, wenn es richtig ist.«
Johanna rollte sich zur anderen Seite aus dem Bett und stand auf. Sie lief nackt im Zimmer umher und rauchte.
»Der erste Mann, den ich getötet habe«, sagte Nyborg, »den werde ich wohl nie vergessen. Der war gerade mal achtzehn, eigentlich noch ein ...«
»Du verstehst gar nichts«, sagte Johanna. Sie drückte ihre Zigarette im Ascher aus, der auf dem Nachttisch stand. »Ich ... ich weiß nicht mehr ...«
»Du weißt nicht, was?«
»Ich ... hatte gedacht, es wäre alles klar. Wir sind auf der richtigen Seite und die ...«
»Na, wir sind doch auf der richtigen Seite. Hast du vergessen, wie das bei deinem Verhör ablief?«
»Und was haben wir dann mit Anquist gemacht?«
Nyborg hob die Schultern. »Was meinst du?«
Johanna starrte ihn an. Die Adern an ihrem Hals pochten.
»Sag mal, kriegst du jetzt ernsthaft moralische Bedenken? Du bist eine Widerstandskämpferin, vergiss das nicht.«
Johanna nickte. »Ja«, sagte sie. »Aber da stimmt irgendwas nicht.«


Nestor lächelte. Seine Lippen zitterten ein wenig.
»Habe ich wirklich gewonnen?« Johanna starrte auf das Brett.
»Du machst mich sehr stolz, Johanna.«
Johanna stieß einen Freudenschrei aus und sprang vom Stuhl. Nestor lachte und klatschte in die Hände.
»Sehr gut«, sagte er. »Wirklich, sehr gut.«
»Heißt das, wir reduzieren jetzt die Vorgabe? Versuchen wir es mit acht Steinen?«
Das Spiel besaß eine Regel, die es ermöglichte, verschieden starke Spieler mit ausgeglichenen Siegchancen gegeneinander antreten zu lassen. Diese sogenannte Vorgaberegel besagte, dass dem schwächeren Spieler zu Beginn der Partie Steine auf das Brett gelegt wurden, was einen erheblichen Vorteil darstellte. Johanna und Nestor hatten heute mit neun Vorgabesteinen gespielt.
»Du musst mich drei mal mit neun Steinen Vorgabe besiegen, dann reduzieren wir auf acht.«
»Okay, verstehe.« Johanna setzte sich wieder. Ihr Gesicht war gerötet, sie strahlte und zupfte an ihren Haaren.
»Ein gutes Gefühl, stimmt's? Du kriegst dich ja gar nicht wieder ein.«
Johanna lachte. »Phantastisch. Ein echter Orgasmus.«
»So, so.« Nestor lachte dröhnend. »Was für ein tolles Spiel habe ich dir da beigebracht.«
Als sie das Spielmaterial zusammenräumten, erzählte Johanna von den Gedanken, die sie sich über das Graffiti in der Nähe des Speakeasys gemacht hatte.
Nestor hörte schweigend zu. Schließlich sagte er: »Mag sein, da steckt noch mehr dahinter.«
»Wie meinen Sie das?«
Aber Nestor winkte ab, schüttelte den Kopf und sagte nur: »Spiegel sind merkwürdige Objekte.«
Nachdem Johanna das Speakeasy verlassen hatte, ging sie nicht direkt zum Safehouse, sondern machte einen Umweg, nur um das Graffiti noch einmal zu sehen. Als sie vor der Mauer stand, sah sie, dass jemand eine zweite Zeile hinzugefügt hatte: Schau hinter den Spiegel!
Einen Moment lang war da absolute Leere in Johannas Kopf. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper, und sie rannte los.


»Ich verstehe immer noch nicht, weshalb du mich hierher gebracht hast«, sagte Nestor und schaute hinunter auf die Stadt, die im fahlen Licht des Mondes wie ausgestorben dalag.
»Sie werden es gleich verstehen«, sagte Johanna. Sie wies mit der Hand auf den Horizont im Westen, wo sich ein Schatten über die Ebene ausbreitete. Nestors Blick folgte der Geste, und hinter den Brillengläsern wurden seine Augen schmal.
»Ich wollte Ihnen noch sagen, dass ich aus dem Widerstand aussteige.«
»Du steigst aus?«
»Ja. Ich ...«
Nestor nickte. »Schon gut.«
Irgendwo in der Tiefe des Himmels im Osten setzte ein Summen ein, das stärker und stärker wurde. Als unten in der Stadt die erste Sirene heulte, schwebten die Bomber bereits als Flecken tiefster Schwärze vor der Knochenscheibe des Mondes.
Johanna ergriff Nestors Hand. »Es tut mir sehr leid«, sagte sie, schloss die Augen, und mit geschlossenen Augen sah sie, wie im Westen die Mündungsfeuer schwerer Geschütze aufzuckten. Von Osten her schoben sich immer mehr Bomber aus der Finsternis heran, gegen das Donnern von Artillerie und Flak. Ein paar Sekunden lang lag ein Kreischen in der Luft. Dann brandete eine Flammenwoge gegen die Skyline und verschluckte die Stadt.

 

Hallo Achillus,

ich habe deine Geschichte gerne gelesen, empfinde sie als sprachlich souverän geschrieben, man wird mit sicherer Hand hindurch geleitet, es sind schöne Ideen drin. Die Idee mit dem Spiel hat mich sehr angesprochen. (Musste an den Latein-Unterricht denken, wo es immer hieß, gut, man braucht die Sprache zwar nicht mehr, aber man lernt logisches Denken :D)
Allerdings gefällt mir auch gerade an der Geschichte, dass ich recht entspannt bleibe und ich weiß nicht ob du das wirklich als Kompliment empfindest.
Schon in der Eingangsszene wird klar, dass die Frau im Grunde unverwundbar ist, weil sie supertough ist und im Ernstfall gerettet wird.
Das das in der Folterszene gleich nochmal passiert, ist zwar einerseits schön, aber hat sogar mich Weichei etwas enttäuscht. Bloß weil sie vorher mit dem Typen geschlafen hat, wird sie schon wieder gerettet. Das sie ein bisschen frech ist in der Folterszene empfinde ich auch so Superwomanmäßig. Und natürlich hält sie dicht. Bis sie gerettet wird.
Als Nestor sie das erste Mal ablehnt, weiß ich, dass es nicht dabei bleiben wird. Und ich freue mich auch drauf und wäre enttäuscht, wenn es nicht so wäre. Ich glaube, du folgst halt den Regeln des Genres, aber hier und da würde ich mir vielleicht einen kleinen Bruch wünschen.
Die verschiedenen Kampfszenen lese ich immer ein bisschen quer. Das Spiel ist interessant. Ich persönlich bin ja der Auffassung, das jede Art von geistiger Aktivität hilft eine Demenz aufzuschieben. (Was meinst du, warum ich das hier betreibe ...)
Das sie am Ende die Einsicht hat, dass so ein Krieg von keiner Seite wirklich zu gewinnen ist und aussteigt, finde ich schön entwickelt. Man hat dieses Spielbrett vor Augen, so eine Mentorensituation mit dem Nestor, und dann nochmal das ganze Land. Hier finde ich das gelungen, wie man doch zu Beginn gut mit ihr und den Rebellen identifiziert ist, langsam mit in ihren Zweifel gezogen wird und sich am Ende von dem Gut/Böse-Muster löst. Und das ist vielleicht auch der Punkt, wo die Geschichte mit den Regeln des Genres bricht, die ja oft genau da verhaftet bleiben. Ja, ich glaube fast, gerade weil die Geschichte phasenweise ziemlich clichéhaft daherkommt, überrascht das besonders. So ging es mir jedenfalls.
Dass dann die ganze Stadt abfackelt, berührt mich wieder merkwürdig wenig, weil ich vorher dort zu niemandem eine Beziehung aufgebaut habe. Auch hier schonst du mich als Leserin. Wie gesagt, ich bin ganz froh darüber, aber das macht die Geschichte zu einer sehr leicht verdaulichen Sache.
Außerdem hat sie ja noch den Nestor gerettet, der natürlich der Obersympathieträger ist.

»Es tut mir sehr leid«, sagte sie,

Ich hatte das so verstanden, dass sie irgendwie hinter dem Spiegel gesehen hat, dass ein Angriff auf die Stadt bevorsteht. Dann hat sie Nestor da gerade noch rechtzeitig rausgeholt und entschuldigt sich jetzt, das gleich die Stadt in Flammen aufgeht.

Das sind so meine Gedanken und wahrscheinlich bin ich so ein bisschen kritisch, weil man aus meiner Geschichte mit Depressionen rausgeht und aus deiner irgendwie ... mit einem guten Gefühl.

Liebe Grüße von Chutney

 

Hallo Achillus,
Dein Text erscheint mir in Stil und Konstruktion ungemein routiniert und, soweit ich als Kenntnisloser in dem Genre beurteilen kann, professionell. Da sitzt jedes Wort, jede Phrase, jedes Bild. Die Aufstellung der Figuren, ihre Einführung und Charakterisierung, das ist alles plastisch, bildreich und vor allem dermaßen spannend, dass ich bis zum Ende durchlesen will. In der Darstellung der Gewalt, die bis in die Details zelebriert wird, ist der Text wohl modern, behaupte ich mal. Ich bin in dem Bereich gar nicht belesen, aber die Fernsehkrimis überschlagen sich ja in Bluträuschen und immer muss Gehirn spritzen. Wenn das im Film en vogue ist, trifft das vielleicht auch auf die Literatur zu. Das tut es bei Dir auch und ist, wie manche Philosophen sagen, wohl der Tribut an eine postheroische Gesellschaft, in der Kriegshandlungen und Helden aus dem Alltag ausgelagert werden und die Sehnsucht nach existenziellem Kampf über Drastik befriedigt wird. Aber Deine Gewaltdarstellung ist in den großen Konfrontationen so kundig auch in der Waffenterminologie beschrieben, dass man sich mittendrin empfindet und in der Folterszene auch so distanziert und doch nah, dass man den Schmerz spürt und doch weiterlesen kann, weil es nicht forciert ist. Freilich findet man stereotype Figuren, den sadistischen Folterer, die schöne Kluge, den geheimnisvollen Weisen, aber alles lebendig und detailliert herausgebildet.
In der Summe bin ich also sehr spannend unterhalten von dem Text. Die Punkte, die ich anbringen will, beziehen sich noch auf die Handlungsdichte im Verhältnis zur Länge des Textes. Ich empfinde ihn für eine Kurzgeschichte zu lang, für die Handlungssumme aber zu kurz. Seltsam erscheint mir, dass das wesentliche Impulsmotiv der Degenerierung nur eine marginale Rolle spielt und bei den Akteuren nicht spürbar wird. Da wird fast nur ein teichoskopischer Blick darauf geworfen, ohne dass es sich großartig auswirkt. Dabei ist das ja wohl das zentrale Instrument des totalitären Staates, der entworfen wird. In der kompakten Form sind zwischendrin dann auch theoretische Erläuterungen nötig, die man in einem größeren Rahmen bildreicher ausstaffieren könnte. Überhaupt ist mir, trotz der Spannung, der eigentliche Grund, die Ideologie hinter der Unterdrückung nicht klar. Das hätte mich doch sehr interessiert und würde dann die Gewaltdarstellungen nicht isoliert erscheinen lassen, sondern in einen größeren Zusammenhang einbinden.
Mir ist dann noch in den Sinn gekommen, dass die Dystopie, die Du vorstellst, sich in den Kontrollmechanismen an vergangene Diktaturen und totalitäre Systeme anlehnt. Vielleicht geht ein Kontrollstaat in Zukunft mit subtileren und perfideren Mitteln ans Werk, um seine Bewohner zu einem konformen Verhalten zu zwingen. Künstliche Intelligenz dürfte dabei eine wesentliche Rolle spielen. Aber das ist nur ein Randgedanke zu Deiner Geschichte, die einfach rundum lesenswert ist.
Herzlich
rieger

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich mochte die Wortspiele. Das Verhältnis zwischen Dialog und Erzählfeld ist ausgeglichen, daher trägt sich die Spannung leicht mit. Das Verwenden der militärischen Begrifflichkeiten fällt schön aus dem sonstigen Erzählrahmen. Schön.

Vielen Dank für das Lob zum Text. Freut mich, dass Du es spannend fandest. Gruß Achillus


Hallo Chutney,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren, schön, dass Du reingeschaut hast. Ich denke, dass solche Szenarien, die schon von vornherein als fiktional gezeichnet werden, so manchen Leser davon abhalten, sich darauf ganz einzulassen. Manche Leute mögen beispielsweise keine Science Fiction, weil sie das eben als unrealistisch ansehen und das auch nicht aus dem Kopf bekommen. Mir geht es auch so, dass ich realistische Szenarios ein wenig ernster nehme, als Science Fiction, Fantasy usw.

Denn dass Johanna supertough ist, habe ich beim Schreiben so nicht empfunden. Sie zeigt in der ersten Szene Zeichen von Angst, auch in der Kampfszene bei der Befreiung des Lagers und bei der Folterszene sowieso. Sie macht keine coolen Sprüche, obwohl sie – wie Du schreibst - ein bisschen frech ist. Also das empfinden wir unterschiedlich, was daran liegen mag, dass ein Autor ja immer auch eine ganze Menge von Vorstellungen mit sich herumträgt, die sich nicht unbedingt eins zu eins im Text niederschlagen.

Deshalb finde ich Deine Hinweise interessant und aufschlussreich. Offenbar ist es mir nicht gelungen, sie so darzustellen wie ich sie mir denke.

Den Bruch der Regeln (ich nenne das mal Genre-Kodex des Thrillers) sehe ich ebenso wie Du zum Ende hin in dem Umstand, dass der Auftrag (also das Spiel zu erlernen) nicht lediglich erfüllt wird, sondern die gesamte Idee des Widerstandskampfes (so, wie er geführt wird) in Frage stellt.

Klassisch wäre es, dass Johanna gegen viele Widerstände kämpfen muss und schließlich das zu Beginn gesetzte Ziel verwirklicht. Für mich war aber eben gerade der springende Punkt, dass das Spiel alles in Frage stellt, woran sie bisher geglaubt hat. Der Showdown, da gebe ich Dir recht, würde mehr bewegen, wenn man sich zuvor mit der Stadt mehr beschäftigt hätte, aber im Grunde kennt man die gar nicht. Ich weiß dagegen keine Abhilfe, denn ich stoße da an die Grenzen dessen, was man in eine KG reinpacken kann.

Wie leicht verdaulich das Ganze ist, hängt meiner Ansicht nach davon ab, welche Gedanken man sich zu den Implikationen des Spiels macht. Aus meiner Sicht ist das ein komplettes Universum, aber ich spiele pro Jahr mehr als 300 Partien und bin deshalb befangen. Für jemanden, der das Spiel nicht kennt, mag es etwas x-Beliebiges sein, so etwas wie Schach oder Mühle oder Maumau. Das sehe ich ein.

Was dieses Herausgehen aus einer Geschichte mit Depressionen angeht, das ist auch ein Thema, das mich sehr beschäftigt. Ich hatte mich vor längerer Zeit auch mit Jimmy über diesen Aspekt gestritten. Ich bin da immer noch hin und her gerissen. Einerseits habe ich Hochachtung vor der Leistung des Autoren, Betroffenheit zu erzeugen und den Leser überhaupt so weit zu bringen, sich mit soviel Kummer, Elend und Leiden auseinanderzusetzen.

Anderseits ist ziemlich einfach, Fakten zusammenzutragen, die einen Menschen traurig werden lassen. Leben ist immer prekär, es gibt keinen Menschen auf dieser Welt, der vor den Erfahrungen von Kummer, Schmerz und Elend befreit wäre. Ich finde, auf der persönlichen Ebene ist es eben gerade die Stärke des menschlichen Geistes, dem Elend etwas entgegenzusetzen. Damit meine ich kein Umdeuten, so als wäre in Wirklichkeit alles gut. Ich meine die Fähigkeit des menschlichen Geistes in all der Finsternis so etwas wie eine Bedeutung zu erkennen, einen Sinn, nicht in metaphysischer Hinsicht, sondern in persönlicher.

Deshalb befasse ich mich nicht mehr mit Geschichten, die mir nur das Elend aufzeigen. Ich will den Menschen im Konflikt mit dem Elend sehen und auch sehen, wo und wie dieser Konflikt zu lösen ist. Im Fall dieser Geschichte löst Johanna den Konflikt durch das Realisieren einer höheren Erkenntnisebene. Sie schaut hinter den Spiegel, hinter die Ursachen des Leidens. So ungefähr. Vielen Dank, Chutney.

Gruß Achillus


Hallo Rieger,

vielen Dank für das Lesen meiner Geschichte und Deinen spannenden Kommentar. Habe mich sehr gefreut, Deine Gedanken zum Text zu hören. Mich regt Dein Kommentar an, darüber nachzudenken, wie explizit bestimmte Elemente in Spannungsgeschichten sein können oder sollten. Ich denke, dass sich die Wahrnehmungsgewohnheiten der Leser in den letzten zwanzig Jahren verändert haben. Es gibt einen Zug zum Drastischen, das ist sicher richtig. An den entscheidenden Punkten gesetzt, kann Drastik dazu beitragen, die Wirkung einer Szene zu verstärken. An den falschen Punkten gesetzt, wirkt es albern und unsinnig.

Deine Gedanken zur Länge der Kurzgeschichte kann ich gut nachvollziehen und sage Dir, dass es mir ähnlich geht. Die Regel bei einer Kurzgeschichte ist ja, dass man sie in einem Rutsch lesen können sollte. Bei mehr als 6000 Worten erreicht man da wahrscheinlich so langsam die Grenze. Andersherum wirft die Dichte der erzählten Ereignisse das von Dir beschriebene Problem auf, dass nun Fragen entstehen, die der Text nicht beantworten kann, weil dafür wiederum der Raum fehlt.

Was hat es mit der Degeneration auf sich? Woher kommt sie? Ist sie ein Machtinstrument der Regierung? Wer war Johanna vor ihrem Eintritt in den Widerstand? Wer war Nestor? Was ist seine Geschichte? Was sind die Grundlagen des autoritären Staates, der da beschrieben wird? Gab es vorher eine andere Gesellschaftsform? Gibt es in dieser Zeit alternative Gesellschaftformen, beispielsweise in anderen Ländern?

Du siehst, das alles sind legitime Fragen, die der Text nicht beantwortet, und darüber kann man sich ärgern, wenn man gerne Antworten dafür hätte. Meine Hoffnung als Autor besteht eben darin, dass die meisten Leser sich die Fragen stellen, die der Text behandelt: Wird Johanna das Spiel erlernen? Was ist das für eine Art von Spiel? Wie beeinflusst das Spiel Johannas Leben als aktive Widerstandskämpferin?

Ich denke, Du hast recht, dass das eine problematische Sache ist. Je mehr Details angesprochen werden, je komplexer das Szenario, desto mehr Fragen zu möglichen Hintergründen wirft das auf. Das wird mich auch in Zukunft sicher beschäftigen, denn ich mag komplexe Stories, auch in der Form von Kurzgeschichten.

Was die Degeneration betrifft, da wollte ich eben offenlassen, ob das tatsächlich ein Kontrollinstrument ist oder Aspekt einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft. Und im Geist habe ich das nicht in der Zukunft angesiedelt. Es war eher als alternative Zeit-Geschichte gedacht.

Rieger, vielen Dank für Deine Hinweise und Gedanken zum Text.

Gruß Achillus

 

Hej Achillus,

du kannst dir hoffentlich denken, dass ich deine Geschichte nicht aus Ignoranz so spät kommentiere.
Sie braucht nur mehr Zeit.

Ich las sie dann, wie ich einen Actionfilm sehe. Ich konsumiere und lasse mich beschallen und ängstigen, ich leide und bange, hoffe und freue mich, wenn alles gut ausgeht. (Die nackte Folterszene auf dem Stuhl hat dir/deiner Protagonistin den Namen "Jane Bond" eingehandelt :D)

Das sollte alles ein positives Feedback sein, denn diese Story ist gut durchdacht. Die Idee mit der Hirndegeneration, die Heilung durch Denken, der Wandel der Protagonastin, sehr clever.

Mich durch all diese Kriegsbegriffe und -Elemente zu graben, war ziemlich mühsam und nur deinem guten Stil habe ich es zu verdanken, dass ich nicht aufgab.

Und plötzlich wünschte Johanna, ohne dafür den Grund zu wissen, das Lachen dieses Mannes zu hören.

Von Sätzen dieser Art hätte es gerne mehr geben können. ;)

Es war eine spannende Angelegenheit, deine Geschichte zu lesen und hat mich sehr gut unterhalten.

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Hey Kanji, vielen Dank fürs Lesen und Schreiben. Schön, dass Du Dich gemeldet hast. Ich freue mich über Dein Lob und Deine Hinweise zum Text.

Schön, dass Du mit der Geschichte etwas anfangen konntest. Natürlich lesen wir alle hier immer auch gegen unsere Lesegewohnheiten an. Ich lese ja "privat" auch keine Jugend- oder Liebesgeschichten. Das mache ich nur im Forum aus Interesse an den Schreibtechniken der Autoren hier. Das geht anderen Leuten mit meinen Geschichten bestimmt ebenso.

Um so schöner, wenn Du es trotzdem spannend fandest, Kanji. Vielen Dank für Dein Feedback!

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,

meine Fresse, was ist das für ein krasser text!
Du hast es echt meisterlich geschafft, so viele interessante Aspekte in den Raum zu stellen, dass ich einfach wissen musste, wie es weitergeht und es sich auflöst. Der dystopische Staat, die rätselhafte Degeneration und dann auch noch die Sache mit dem sagenumworbenen Spiel. Das sind so viele heiße Eisen, dass ich da ständig etwas Surreales vermutete; eine Auflösung, die mehr im virtuellen/Meta-Bereich angesiedelt ist. Also gerade diese Gleichsetzung von Leben und Spielbrett, das schreit ja nach einer Meta-ebene. Dazu stets diese Andeutungen, als würde Nestor (herrliche Figur) Johanna auf irgendetwas vorbereiten, sie hinlenken zu einer Erkenntnis, die er schon lange in sich trägt. Letztlich steht Johanna aber über ihren Meister, versteht am Ende scheinbar als einzige die ganze Auswirkung, rettet ihren Mentor sogar. Das fand ich etwas befremdlich. Seltsam auch, diese schwarz-weiß-Konstellation bei den Spielsteinen zu wählen, wenn es doch darum geht, einen Blick jenseits des Offensichtlichen zu gelangen. Da habe ich irgendwie einen Knoten im Hirn, das erschließt sich mir nicht.
Vielleicht habe ich die Andeutungen ja überlesen, die es ermöglichen, die Geschichte anders wahrzunehmen, als es mir Johannes Wahrnehmung der Realität darstellt. Das fehlt mir ein bisschen. Ich will nicht sagen, dass ich etwas enttäuscht vom Ende war, aber es wird dem wirklich äußerst starken text nicht gerecht.
Das klingt jetzt nach einer Menge Gemecker, aber mein Einstiegssatz ist der, der mich dauerhaft beim Lesen geritten hat. Eine wahre Lesefreude, ein spannender Cocktail, der für mich viele Referenzen aufweist, aber einen durch und durch eigenständigen Charakter hat. Bin froh, dass ich die Zeit gefunden habe, die Geschichte in einem Rutsch lesen zu können, es hat sich ein ein immer stärker werdender Sog entwickelt, der beim Unterbrechen sicherlich abgeschwächt worden wäre. Die Action finde ich super so. Mehr wäre zu viel gewesen.
Auf jeden Fall auf meiner Favoriten-Liste.

grüßlichst
weltenläufer

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey Weltenläufer,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Schön, dass Du Dir Zeit genommen hast für den langen Text. Offenbar hat meine Idee, das Spiel mit Johannas Untergrundkämpfergeschichte zu verbinden für Dich gut funktioniert. Ich dachte mir, dass die Andeutungen zu dem Spiel der Spiele beim Leser eine Erwartungshaltung aufbauen, ein Gespanntsein darauf, was das denn nun für ein Spiel ist.

Das sind so viele heiße Eisen, dass ich da ständig etwas Surreales vermutete; eine Auflösung, die mehr im virtuellen/Meta-Bereich angesiedelt ist. Also gerade diese Gleichsetzung von Leben und Spielbrett, das schreit ja nach einer Meta-ebene.

Die gibt es auch, für mein Empfinden, aber ich wollte das nicht explizit ausrollen, weil das dann zu einem Gleichnis im Gleichnis geworden wäre.

Dazu stets diese Andeutungen, als würde Nestor (herrliche Figur) Johanna auf irgendetwas vorbereiten, sie hinlenken zu einer Erkenntnis, die er schon lange in sich trägt. Letztlich steht Johanna aber über ihren Meister, versteht am Ende scheinbar als einzige die ganze Auswirkung, rettet ihren Mentor sogar. Das fand ich etwas befremdlich. Seltsam auch, diese schwarz-weiß-Konstellation bei den Spielsteinen zu wählen, wenn es doch darum geht, einen Blick jenseits des Offensichtlichen zu gelangen. Da habe ich irgendwie einen Knoten im Hirn, das erschließt sich mir nicht.

Gedacht war es so, dass Nestor bei Johanna einen Erkenntnisprozess in Gang setzt und begleitet. Dass Johanna zum Ende der Geschichte hin ihren Meister im Spiel schlägt und die kommenden Kriegshandlungen voraussieht, bedeutet nicht, dass sie über ihrem Meister steht. Jedenfalls war das so von mir nicht angelegt. Denn den Sieg im Spiel hat sie lediglich in einem Handicap-Game, ihr Meister kämpft dabei also quasi mit zusammengebundenen Händen. Und die kommenden Ereignisse erkennt sie, weil sie über Hintergrundinformationen aus dem Widerstand verfügt, die Nestor nicht besitzt. Trotzdem verstehe ich Deinen Gedankengang.

Was das Schwarz-Weiß-Bild des Spieles betrifft, kann ich mir vorstellen, wie es zu dem Knoten in Deinem Hirn kommt. Es ist sehr schwierig das Spiel zu erklären, und vielleicht ist es mir auch nicht gelungen, die Komplexität des Ganzen zu verdeutlichen. Du kannst Dir eine Partie vorstellen wie das Betrachten eines Vexierbildes. Egal, wie lange Du auf die Muster schaust, sie scheinen immer wieder einen anderen Sinn zu ergeben. Natürlich wählt das Gehirn zunächst eine Bedeutung je nach Denk- und Spielgewohnheit aus. Das ist die Wahrheit des ersten Blicks.

Doch wenn man sich ein wenig Zeit nimmt und das Ganze aus der Perspektive des Gegners betrachtet oder bestimmte Kräfteverhältnisse genauer untersucht, stellen sich unzählige Bedeutungsvariationen heraus. Das liegt einerseits an der Größe des Spielbrettes von 19x19 Linien, andererseits an den komplexen und oft unüberschaubaren Fortsetzungsmöglichkeiten. Einem Anfänger kann geradezu schwindelig werden, wenn er über all die Verbindungen und Beziehungen der Steingruppen nachdenkt. Deshalb lernt man das Spiel normalerweise auch zuerst auf einem 9er und dann auf einem 13er Brett, bevor man zum Standardbrett mit 19 Gitterlinien übergeht.

Vielleicht habe ich die Andeutungen ja überlesen, die es ermöglichen, die Geschichte anders wahrzunehmen, als es mir Johannes Wahrnehmung der Realität darstellt. Das fehlt mir ein bisschen.

Ja, darüber habe ich lange nachgedacht. Ein wichtiger Punkt. Die Matrix-Trilogie wird von vielen Buddhisten als Dharma-Movie verstanden, als einen Film, der gleichnishaft die buddhistische Lehre darstellt, nach der wir alle in einer komplexen Illusion gefangen sind, von der wir recht oft sogar glauben, sie zu genießen obwohl wir auf der höchsten und wirklichsten Ebene der Existenz darunter leiden. Mir war das beim Anschauen des Films im Kino sofort klar und als der Film dann später in den buddhistischen Gruppen diskutiert wurde, hat mich das nicht überrascht. Ich fand es faszinierend, dass eine Gruppe von Menschen in einem Popcorn-Kino eine derart komplexe Botschaft zu finden glaubt.

In ähnlichem Sinne war das in dieser Geschichte mit dem Spiel angelegt. Ich wollte aber eben nicht den Schritt machen, Johannas Erkenntnis bildlich darzustellen (so wie das in Matrix mit dem Bild der Maschinenwelt gemacht wurde) sondern wollte nur ihre Reaktion darauf zeigen, nämlich, dass sie auf der Basis ihrer Informationen die Zusammenhänge durchschaut und nach einer bestimmten Ethik handelt. So ungefähr.

Ich will nicht sagen, dass ich etwas enttäuscht vom Ende war, aber es wird dem wirklich äußerst starken text nicht gerecht.

Das verstehe ich. Vielleicht fällt mir dazu noch etwas anderes ein. Danke auf jeden Fall auch für diesen Hinweis.

Eine wahre Lesefreude, ein spannender Cocktail, der für mich viele Referenzen aufweist, aber einen durch und durch eigenständigen Charakter hat.

Das freut mich sehr, Weltenläufer. Vielen Dank für das Lob!

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus

Wettkampfmässig spiele ich Schach, aber ich habe vor ein paar Jahren auch regelmässig Go gespielt, vielleicht ein paar dutzend Partien. Ich musste dann aber damit aufhören, weil ich nach den Partien oftmals schlecht geschlafen und mich auch während der Partien nicht immer wohl gefühlt hatte. Als Schachspieler, der es gewohnt ist, erst dann zu ziehen, wenn er die wesentlichen Varianten konkret berechnet hat, kam ich mit der Vagheit des Spiels nicht zurecht.

Ich finde, du hast das Spiel einerseits überzeugend dargestellt, auch den Lernprozess, diese Phasen der Verwirrung, die der Erkenntnis vorangehen und zu neuer Verwirrung führen. Du hast den Geist des Spiels perfekt rübergebracht. Das hat mich immer fasziniert, dieses Geben und Nehmen, die geforderte Flexibilität, und wie wichtig es ist, zu erkennen, was ein grosser Punkt ist, und was blosser Kleinkrieg, der nichts bringt.

Andererseits hast du diesen Geist des Spiels sehr gut auf den Plot übertragen, Johannas Lernprozess entspricht ihrem Entwicklungsprozess, es verschwimmen plötzlich die klaren Grenzen, der Blick aufs Ganze gewinnt an Gewicht, da gibt's so eine Art Emergenz, etwas, das die Summe der Teile überschreitet. Also, so habe ich die Geschichte gelesen und das fand ich auch das Originelle und besonders Interessante am Text.

Ich hätte mir vielleicht sogar noch mehr von diesen Szenen gewünscht, von den ruhigen Passagen rund um das Spiel, die den actionreichen Sequenzen Widerstand leisten (müssen), damit sich eine stimmige Geschichte ergibt.

Auch ich hatte den Eindruck, dass die Geschichte durchaus noch um einiges länger hätte sein können, um dem, was du erzählst, genügend Raum zu geben. Ich empfand den Text als etwas gedrängt und das ist vielleicht auch der Grund, weshalb er als stereotyp wahrgenommen werden kann. Während nämlich der Plot m.E. insgesamt sehr komplex, eigenständig, originell ist, kommen einem die einzelnen Szenen zumindest strukturell doch bekannt vor: Formulierung der Quest, Verhörszene, Lagerbefreiung, Exekution von Anquist, Nachdenken über das Töten etc. Und diese Szenen folgen halt sehr dicht aufeinander, so dass der genannte Eindruck auch bei mir für einen kurzen Moment entstanden ist.

Ich kann dir versichern, dass ich den Text auch bei doppelter Länge ohne zu unterbrechen durchgelesen hätte, das ist schon eine klasse Leistung, die du hier ablieferst. Sprachlich habe ich den gar nie hinterfragt, das ist sehr souverän geschrieben und erzählt.

Beeindruckend zum Beispiel, wie du die Orts- und Szenenwechsel hinkreigst, verschiedene Handlungsstränge entwickelst, ohne dass ich als Leser den Überblick verliere. Du vertraust da einfach dem Leser und das funktioniert sehr gut.

Sehr gern gelesen, Achillus!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hey Peeperkorn, vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Natürlich freue ich mich sehr über Dein Lob. Ist wunderbar, zu diesem Text auch etwas von einem (ehemaligen) Go-Spieler zu hören. Dass mit dem Schlecht-Schlafen nach dem Spielen kenne ich gut. Ich habe mir deshalb abgewöhnt, spät abends zu spielen. Go gehört sicher zu der Art von Künsten, über die/ denen man verrückt werden kann. Da spielen Emotionen eine große Rolle.

In der Samurai-Ära versuchte man, den Kriegern mit Hilfe des Spiels Geduld und Zähigkeit beizubringen. Viele Go-Lehrer haben dafür mit dem Leben bezahlt. Es gibt zahlreiche zeitgenössische Abbildungen, die zeigen, wie Samurai wegen einer misslungenen Go-Partie Amok laufen.

Ich freue mich darüber, dass Du die Verbindung zwischen Spiel und Handlung gut umgesetzt findest und stimme Dir in Deiner Kritik, was die Anzahl der Spiel-Passagen betrifft voll zu. Da hätte es sicher noch ein bisschen Vertiefung geben können, und der Text könnte durchaus auch länger sein. Aber beim Schreiben war ich mir unsicher, ob die Geschichte den Leser so lange bei der Stange hält.

Du hast auf jeden Fall recht, dass der Text typische Muster des Genres aufnimmt. Im Großen und Ganzen ist da aber – wie Du ja schreibst – so viel Eigenständiges drin, dass man das Ganze wohl nicht als Konfektionsware betrachten muss. Das ist eben immer mein Eindruck, wenn ich "stereotyp" höre.

In den Staaten besteht eine ganze Literatur- und Film-Industrie darin, Geschichten nach vorgefertigtem Muster zusammenzuknallen, ohne die geringste Kreativleistung, Geschichten von der Stange, die beim Publikum trotzdem häufig gut funktionieren, weil sie bestimmte Bedürfnisse anzusprechen. Andererseits ist nicht jeder Action-Film Konfektionsware, nur weil Autoverfolgungsjagden und Schießereien darin vorkommen.

Peeperkorn, schön, dass Du reingeschaut hast. Vielen Dank dafür.

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,

ich kann mich glücklich schätzen (und das schreibe ich ohne jeglichen ironischen Unterton), deine Texte hier zu verfolgen und die meisten auch kommentiert zu haben. Das, was dein Schreiben auszeichnet, entwickelt sich weiter und ist verdammt professionell. Spannungsaufbau, Plotstruktur, Dialogführung, sprachlich-stilistische Eleganz, Ausgewogenheit, alles fein. In diesem Text bemerke ich auch eine inhaltliche Entwicklung, etwas mehr Literatizität. Du vertraust der Sache womöglich nicht ganz, weil du weder das Spiel noch das, was du Degeneration nennst, in aller Konsequenz zeigst, aber der Text insgesamt versandet nicht in reiner Gewalt und einer oberflächlichen War and Crime Story. Um einen Roman daraus zu machen, müsste aber, wie ich glaube ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der angedeuteten Liebesgeschichte, der Charakterführung, Krieg und Gesellschaft hergestellt werden.

Der Text hat einen Hauch von klassischen Endzeitromanen, wie „Brave New World“ oder „1984“. Du führst die Thematik nicht zu Ende. Leider. Dazu bedürfte es viel mehr Fleisch, Romanlänge. Die Figuren, bis auf Johanna und Nestor, deren Charakter du andeutest, deren Vorgeschichte aber unklar ist, bleiben blass und kalt. Auch dafür müsstest du viel mehr Raum investieren, einen Roman daraus machen. Insofern bin ich unsicher und kann nicht mit ganzem Herzen sagen, dass es ein sehr guter Text ist, Ein guter ist es allemal.

Ach ja: und da ist noch diese erbärmliche Folterszene, die mehr einer SM-Fantasie gleicht. Wofür brauchst du das? Was gefällt dir daran? Und das ganze Kriegszeug, die Humorlosigkeit, die jede einzelne Szene in ein menschenverachtendes, kühles Licht taucht. Was setzt du dem entgegen? Ein Spiel? Welches Weltbild verbirgt sich dahinter?

Bisschen was zum Text:

gehörten und man wegen der Krankheit, die alle nur die Degeneration nannten, kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte.
das ist mir viel zu dünn erklärt.

Mit ihrer stahlgefassten Brille, dem streng zurückgekämmten Haar und der Pistole, die sie in einem Gürtelholster trug, gab sie die kampferprobte Partisanenbraut.
gut vorstellbar, scharf beschrieben, aber eben doch ein Klischee einer Frau

Sein blasses Gesicht wirkte wie eine Maske - leblos, kalt, verhärtet.
hier genauso


Kaum jemand hatte eine Vorstellung davon, wie der Stab arbeitete oder auf welchem Wege seine Entscheidungen zustande kamen.
Guerilla?

Konzentrationsschwierigkeiten, Verwirrungszustände, Angst. Es war, als führte man Krieg gegen den Verfall des eigenen Verstandes. Inzwischen nutzten sie alle Listen und Merkzettel, um ihr Leben zu organisieren,
klasse beschrieben

Johanna nahm sich eine Zigarette. Ein Feuerzeug segelte durch die Luft, und Johanna fing es.
bisschen zu viel, fangen reicht eigentlich

»Aber am wichtigsten ist, dass du ihm deine Titten zeigst.«
iss klar und was ist mit dem Arsch? :hmm:

Trotz der Strenge, die in Nestors Zügen lag, gab es da etwas, das diesem Eindruck von Härte und Unnahbarkeit zu widersprechen schien; eine kaum wahrnehmbare Bewegung seiner Mundwinkel vielleicht, so als könnte er jeden Moment in dröhnendes Gelächter ausbrechen. Und plötzlich wünschte Johanna, ohne dafür den Grund zu wissen, das Lachen dieses Mannes zu hören.
super:Pfeif:

»Na also«, sagte der Major. »Jetzt drehen Sie sich zur Wand. Beine spreizen und vorbeugen.« Seine Stimme war rau vor Erregung und Zorn.
das ist die Stelle, an der du miese SM-Fantasien bedienst

»Es ist das Spiel der Spiele, das Spiel der Meister, denn in ihm offenbaren sich alle Dinge dieser Welt.«
qed:confused:

Unter einer hauchdünnen Mondsichel lag die Feuchtwiese da wie ein sumpfiger Todesstreifen, und die Vorstellung, sich im Kugelhagel durch den binsenbewachsenen Brühl zu schlagen, presste Johanna die Kehle zusammen.
stark:Pfeif:

»Bemerkst du die Veränderungen hier oben«, Nestor tippte sich an die Stirn, «die das Spielen auslöst?«
:confused:

Nestor schaute vom Brett auf, betrachtete Johanna einen Moment lang mit einem sonderbaren Blick, in dem eine ungeheure Intensität lag. Dann verschwand das Feuer aus seinen Augen.
wie macht der das?

Als sie an diesem Herbstmorgen unter einer Fichte hockte und mit dem Fernglas zum gegenüberliegenden Bergkamm spähte, fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit frei und lebendig, eins mit sich selbst.
wegen des Spiels?

»Ich weiß, das ist nicht einfach. Einen Menschen zu töten, ist schlimm. Auch, wenn es richtig ist.«
das klingt sehr banal

»Phantastisch. Ein echter Orgasmus.«
»So, so.« Nestor lachte dröhnend. »Was für ein tolles Spiel habe ich dir da beigebracht.«
und das auch

. Ein paar Sekunden lang lag ein Kreischen in der Luft. Dann brandete eine Flammenwoge gegen die Skyline und verschluckte die Stadt.
mm, weiß nicht, was ich von dem Untergangsende halten soll, wo ist Hoffnung?

liebe Grüße
Isegrims

 

Hallo @Achillus,

der Einstieg gefällt mir gut. Ich bekomme den Eindruck worum es geht und dass der Autor weiß, worüber er schreibt. Es sind gleich sehr viele Informationen die mir absolut glaubwürdig erscheinen.

So geht es Abschnitt für Abschnitt weiter. Ich mag die Szenen, die Du mit guten Dialogen und greifbaren Personen ausgestattet hast.
Johanna und Klara wirken auf mich distanziert, was mir gefällt, weil ich etwas anderes von den beiden nicht erwarten darf.

So zieht es mich durch die Geschichte. Ich erfahre von der Degeneration, die um sich greift und von einem Brettspiel, das in der Lage sein soll, sie zu hemmen.

Die Szene mit dem Meister des Spiels mochte ich besoders. Das hat sich angefühlt, wie im Kino. Da muss doch sicher sehr viel Arbeit und Recherche dahinter stecken, um das so schreiben zu können. Jedenfalls kommt das bei mir glaubhaft und nachvollziehbar an. Ich kauf Dir das alles ab.

Doch dann findet sich Johanna nackt und auf einen Stuhl gefesselt wieder. Wird verhört, bedroht, geschlagen – und ich bin weg.
Ich weiß nicht, warum ich gerade so ein Sensibelchen bin, aber ab hier konnte ich nicht mehr weiterlesen.

Es ärgert mich, dass ich mich so unwohl dabei gefühlt habe, werde die Geschichte jedoch nicht aufgeben. Wer weiß, vllt habe ich bald mal wieder Nerven wie Drahtseile :-)
Doch da ich nicht weiß, wann das sein wird, wollte ich Dir von meinem Eindruck, den ich bis hierher hatte, schreiben. Ich hoffe, das ist in Ordnung für Dich.

Lieber Gruß
Tintenfass

 

Hallo Isegrims,

vielen Dank für das Lesen und Kommentieren. Ich habe mich sehr über Deine Wortmeldung gefreut. Es ist mir wirklich wichtig, mich weiterzuentwickeln, ich betreibe das Schreiben wie ein Training, mit dem Ziel allmählich besser zu werden, indem ich zunächst das Handwerkliche perfektioniere. Alles andere kommt dann hoffentlich innerhalb dieses Lernprozesses.

Ein Roman bräuchte sicher noch einmal eine etwas andere Herangehensweise, da stimme ich Dir zu. Ich lote ohnehin immer noch aus, wie viel Charakterzeichnung jetzt eigentlich innerhalb einer Kurzgeschichte möglich und nötig ist.

Dass die Folterszene einer SM-Phantasie ähnelt, kommt nicht von ungefähr. Erinnerst Du Dich an die Fotos aus Abu Ghraib? Ich habe mich ein bisschen mit Folter überall auf der Welt beschäftigt, beispielsweise in China. Sexuelle Gewalt spielt beinahe überall eine wichtige Rolle, wahrscheinlich weil man auf diese Weise Menschen schnell gefügig machen kann.

Ich denke, es bringt uns weiter, wenn wir den Menschen sehen, wie er ist. Und das bedeutet eben auch, das Monströse des Menschen zu sehen. Das ist ein Teil der Wirklichkeit, ob sie uns gefällt oder nicht. Und was ich dagegen setze, ist das, wofür das Spiel steht = Weisheit. Ich denke, die Menschheit wird es langfristig nur schaffen, wenn es einen gewissen Prozentsatz an Menschen gibt, die hinter die Fassade schauen können und einen friedlichen Geist kultivieren.

Vielen Dank für Deine Gedanken zum Text, Isegrims.

Gruß Achillus


Hallo Tintenfass,

auch Dir herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Schön, dass Du geschrieben hast, obwohl Du aus dem Text ausgestiegen bist. Für mich als Leser ist diese Erfahrung des Erschüttert-Werdens nicht neu. Ich habe vor zwei Jahren 1984 gelesen, und dabei ging es mir nicht gut. Ich habe mit dem Text gelitten, fand ihn schonungslos und brillant. Ich denke, Literatur muss nicht immer Spaß machen, aber ich stimme Dir zu, manchmal ist es einfach zu viel.

Ich glaube grundsätzlich, dass wir darauf vertrauen sollten, was uns die innere Stimme zu einem Text sagt. Und wenn es zu nah geht oder zu anstrengend wird, dann sollten wir es für dieses Mal einfach lassen.

Zum Schreiben der Geschichte kam es, weil mir das Thema schon seit einigen Jahren unter den Nägeln brennt. Ich wollte ursprünglich eine rein philosophische Geschichte zum Spiel machen, aber das wäre eine Dialoggeschichte geworden. Ich finde den Mix aus Action, Spannung und Thriller jetzt passender, obwohl natürlich immer noch nicht alles so ist, wie ich es mir wünsche. Vielen Dank für Deine Zeit, Tintenfass.

Gruß Achillus

 

Hey Achillus,

ich weiß gar nicht, ob ein Kommentar dieser Geschichte überhaupt je gerecht werden kann. Was da an Mühe, Zeit und Arbeit drin steckt - unglaublich. Ich kann für Dich nur hoffen, dass Dir Geschichten schneller aufs Papier fliesen wie mir. Und bei einem knappen Monat Zeitlimit ... never! Allerdings muss ich auch sagen, dass ich so bisschen das Gefühl beim Lesen hatte, die Story war schon zur Hälfte fertig, dann kam die Challenge und nun musste noch fix irgendwo was draufgeschrieben werden. Weil so richtig wichtig finde ich das jetzt nicht mit dem Spiegel. Aber egal. Ich will Dir hier auch nix anhängen, echt nicht. Die Story gehört so was von in den Wettbewerb - qualitativ bin ich dieses Jahr echt bei einigen Texten von den Socken. Da macht es auch gar nix, wenn ich scheinbar nie fertig mit Lesen und Kommentieren werde. Schönes kann man nie genug bekommen. Aber zurück zu deinem Text.

Ich hatte bisschen Probleme den zeitlich verortet zu bekommen. Ist ja 'ne Dystopie, also irgendwo in der Zukunft, von mir aus auch sehr nahen Zukunft. Aber dann sind die Abhörmethoden zum Teil auch wieder so altmodisch und Schrottflinten und so, da wusste ich immer nicht mehr, könnte vom Setting her genauso gut vor 10/15 Jahren spielen. Ich war da oft am rätseln und kam am Ende zu keinem Ergebnis.

Widerstand-Staatsmacht-Militär - eine reine Vernichtungsgesellschaft ohne Sieger. Konflikte hast Du jede Menge in den Ring geworfen, das reicht locker für einen Roman, wenn man alles ausführen wollte. Ich mein, die Liebesstory, das Erlernen des Spiels, die Gesellschaft komplexer erklären/zeigen, Einzelschicksale - da ginge noch so viel in dem Rahmen, den Du schon hast. Ja, die Geschichte ist hoch komplex. Zum Teil trägt das natürlich der Spannung bei, spannend ist sie total!, zum anderen geht das aber auch so ruck-zuck-nächste Szene. Gut und schade zugleich.

»Es geht um die Degeneration«, fuhr Sundland fort. Sie setzte ihre Brille ab und rieb sich die Stirn. »Mittlerweile ist beinahe der gesamte Widerstand davon betroffen. Wir wissen immer noch nicht, wie sie die Bevölkerung damit infizieren oder wie sie sich selbst davor schützen. Aber wenn es so weitergeht, wird der Widerstand in zwei Jahren nur noch ein Haufen stammelnder Idioten sein.«

Diese Degeneration - bis ich dann mal geschnallt habe, dass das so eine Art Demenz ist ... (jedenfalls habe ich das so aus dem Text herausgelesen) - das ist ja schon ziemlich Zukunft. Dem Widerstand einfach das Hirn klauen und er erledigt sich von selbst. Da braucht es ja eigentlich auch keine Agenten mehr, die Jagd auf Einzelne machen. Man kann da schön abwarten. Die Zeit erledigt das schon. Und wenn man da nicht Krieg mit denen spielt, dann müssen die auch nicht Krieg spielen. Ich habe mich wirklich gefragt, warum all das Drama drum rum bei dem Wundermittel. (Ich habe die Komms nicht gelesen, vielleicht steht es ja schon irgendwo.) Schön hätte ich auch eine Szene gefunden, wo so ein Infizierter mal mitspielt, damit man ein genaueres Bild davon bekommt.

»Es ist eine Art Training. Ein Brettspiel, um genau zu sein.«

Sehr schöne Idee. Wie das Kreuzworträtsel bei Alten. Gehirnjogging gegen den Verfall. Halt nur viel komplexer. Ich kannte als Kind ein Familie, die spielten Go. Ich fand das damals total faszinierend, schon allein, weil ich nie was kapiert habe, wenn wer versuchte, mir das Spiel zu erklären. Ich war auch ein sehr ungeduldiges Kind, hat sich bis heute nicht verwachsen. Ich wäre verloren!

Den Blick auf seine Schuhspitzen gerichtet, sagte er: »Sprechen Sie mich nie wieder an.« Dann nickte er dem Mann hinter dem Tresen zu und verließ das Speakeasy.

Noch so eine Frage, die sich mir aufdrängte, warum haben die da so einen Ort, wo man sich einfach so trifft. Warum wurde der noch nicht stillgelegt. Kann mir doch keiner sagen, die Bösen wissen davon nix.

Die Strategen des Widerstands behaupteten, dass es lediglich eine Frage der Zeit sei, bis man die Kommunikationseinheiten mit umfassender Audio- und Videoüberwachung ausstatten würde.

Und hier war ich überrascht, dass es die noch nicht gibt. Ich mein, die ist doch praktisch schon vorhanden, was die Handys und Socialmedia nicht alles können und wissen und überhaupt.

»Ich bin Major Anquist. Ich ermittle in einem schweren Fall von Meuterei und Aufruhr in einem Bataillon des dritten Jägerregiments. Wie Sie sich bestimmt denken können, nimmt das Militär jede Form von Insubordination sehr ernst.«

??? - Mach mich ruhig fertig.

Die ganze Verhör-und Folterszene ist übrigens wirklich, wirklich fies. Nein, das war nicht schön zu lesen und ich war froh, als es zu Ende war.

In diesem Moment wurden draußen auf dem Gang Befehle gebrüllt. Johanna hörte das Knallen genagelter Stiefel, und dann riss jemand die Zellentür weit auf.
»Was zur Hölle«, fluchte Anquist und fuhr herum.
»Gehen Sie sofort weg von ihr«, sagte eine Stimme, die Johanna kannte.

Okay. Ihr Freund/Exfreund (weiß nicht so genau) rettet sie. Das ist schön für sie, aber ich frag mich, wie er da lebend rauskommt aus der Nummer. Klar, in diesem Augenblick gilt der Befehl des Oberen, aber so im Ganzen, so später - ich finde das ziemlich schwarz weiß hier dargestellt. Du sagst zwar später, er riskiert 'ne Menge, aber das ist auch so ein Faden, der bisschen lose in der Luft für mich hängt.

»Also gut.« Sundland rieb sich die Schläfen. »Ach ja. Was ist mit deiner Waffe und dem Buch? Ich nehme an, sie haben deine Wohnung gründlich auseinandergenommen.«
»War beides sicher im Keller versteckt«, erwiderte Johanna.
»Kluges Mädchen.«

Im Keller? Echt jetzt. Und da haben sie nicht nachgeschaut? Was sind das denn für Trottel? Ich würde sie sagen lassen, dass beides nicht im Haus war. Also Keller ist schon naiv und sträflich, dass sie damit durchkommt.

»Ich sympathisiere mit den Ideen des Widerstands, aber das ist nicht mein Kampf«, sagte er schließlich.
Johanna schüttelte den Kopf. »Wie können Sie so etwas nur sagen? Sehen Sie nicht, was mit diesem Land passiert?«

Ja, was eigentlich. Die Frage habe ich mir auch die ganze Zeit gestellt.

Abgesehen davon scheint Johanna durch das Spiel vor allem eines zu lernen - wie sinnlos all diese Kämpfe sind, egal auf welcher Seite man ist, man tötet. Das kommt gleich auch schön in der nächsten Szene raus, wenn sie ihren Peiniger nicht unbedingt sterben sehen will. Und keine Gewalt ist auch das einzige Mittel gegen Gewalt. Allerdings verkauft man sich mit einem solchen Entschluss auch nur zu oft an die Gewalt. Gäbe es eine Lösung, gäbe es weniger Kriege. Es sollte das Schulfach "GO" eingeführt werden. Weltweit!

Irgendwo in der Tiefe des Himmels im Osten setzte ein Summen ein, das stärker und stärker wurde. Als unten in der Stadt die erste Sirene heulte, schwebten die Bomber bereits als Flecken tiefster Schwärze vor der Knochenscheibe des Mondes.

Und nichts ist, wie es scheint. Das Militär kämpft für sich selbst ... so meine Lesart.

Sauber! Sehr spannend, souverain erzählt, unglaublich komplex - einfach mal :thumbsup:. Großes Kino hier. Nicht unbedingt mein Lieblingsgenre, dafür aber bestens unterhalten worden.

Beste Grüße und Danke für die Lesezeit,
Fliege

 

Hey Fliege, vielen Dank für Deinen lieben Kommentar. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Die Arbeit an dieser Geschichte begann gedanklich schon vor längerer Zeit. Ich habe schon vor ein oder zwei Jahren geplant eine Geschichte über Go zu schreiben, aber erst mit dieser Challenge fand ich den passenden Rahmen.

Ich denke, dass die Story tatsächlich auch ohne das Graffiti funktionieren würde, aber andererseits ist dieser Hinweis eben so etwas wie ein Zündfunke für den geistigen Durchbruch der Protagonistin.

Ich habe das Ganze als alternatives historisches Setting angelegt. Deshalb gibt es in der Geschichte auch keine Zukunftstechnologie. Was die Stoffmenge der Geschichte betrifft, da gebe ich Dir auf jeden Fall recht, das hätte wohl für einen Roman gereicht. Insbesondere der Lebenshintergrund der einzelnen Figuren und die sich daraus ergebenen Konflikte wären dann spanendes Material.

Was die Interpretation der Degeneration betrifft, da überlasse ich dem Leser die letztliche Deutung. Denn man kann das alles auch als ein Symptom des allgemeinen Zerfalls betrachten, als ein Zeichen dafür, dass die Gesellschaft gegen die natürliche Bedürfnisstruktur des Menschen ausgerichtet ist und das menschliche Wesen deshalb zerstört. Degeneration als Karma sozusagen.

Spannend, von Deinen Erfahrungen mit dem Spiel zu hören. In der Tat man braucht Geduld und Nerven für dieses Spiel. Es ist eine extreme Erfahrung, jedenfalls empfinde ich es so, und manchmal bin ich einfach nicht in der Verfassung, denn spielerisch geht es bei diesem Spiel nicht gerade zu. Das finde ich auch so faszinierend, dass sich etwas ganz anderes dahinter verbirgt, als man zunächst vermutet.

Was die Speakeasy-Kultur betrifft, die habe ich mir aus den Zeiten der amerikanischen Prohibition ausgeliehen. Diese Geheim-Kneipen konnten überleben, weil der Staat eben doch kein Interesse hatte, den Alkoholgenuss völlig zu unterdrücken. Es reichte, wenn er in den Untergrund gedrängt wird. So wie es hier heute mit dem Kiffen ist. In der Geschichte sollte das zeigen, dass der Staat zwar autoritär und repressiv aber keineswegs allmächtig ist.

Über diese Kellervariante werde ich nochmal nachdenken, vielen Dank für den Hinweis.

Ich sehe es so wie Du, dass Johanna durch das Spiel lernt, hinter die Kulissen zu schauen und dass sie deshalb eben auch am Widerstandskampf bzw. an der Art, wie er geführt wird, zweifelt. Das Militär folgt seinen eigenen Regeln, und was dabei herauskommt, naja, ist eben wieder etwas anderes.

Fliege, vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren!

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,

das ist jetzt, wenn ich mich nicht verzählt habe, die letzte Challenge-Geschichte und wohl auch die längste.
Und mit der Länge möchte ich gleich beginnen. Ich wäre dir sogar noch bis Donnerstag lesend in der Geschichte gefolgt, also noch mehr Länge hätte mich nicht gestört, wenn du mir dafür das Lesematerial gegeben hättest.

Ich will damit sagen, dass dies vermutlich der Stoff für einen Roman ist, den du in eine Kurzgeschichte zu verpacken versucht hast. Und weil die Verpackung zu eng ist, fehlen mir auch Teile dieses Textes, die mir einen tieferen Zugang zum Geschehen ermöglicht hätten. Was für einen Zweck verfolgt diese Diktatur mit der Degeneration? Warum rettet Johanna die Welt nicht? Oder wieso tut es Nestor nicht?

Ich mag es gerne klar, das dürfte sich sicherlich schon rumgesprochen haben. :D
Bei deiner Geschichte tauchen aber derartig viele unbeantwortete Fragen auf, dass ich, je weiter ich las, immer mehr Probleme damit hatte, dem Stoff zu folgen.

Was ich begriffen habe ist, dass es eine Johanna gibt, die in einer Art zukünftiger Welt lebt und dass eine Regierung oder besser gesagt eine Diktatur dafür sorgt, dass die Menschen bis auf wenige Ausnahmen geistig degenerieren und vermutlich frühzeitig versterben. Richtig? Johanna wendet sich zusammen mit einer Klara und noch ein paar weiteren Typen dagegen und wird, was Wunder, deswegen verfolgt, mit dem Tode bedroht, gefoltert und befindet sich quasi auf der Flucht.

Wegen ihres Aussehens, welches sich am Ende aber gar nicht als Startkapital auszahlt, wird sie erwählt, einem Meister namens Nestor die Lösung abzuluchsen, die es ermöglicht, den Degenerationsprozess zu stoppen. Nestor bringt ihr das Spiel bei, in welchem die Lösung steckt, aber am Ende nutzt Johanna dieses Wissen nicht, sondern die Welt geht quasi unter. Richtig?

Ich mag gerne über Dinge, die in einer Geschichte stehen, zum Nachdenken angeregt werden. Aber ich mag solch ein Rätselraten nicht so arg gern. Immerhin, so bin ich leider charakterlich angelegt, kommt mir dann immer der Gedanke, dass ICH zu blöd bin, das alles zu verstehen, nicht der Autor, es mir zu vermitteln. :D
Und dagegen stemmt sich dann das bisschen Rest-Ego in mir, welches sich flugs mit dem Unmut verpaart und schon bekommt so ein Autor wie du dann eins reingesemmelt. :D

Nee, diese Blöße gebe ich mir nicht, ich habe mich im Griff in puncto Fairness. :)

Ich kann dir ja zumindestens schildern, was ich beeindruckend fand, nachdem ich dir dargelegt habe, was mir noch fehlt.

Neben natürlich all den Drehungen und Wendungen in deiner Geschichte, die ich nicht für blondinentauglich halte, fehlt eine Erklärung dafür, dass Nestor sich so schnell erbarmt, mir fehlt hier die Liebesbeziehung zwischen den beiden, denn da würde so ein wenig Herzschmerz reinpassen in die Geschichte, um sie rund zu machen.
Als alter Hase weißt du ja, dass es zwar recht innovativ ist, auf der coolen Ebene den Leser weiter mit Eiswürfeln zu bewerfen, aber um eine Kante Erfolg abzuholen, gehört halt auch ein bisschen Sehnsucht und Erotik rein.
Mir fehlt eine gehörige Portion Mystikflair in Bezug auf das Spiel und das meine ich nicht im christlichen Sinne. Es gehört etwas von diesen alten Sagen in der modernen Verpackung da rein. Du siehst, ich bin auf dem Wege, deinen Text zum Charterlebnisroman dieses Jahres zu trimmen. :D
Das muss einfach noch umflorter sein mit Mythen und Gerüchten und so weiter. Und es müsste für Johanna noch viel schwieriger sein, da dran zu kommen als du es jetzt so dargestellt hast. Ok, ich rede, aber das weißt du sicherlich, vom Umfang eines tatsächlich längeren Romans.
Und es fehlt auch noch mehr Bedrohliches durch diese Dunkeldiktatur, da muss noch mehr Furcht wachsen. Resignation ist ein Spannungskiller, Furcht für mich das Gegenteil. In deiner Geschichte kommen mir überproportional mehr Leute vor, die bereits resigniert haben, als Kämpfer.

Was hat mir gefallen?
Das war sehr, sehr viel! Ich fange oben an mit dem Titel, der perfekt klingt, neugierig macht und obendrein sauber passt. Das Challengethema ist auch erfüllt, wenn auch die Sache mit dem Spiegel fast auch schon weggelassen werden könnte, die Geschichte würde dann trotzdem funktionieren. Will sagen, sie ginge auch ohne das Challengethema. Aber alles gut.

Gefallen hat mir das Düstere deiner Geschichte, obgleich ich, bitte nicht missverstehen, eine helle, fröhliche, bunte Welt natürlich aufbauender finde. Es passiert leider schon genügend Mist auf dieser Welt, da schlüpfe ich, hätte ich die Wahl, lieber in die freundlichere Welt.
Wenn ich eine gelungene Geschichte lese und ich halte deine Geschichte für gelungen, dann läuft bei mir ein Film ab. Bei dir ist es einer dieser düsteren Schwarzweiß-Filme, bei denen die Figuren dadurch umso konkreter hervortreten und die Nächte intensiver schwarz sind.
Dein Plot ist auf bedrückende Weise hochaktuell, auch wenn es vordergründig eine einfache Geschichte ist, die du erzählst. Aber wenn man zurücktritt, dann taucht da deutlich mehr auf und man fühlt dieses Lauernde in dieser Geschichte. Ein Lauern, das ich auch in unserer Gegenwart spüre.
Respekt vor dieser Leistung, solch eine Atmosphäre zu schaffen.

Dazu passt natürlich auch, dass Johanna hochgradig cool wirkt und androgyn. Du staffierst sie mit deutlichen weiblichen Merkmalen aus, aber sie bewegt sich durch die Geschichte wie ein alter Krieger, der zu nichts anderem auf dieser Welt ist. Und was dir noch gelingt, ist die laufende Irritation, die du dem Leser verpasst, indem du sie von ihren Gefühlen sprechen lässt, die sie brüchig wirken lassen.
An manchen Stellen allerdings (pardon, fällt mir grad ein, sollte ja eigentlich nur der Absatz mit dem Lob werden) hatte ich den Eindruck, du konntest dich nicht ganz entscheiden, was nun genau für eine Frau sie ist.
Aber überwiegend passt sie in das Geschehen verdammt gut hinein.

Deine Art zu schreiben, ist absolut ausgereift. Ich hab bei dir immer wieder dein Eindruck, da schreibt ein Profi, der muss von den Formulierungen her betrachtet, nichts mehr zusetzen. Das, was du schreibst liest sich flüssig und souverän verpackt. Man hat das Gefühl, hier bietet jemand sehr gut durchdachte, sauber und aufwändig recherchierte und intelligente Arbeit an.
Was den Arbeitsaufwand anbelangt, den du betrieben haben musst, um zu solch einer Geschichte zu gelangen, das wage ich nicht zu spekulieren. Sei dir meiner Hochachtung vor dieser Leistung sicher.

Lieben Gruß

lakita

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Achillus,

das ist eine gute, fein ausgearbeitete Geschichte. Wenn Novak meint, in deinen Geschichten würden immer gleiche Muster und Figuren (Lehrmeister, toughe Kämpferin, "postapokalyptische" Welt) auftreten, dann kann ich mich dem nur anschließend - was aber überhaupt nicht heißt, dass du immer wieder dasselbe erzählen würdest, oder dass es langweilig wäre. Jeder hat seine Vorlieben und Interessen, da ist es ganz natürlich, dass Figuren ähnlichen Musters öfter auftauchen, ich will dir das absolut nicht ankreiden. Gerade deswegen nicht, weil ich das Gefühl habe, du erzählst mir mit jeder Geschichte dennoch eine andere Story - hier die Rebellion, die Krankheit, und gerade die Idee mit dem Spiel, die die Krankheit womöglich heilen kann, das hat mir ausnehmend gut gefallen und hat mich unter anderem bei der Stange gehalten; anfangs habe ich mich noch gefragt: Könnte sowas wirklich möglich sein (die Heilung durch das Spiel), aber schon nach kurzer Zeit gefiel mir diese (metaphorisch aufgeladene) Idee der Heilung so gut, dass ich nicht mehr an meine Zweifel dachte.
Auch krass, wie gut du das mit dem Spiel beschreibst. Ich habe neulich eine Kurzgeschichte (außerhalb des Forums) gelesen, wo zwei ein Brettspiel spielen, und dieses "Spielen", das war so langatmig und langweilig erzählt, hier triffst du die Balance aus genügend Infos und spannendem Erzählen viel besser.
Was mir an "Berlin bei Nacht" noch so einen Tick besser gefallen hat, war, dass du noch mehr an deiner Hauptfigur dran warst. Ihn habe ich viel besser in Erinnerung, als ich deine Kämpferin in Erinnerung behalten werde. Diese nihilistische Einstellung deines Prots damals, sein eigenes Weltbild, das hast du sehr schön gezeichnet - das könntest du hier natürlich auch, aber dann wärst du über eine Seitenzahl hinweg, dass es noch als Short Story durchgeht ... und das geht auch in Richtung meines einzigen "Kritikpunktes": Ich habe die Befürchtung, dass deine Fülle an Ideen und Informationen bald nicht mehr in einzelne Erzählungen passen, sondern allmählich in Richtung "Roman" gehen sollten. Ich finde die Story nicht überladen oder zu "angeschnitten". Das passt alles, ist sehr rund, versteh mich nicht falsch. Aber ich wollte dich an dieser Stelle mal ermuntern, dich ruhig mal an eine 200-, 300-, 400seitige Geschichten zu wagen ... einmal eine Sache ganz auserzählen, ich glaube, da geht dein Weg hin. Die Story hier ist gut gewichtet und sie funktioniert sehr gut, aber ich habe das Gefühl, da gibt es noch sehr viel zu erzählen, ein großes, spannendes Abenteuer. Und das würde ich wirklich gerne lesen! :D

Also, super Text, Achillus.

Gruß,
zigga

 

Hallo Lakita,

vielen Dank für Deinen freundlichen und treffenden Kommentar. Ich habe mich sehr darüber gefreut.

Ich wäre dir sogar noch bis Donnerstag lesend in der Geschichte gefolgt, also noch mehr Länge hätte mich nicht gestört, wenn du mir dafür das Lesematerial gegeben hättest. Ich will damit sagen, dass dies vermutlich der Stoff für einen Roman ist, den du in eine Kurzgeschichte zu verpacken versucht hast. Und weil die Verpackung zu eng ist, fehlen mir auch Teile dieses Textes, die mir einen tieferen Zugang zum Geschehen ermöglicht hätten.

Schön, dass es Dir beim Lesen nicht langweilig wurde. Ja, das Ganze war auch ein Test dazu, wieviel Inhalt und Story ich in eine Kurzgeschichte legen kann. Dabei habe ich mich radikal dafür entschieden, all das wegzulassen, was auf der Meta-Ebene je nach Perspektive verschiedenartig interpretierbar wäre:

Was für einen Zweck verfolgt diese Diktatur mit der Degeneration? Warum rettet Johanna die Welt nicht? Oder wieso tut es Nestor nicht?

Ich wollte offen lassen, ob die Degeneration überhaupt eine Strategie der Diktatur ist. Der Widerstand ist zwar davon überzeugt, aber man kann es auch so sehen, dass die Erkrankung des Geistes/ des Bewusstseins ein Zeichen für den allgemeinen Verfall der Gesellschaft/ der Menschheit darstellt.

Warum greifen Weise nicht oder nur sehr selten in das politische Geschehen ein? Warum gibt es keine weisen Politiker? Weil Weisheit und Macht (der Veränderung) grundsätzlich unvereinbar sind. Jedenfalls wenn man philosophisch den Daoisten oder Buddhisten zuneigt. Der Weise betrachtet die Welt, aber er berührt sie nicht. Warum? Weil er eben nicht die naive Vorstellung besitzt, Ursache und Wirkung zu durchschauen, wie es sich beispielsweise der Manager-Typus einbildet. Der Weise besitzt höchste Einsichtsfähigkeit in die Multikausalität allen Geschehens. Man kann nicht einfach an einer Schraube drehen und hoffen, es wird am Ende schon was Gutes dabei herauskommen. Deshalb mischen sich die wirklich Weisen nicht ein.

Diese Sicht der Dinge steht im Widerspruch zur humanistischen Perspektive, die davon ausgeht, der Mensch verfüge über alle Möglichkeiten, das Weltgeschick in die richtige Richtung zu steuern. Ich habe versucht den Gegensatz dieser Philosophien zu verdeutlichen. Im Grunde kämpfen drei Weltbilder in dieser Geschichte miteinander: das barbarische, das humanistische und das erleuchtete Weltbild.

Ich mag es gerne klar, das dürfte sich sicherlich schon rumgesprochen haben. Bei deiner Geschichte tauchen aber derartig viele unbeantwortete Fragen auf, dass ich, je weiter ich las, immer mehr Probleme damit hatte, dem Stoff zu folgen.

Das tut mir leid, und ich kann Dich verstehen. Ich habe es nicht als Rätselgeschichte gedacht. Ich wollte, dass sich der Leser fragt, welchen Standpunkt er dazu einnimmt.

Was ich begriffen habe ist, dass es eine Johanna gibt, die in einer Art zukünftiger Welt lebt und dass eine Regierung oder besser gesagt eine Diktatur dafür sorgt, dass die Menschen bis auf wenige Ausnahmen geistig degenerieren und vermutlich frühzeitig versterben. Richtig? Johanna wendet sich zusammen mit einer Klara und noch ein paar weiteren Typen dagegen und wird, was Wunder, deswegen verfolgt, mit dem Tode bedroht, gefoltert und befindet sich quasi auf der Flucht.

Dieser Zusammenfassung würde ich soweit zustimmen, aber ich denke, es muss nicht explizit eine Zukunft sein. Denke an Der Herr der Ringe oder Games of Thrones, das sind ja alles Parallelentwürfe zu unserer realen Historie.

Wegen ihres Aussehens, welches sich am Ende aber gar nicht als Startkapital auszahlt, wird sie erwählt, einem Meister namens Nestor die Lösung abzuluchsen, die es ermöglicht, den Degenerationsprozess zu stoppen. Nestor bringt ihr das Spiel bei, in welchem die Lösung steckt, aber am Ende nutzt Johanna dieses Wissen nicht, sondern die Welt geht quasi unter. Richtig?

Ob die Welt komplett untergeht, wird im Text nicht explizit gesagt. Johanna wird durch ihre Einsichten jedenfalls dazu gebracht, den Widerstandkampf aufzugeben.

Ich mag gerne über Dinge, die in einer Geschichte stehen, zum Nachdenken angeregt werden. Aber ich mag solch ein Rätselraten nicht so arg gern. Immerhin, so bin ich leider charakterlich angelegt, kommt mir dann immer der Gedanke, dass ICH zu blöd bin, das alles zu verstehen, nicht der Autor, es mir zu vermitteln.
Und dagegen stemmt sich dann das bisschen Rest-Ego in mir, welches sich flugs mit dem Unmut verpaart und schon bekommt so ein Autor wie du dann eins reingesemmelt.

Das kann ich so gut verstehen. Ich war von Matrix III völlig entnervt, weil ich die ganzen kryptischen Erklärungen so anstrengend fand. Sorry dafür.

Neben natürlich all den Drehungen und Wendungen in deiner Geschichte, die ich nicht für blondinentauglich halte, fehlt eine Erklärung dafür, dass Nestor sich so schnell erbarmt, mir fehlt hier die Liebesbeziehung zwischen den beiden, denn da würde so ein wenig Herzschmerz reinpassen in die Geschichte, um sie rund zu machen.

Die Reaktion von Nestor wurde schon von mehreren Kommentatoren angesprochen. Johanna versucht ja zunächst durch einen Trick an Nestor heranzukommen, und er lässt sie abblitzen. Als sie dann nach der Erfahrung im Folterkeller wieder vor ihm steht, ist sie eine andere Frau. Zumindest ein wenig. Nestor mag Mitgefühl empfinden, aber er sieht auch, dass sie sich jetzt nicht mehr verstellt. Ich dachte mir, dass man das als Leser nachvollziehen kann, aber da habe ich mich wohl geirrt. Das ist eben das Problem, wenn man als Autor beim Leser Gedanken voraussetzt, die sich nur im eigenen Kopf abspielen.

Und was die Liebesgeschichte betrifft, da war einfach nicht mehr der Platz, obwohl das richtig gut gepasst hätte, da stimme ich Dir zu.

Als alter Hase weißt du ja, dass es zwar recht innovativ ist, auf der coolen Ebene den Leser weiter mit Eiswürfeln zu bewerfen, aber um eine Kante Erfolg abzuholen, gehört halt auch ein bisschen Sehnsucht und Erotik rein.

Haha, schon klar.

Mir fehlt eine gehörige Portion Mystikflair in Bezug auf das Spiel und das meine ich nicht im christlichen Sinne. Es gehört etwas von diesen alten Sagen in der modernen Verpackung da rein. Du siehst, ich bin auf dem Wege, deinen Text zum Charterlebnisroman dieses Jahres zu trimmen.

Da habe ich grundsätzlich nichts dagegen. Ich hatte allerdings schon eine konkrete Vorstellung davon, was ich vermitteln will und es zu sehr in Richtung Mainstream zu biegen hätte hier wohl einfach nicht gepasst.

Das muss einfach noch umflorter sein mit Mythen und Gerüchten und so weiter. Und es müsste für Johanna noch viel schwieriger sein, da dran zu kommen als du es jetzt so dargestellt hast. Ok, ich rede, aber das weißt du sicherlich, vom Umfang eines tatsächlich längeren Romans.

Das scheint mir der springende Punkt zu sein. Mir ging es auch oft so, dass ich beim Schreiben dachte, man könnte oder müsste hier mehr in die Tiefe gehen, aber da war eben der Platz nicht da.

Was hat mir gefallen?
Das war sehr, sehr viel! Ich fange oben an mit dem Titel, der perfekt klingt, neugierig macht und obendrein sauber passt.

Ja, den Titel fand / finde ich auch gut, obwohl der Begriff des Meisters in Europa und Asien sehr verschieden interpretiert wird. Im Abendland kann ein Meister auch eine Art Sklaventreiber sein, in Asien ist ein Meister jemand, der sich in der Vollendung einer Kunst auch und gerade als Mensch weiterentwickelt hat.

Gefallen hat mir das Düstere deiner Geschichte, obgleich ich, bitte nicht missverstehen, eine helle, fröhliche, bunte Welt natürlich aufbauender finde. Es passiert leider schon genügend Mist auf dieser Welt, da schlüpfe ich, hätte ich die Wahl, lieber in die freundlichere Welt.

Das verstehe ich. Umgekehrt finde ich aber auch, dass die Medien voll falscher Fröhlichkeit sind. Bitte nicht missverstehen (haha) – ich lache gern, aber diese allgemeine Heiterkeitskultur geht mir ziemlich auf den Sack. Ich habe allerdings schon als Kid lieber Napalm Death oder Dead Kennedys gehört als Samantha Fox oder Kylie Minogue.

Wenn ich eine gelungene Geschichte lese und ich halte deine Geschichte für gelungen, dann läuft bei mir ein Film ab. Bei dir ist es einer dieser düsteren Schwarzweiß-Filme, bei denen die Figuren dadurch umso konkreter hervortreten und die Nächte intensiver schwarz sind.

Schöne Beschreibung. Gefällt mir gut, wenn es so bei Dir ankommt.

Dein Plot ist auf bedrückende Weise hochaktuell, auch wenn es vordergründig eine einfache Geschichte ist, die du erzählst. Aber wenn man zurücktritt, dann taucht da deutlich mehr auf und man fühlt dieses Lauernde in dieser Geschichte. Ein Lauern, das ich auch in unserer Gegenwart spüre. Respekt vor dieser Leistung, solch eine Atmosphäre zu schaffen.

Ich denke, dass wir den Abgrund, der im Leben, in jeder Existenz, steckt, täglich ausblenden, um zu funktionieren. Aber ich glaube, dass wir die Erinnerung an den Schrecken brauchen, um die helleren Seiten des Lebens auch zu schätzen. Leben ist stets eine schwierige Sache und es ist ständig bedroht, von innen und von außen. Wir vergessen das gern, aber wenn wir das Lauern – wie Du schreibst – ganz und gar verdrängen, verlieren wir auch einen Teil unserer kreativen Kräfte, der aus der Dunkelheit kommt.

Deine Art zu schreiben, ist absolut ausgereift. Ich hab bei dir immer wieder dein Eindruck, da schreibt ein Profi, der muss von den Formulierungen her betrachtet, nichts mehr zusetzen. Das, was du schreibst liest sich flüssig und souverän verpackt. Man hat das Gefühl, hier bietet jemand sehr gut durchdachte, sauber und aufwändig recherchierte und intelligente Arbeit an.
Was den Arbeitsaufwand anbelangt, den du betrieben haben musst, um zu solch einer Geschichte zu gelangen, das wage ich nicht zu spekulieren. Sei dir meiner Hochachtung vor dieser Leistung sicher.

Vielen Dank. Sehr lieb von Dir. Grundsätzlich habe ich nicht so sehr das Bedürfnis, etwas Neues, Revolutionäres zu schreiben. Ich denke, dass sich die guten Geschichten seit Jahrtausenden wiederholen und stets in Variationen neu erzählt werden. Deshalb gucke ich mir viel von meinen Autoren-Idolen ab (Lehane, Greene, Franzen). Ich lerne viel durch Kopieren von Erzähltechniken.

Lakita, vielen Dank auch für Deine Empfehlung der Geschichte. Hat mich sehr gefreut, das zu lesen.

Lieber Gruß, Achillus


Hey Zigga, schön, dass Du wieder meiner Geschichte reingeschaut hast. Vielen Dank für Deinen Kommentar.

Wenn Novak meint, in deinen Geschichten würden immer gleiche Muster und Figuren (Lehrmeister, toughe Kämpferin, "postapokalyptische" Welt) auftreten, dann kann ich mich dem nur anschließend - was aber überhaupt nicht heißt, dass du immer wieder dasselbe erzählen würdest, oder dass es langweilig wäre.

Ja, da gibt es wohl so ein bestimmtes Themenfeld, das mich besonders interessiert. Beispielsweise die Frage nach persönlicher Weiterentwicklung, deshalb sind Lehrer und Lernende häufig Teil meiner Geschichten. Ich beobachte häufig, dass Erwachsene in den mittleren Jahren geistig stehen bleiben. Natürlich kann man nicht in die Köpfe und Herzen der Menschen schauen, aber wenn man ihre Aussagen durchdenkt und ihre Handlungen beobachtet, bekommt man ein ganz gutes Bild, glaube ich.

Aber im Grunde ist das merkwürdig, denn es gibt so viel zu lernen, zu verstehen, zu trainieren. Das ist das Ideal des Schülers, der die Welt als Ort des Lernens betrachtet und der Meister oder Lehrer ist die Person, die dabei hilft – obwohl ein Meister für sich betrachtet selbst natürlich ebenfalls ein Schüler ist und bis zu seinem Tode bleiben wird.

Jeder hat seine Vorlieben und Interessen, da ist es ganz natürlich, dass Figuren ähnlichen Musters öfter auftauchen, ich will dir das absolut nicht ankreiden. Gerade deswegen nicht, weil ich das Gefühl habe, du erzählst mir mit jeder Geschichte dennoch eine andere Story -

Das höre ich natürlich gern. Im Grunde lassen sich die Dinge, die mich interessieren endlos variieren, denn Prozesse des Lernens und die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit finden immer wieder in allen möglichen Bereichen statt.

hier die Rebellion, die Krankheit, und gerade die Idee mit dem Spiel, die die Krankheit womöglich heilen kann, das hat mir ausnehmend gut gefallen und hat mich unter anderem bei der Stange gehalten; anfangs habe ich mich noch gefragt: Könnte sowas wirklich möglich sein (die Heilung durch das Spiel), aber schon nach kurzer Zeit gefiel mir diese (metaphorisch aufgeladene) Idee der Heilung so gut, dass ich nicht mehr an meine Zweifel dachte.

Ein zugrunde liegender Gedanke war die Vorstellung, dass die normale, in gesellschaftlichen Konventionen befangene Sicht auf die Dinge einen krankhaften Aspekt hat und gewissermaßen ein Leiden darstellt. Für diese Vorstellung gibt es viele kulturhistorische Beispiele, u.a. die buddhistische Lehre, die behauptet, die normale, illusionäre Sicht auf die Dinge wäre Ursache eines endlosen Leidenskreislaufs.

Aktuell fokussiert das moderne Leben die Menschen auf Name and Fame, Health and Wealth, Zielsetzungen, die erst einmal nicht grundfalsch sind. Aber die Rücksichtslosigkeit, mit der das betrieben wird, macht das Ganze zu Gift.

In der Geschichte steht das Spiel für die Möglichkeit, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, einen Blick hinter den Spiegel. Das könnte ein Gegenmittel sein.

Auch krass, wie gut du das mit dem Spiel beschreibst. Ich habe neulich eine Kurzgeschichte (außerhalb des Forums) gelesen, wo zwei ein Brettspiel spielen, und dieses "Spielen", das war so langatmig und langweilig erzählt, hier triffst du die Balance aus genügend Infos und spannendem Erzählen viel besser.

Das war ziemlich knifflig, weil ich nie genau wusste, wie viel Spieltheorie ich beim Leser überhaupt voraussetzen konnte. Letztlich habe ich es mit Vergleichen versucht. Schön, wenn es für Dich funktioniert hat.


Was mir an "Berlin bei Nacht" noch so einen Tick besser gefallen hat, war, dass du noch mehr an deiner Hauptfigur dran warst. Ihn habe ich viel besser in Erinnerung, als ich deine Kämpferin in Erinnerung behalten werde. Diese nihilistische Einstellung deines Prots damals, sein eigenes Weltbild, das hast du sehr schön gezeichnet - das könntest du hier natürlich auch, aber dann wärst du über eine Seitenzahl hinweg, dass es noch als Short Story durchgeht ...

Ja, wichtiger Punkt. Ich sehe es auch so, dass Stammer in Berlin bei Nacht deutlicher als Figur hervortrat. Hängt vielleicht auch damit zusammen, dass ich mich in eine männliche Figur eher hineinversetzen kann. In jedem Fall gab es ein Problem mit der Stoffmenge. Ich hatte ja einiges abzuarbeiten und war am Ende gezwungen, zu kürzen. Berlin bei Nacht war schon lang, aber diese Geschichte war noch ein bisschen länger, und ich wollte es nicht übertreiben mit der Geduld meiner Leser.

Ich habe die Befürchtung, dass deine Fülle an Ideen und Informationen bald nicht mehr in einzelne Erzählungen passen, sondern allmählich in Richtung "Roman" gehen sollten. Ich finde die Story nicht überladen oder zu "angeschnitten". Das passt alles, ist sehr rund, versteh mich nicht falsch. Aber ich wollte dich an dieser Stelle mal ermuntern, dich ruhig mal an eine 200-, 300-, 400seitige Geschichten zu wagen ... einmal eine Sache ganz auserzählen, ich glaube, da geht dein Weg hin. Die Story hier ist gut gewichtet und sie funktioniert sehr gut, aber ich habe das Gefühl, da gibt es noch sehr viel zu erzählen, ein großes, spannendes Abenteuer. Und das würde ich wirklich gerne lesen!

Das ist ein Gedanke, den ich seit einiger Zeit oft höre, auch von Freunden, die meine Texte lesen. Ein Roman ist allerdings noch mal eine ganz andere Herausforderung. Das ist ja nicht einfach nur eine lange Kurzgeschichte. Aber wer weiß, vielleicht mache ich den Schritt.

Ich danke Dir jedenfalls für Deine Hinweise, Zigga.

Gruß Achillus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Achillus,

das klingt jetzt vielleicht auf den ersten Blick seltsam, aber mir fehlt da tiefe im Text.

Das ist mir alles zu wage, zu viele Andeutungen und zu viel Interpretationsspielraum. Das ist kein Stoff für eine Kurzgeschichte, sondern für einen Roman. Unglaubwürdig erscheint mir auch das Ende, das kommt plötzlich und nicht schlüssig. Aus dem Widerstand lässt sich nicht so einfach aussteigen.

Ebenso muss ich sagen, dass ich es nicht für schlüssig erachte, warum J. ausgerechnte das Spiel lernen darf (das hat Novak auch schon angemerkt). Ich verstehe, warum sie es lernen soll, aber nicht, warum der Widerstand es sie lernen lässt. Ich fände es sinnvoller, wenn sich Nestor seinen Lehrling selbst sucht, weil er eben das Geheimnis des Spieles weitertragen will - das Geheimnis zur Macht ( wenn alle Degeneriert sind, ist natürlich der, welcher Denken kann dezent im Vorteil) - aber nur an eine ausgewählte Schülerin, die er befähigt sieht, die Weisheit auch sinnvoll einsetzten zukönnen.

Ich habe sie sehr gerne gelesen, versteh mich nicht falsch, wie du Spannung aufbaust und komplexe Handlungsstränge einfach erscheinen lässt - Hut ab. Aber dennoch finde ich, du hast hier eine gute Geschichte verschenkt, weil du sie schnell/kurz schreiben wolltest.Schade darum und ich würde mich freuen, wenn du der Geschichte eine Welt und einen Rahmen gibst, in der sie leben und sich entsprechend entwickeln kann.

Aus handwerklicher Sicht müsste ein Roman ja kein Problem für dich darstellen.

Beste Grüße,

Sonne


PS: Deine Protagonistin erscheint mir sehr an die Handlungsfigur von den Tributen von Panem angelehnt. Warum? Weil ich das Buch gerne mag und einfach (noch) keine eigenständige Person in deiner Protagonistin sehe - sondern eine Marionette, damit du deine Geschichte erzählen kannst.


edit: ich sehe jetzt erst, dass du sie für die Challenge geschrieben hast. Kein Wunder, wirkt sie so kurz und abgeschlossen. Außerdem, ist dass mit dem Spiegel schon ok - aber wirkt viel zu konstruiert und aufgesetzt. In deiner Geschichte geht es um das komplizierteste Spiel der Welt, da erwarte ich etwas mehr geistige Anstregung der Protagonistin, um zu einschneidenden Erkentnissen zu gelangen! Wie gesagt mein Tipp: Roman. Roman Roman. Und die Idee der zweiten untergrundwiderstandsgruppe finde ich super (ja ist ja auch meine Idee :D:D), die der Denker, die Dinge wie "schau in den Spiegel" an Wände schreiben. Dann würde das für mich auch irgendwie Sinn ergeben.

PS2: Glückwunsch noch zur Empfehlung, ist auf jeden Fall verdient! Auch wenn ich etwas böse mit dir bin, weil ich die Idee und auch die Umsetztung so gut finde. Die Realität ist halt komplexer als angriff und verteidigung, als schwarz und weiß. Interessant auch, dass die Raben anfangen dürfen.

 

Hallo Schwarze Sonne,

es ist gerade bei solchen Themen ein Balanceakt, nicht zu viel und nicht zu wenig zu beschreiben. Wenn Du es als zu vage empfindest, dann muss ich das natürlich akzeptieren. Ich denke aber, das man da nicht konkreter werden könnte, ohne das Problem von Vereinfachungen reinzubringen. Über das Spiel ließe sich so viel sagen und was die Menschen darin sehen, hängt stark von ihrer persönlichen Reife und ihren Erfahrungen ab. Man kann dem Leser da keine ultimative Philosophie vor den Latz knallen, ohne Widerstand zu erzeugen.

Über die Stoffmenge wurde ja schon einiges gesagt. Ich sehe es auch so, dass hier die Grenzen ausgelotet werden. Möglicherweise ist es zu viel für eine KG.

Aus meiner Sicht ist das Ende schlüssig: Johanna beschließt auszusteigen, ob und wie der Widerstand darauf reagiert, wird nicht gesagt. Die Veränderungen in Johannas Denken werden umrissen, beispielsweise der Konflikt mit Nyborg kurz vor der Erschießung von Anquist und auch die Diskussion mit Nestor zum Thema des politischen Kampfes.

Und dass Johanna das Spiel lernen darf wird im Text damit begründet, dass dem Widerstand die Optionen ausgehen. Sicher hat man vorher vermeintlich geeignetere Kandidaten zu Nestor geschickt, aber der lehnte die eben ab.

Und Nestor hat nur ein sehr geringes Interesse an der Weitergabe seines Wissens. Der läuft nicht durch die Welt und sucht einen Lehrling. Er wartet darauf, dass es sich ereignet. Das ist der Lauf der Dinge vom Standpunkt des Weisen aus betrachtet. Mit Johanna hat er ein Zeichen, das heißt, es geschieht etwas ungewöhnliches (ihre Verhaftung etc.)

Ich sehe es auch so, dass Johanna und auch die anderen Figuren stärker gezeichnet werden könnten, aber eine Marionette sehe ich nicht in ihr, denn sie macht ja einen inneren Prozess durch, eine Wandlung. Sie ist kein starres Requisit.

Und einen Roman zu schreiben, das traue ich mir gerade noch nicht zu, aber wer weiß.

Vielen Dank für Deine Hinweise, Sonne.

Gruß Achillus

 

Lieber Achilles,

erst einmal möchte ich mich dem Lob meiner Vorredner anschließen. Deine Geschichte hat von Anfang an Zug. Auch die Figuren hast du schön herausgearbeitet. Durch zahlreiche temporeiche Actionszenen hältst du den Leser bei der Stange.

Ich habe aber auch noch ein wenig Kritik, die hoffentlich konstruktiv wirkt, denn deine Geschichte könnte meines Erachtens auch noch viel besser werden, wenn...
1. Das Ende nicht so enttäuschend wäre. Die Stadt wird zerstört, aber was heisst das? Siegt die Regierung oder der Widerstand oder beißen jetzt alle außer Johanna und Nestor Gras? Abgesehen davon lässt die bisherige Handlung noch keine Entscheidungsschlacht erwarten...
2. Johannas Gewissensbisse, was das Töten von A. angeht, werden erstens nicht erklärt und zweitens ad absurdum geführt, als sie wenig später einen Jeep in die Luft jagt.
3. Du hast mit der "Degeneration" einen wirklich geilen Subplot, der sich bestens als roter Faden eignen würde. Ob es Johanna schließlich gelingt, die Degeneration aufzuhalten, DAS würde mich am Ende interessieren. Schließlich beginnst du auch mit ihrer Mission.

Naja, GO for it, oder eben nicht, würde ich sagen ;)

LG
Nico

 

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